Herr und Knecht

Hans Moravecs Baby lernt laufen. Die schräge Konstruktion aus Alustreben ist einen Meter hoch, steht auf Gummirädern und besitzt einen würfelförmigen Kopf.

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Von
  • Steffan Heuer

Hans Moravecs Baby lernt laufen. Die schräge Konstruktion aus Alustreben ist einen guten Meter hoch, steht auf Gummirädern und besitzt einen würfelförmigen Kopf, an dem an vier Seiten je zwei preiswerte Kameras mit USB-Anschluss montiert sind. Sie füttern stereoskopische Bilder des Labors in einen Linux-Rechner im Bauch des Roboters. Noch hält Moravec, Professor am Robotics Institute der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, den Prototyp unter Verschluss. Zwei Angestellte basteln für ihn an der Navigations-Software, die das Gefährt zum selbstständigen Service-Roboter machen soll, der sich in Werkshallen auch ohne Magnetstreifen am Fußboden zurechtfindet.

"In drei bis sechs Monaten haben wir einen voll einsatzfähigen Prototyp und verkaufen erste Produkte", sagt Moravec über seine neu gegründete Firma namens Seegrid, die er gemeinsam mit einem Jungunternehmer aus Pittsburgh diesen Februar aus der Taufe hob. An jenem Abend im Keller des Carnegie Mellon Robotics Institute machte sich der Prototyp nach einigen Stunden Programmierarbeit zu seiner ersten eigenständigen Fahrt durch das Labor auf. "Er fährt seinen Kurs schrittweise ab, schießt acht Bilder pro Schritt und braucht ein paar Sekunden, um sie zu verarbeiten. Aber das ist schnell genug für die nächsten Schritte unserer Arbeit", notierte Moravec gegen 22 Uhr.

Der 55-jährige Computerwissenschaftler arbeitet oft und gern bis tief in die Nacht. Wenn Moravec nachmittags in sein Büro kommt und seinen Apple- Computer mit zwei nebeneinander aufgestellten Großbildschirmen hochfährt, hat er in diesen Wochen vor allem ein Ziel vor Augen: den Beweis abzuliefern, dass sich knapp 30 Jahre Forschungsarbeit an sehenden Robotern in ein lukratives Geschäft umwandeln lassen.

"Ich wollte schon Unternehmer werden, seit ich meine Studien begann", erklärt Moravec, ein gebürtiger Österreicher, der im Alter von vier Jahren mit seiner Familie nach Kanada auswanderte und seine Interviews nur auf Englisch führt. "Es hat einfach länger gedauert, als ich mir je hätte träumen lassen. Schließlich baute ich meine ersten Roboter, lange bevor ich ins akademische Leben einstieg. Diese Leidenschaft geht zurück bis in die Grundschule."

Nun soll es Ernst werden. Der Wissenschaftler erwartet den seit langem prophezeiten wirtschaftlichen Durchbruch für autonome Roboter in diesem Jahrzehnt - vor allem, weil die Rechnerleistung steigt und die Preise für die erforderlichen Komponenten immer weiter fallen. Bisher, da ist sich Moravec mit anderen der kleinen Zunft einig, ist der Markt in bedauernswertem Zustand. Die meisten Pioniere aus den 80er und 90er Jahren mussten ihr Geschäft aufgeben oder führen Randexistenzen als Anbieter von Bausätzen für Forscher und Tüftler. "Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen, an dem wir Service-Roboter für den kommerziellen und für den Hausgebrauch in größerem Maßstab sehen werden", sagt Moravec.

Bislang ist der Wissenschaftler vor allem für seine futuristisch angehauchten Traktakte über intelligente Roboter bekannt, die sich nach seiner der Evolution entlehnten Prognose so rasant entwickeln werden, dass Maschinen ihre menschlichen Schöpfer bis 2050 überholen werden. Moravecs jüngstes Buch "Robot", das in Deutschland 1999 unter dem etwas sensationsheischenden Titel "Computer übernehmen die Macht. Vom Siegeszug der künstlichen Intelligenz" erschien, fasst seine Thesen vom unaufhaltsamen Aufstieg denkender und selbstbewusster Maschinen zusammen.

"Ich betrachte die Entwicklung intelligenter Maschinen auf kurze Sicht als unausweichlich", schreibt der Forscher. "Sie könnten uns unsere Existenz streitig machen. Ich bin von dieser Möglichkeit nicht sonderlich beunruhigt, da ich diese zukünftigen Maschinen als unseren Nachwuchs ansehe, als Geisteskinder, die nach unserem Bild und Ebenbild gebaut sind, nur stärker." Moravec prophezeit, dass autonome Maschinen das All kolonisieren und ihren eigenen Evolutionsprozess in dieser neuen Umwelt durchlaufen werden - wie die biologische Weltuhr im Silizium-Zeitraffer.

Bei seinen kühnen Vorhersagen benutzt Moravec das Sehvermögen als Maß für die Entwicklungsstufe der Roboter. Wie Geschöpfe oder Computer optische Reize empfangen und in Echtzeit verarbeiten, ist für ihn ein Kriterium, um die Leistungsfähigkeit neuronaler Netze zu vergleichen. Die menschliche Netzhaut etwa besitzt rund 100 Millionen Nervenzellen, die nach Moravecs Schätzungen zehn Bilder pro Sekunde verarbeiten. Um es dem Auge gleichzutun, so der Wissenschaftler, benötigt ein Computer eine Rechenleistung von 1000 MIPS (Millionen Instruktionen pro Sekunde). In einem oft zitierten Graphen vergleicht Moravec das exponentielle Wachstum der Rechenleistung von biologischen Hirnen mit der von Computern. Danach haben Computer die Welt der Bakterien und Insekten hinter sich gelassen und befinden sich im Bereich der Echsen und Kleinnager. Bis 2020, so der Forscher, wird es dem Menschen vergleichbare Maschinen geben, die für 1000 Dollar eine Million MIPS Leistung bieten.

Als einen der ersten Schritte zum "Universalroboter" sieht Moravec Service-Roboter. "Ich habe einen Businessplan aufgestellt, um bestehende Fabrikfahrzeuge mit Orientierungssinn auszustatten" - eine Idee, die bei Scott Friedman sofort Anklang fand. Der 35-jährige Arzt und Computerwissenschaftler aus Pittsburgh hatte die letzten Jahre damit zugebracht, seine Firma Careflow/Net, die Web-Software zur Dokumentenverwaltung für Ärzte anbietet, von einem Universitäts-Spinoff zum eigenständigen Unternehmen aufzubauen.

"Nun wollte ich einen größeren Markt ausfindig machen, der noch nicht erschlossen ist", sagt Friedman. Der Unternehmer, der noch als CEO aus einem zum Büro umfunktionierten Schlafzimmer in seinem Vorstadthaus südlich von Pittsburgh arbeitete, recherchierte verschiedene Branchen, die er für wachstumsträchtig hielt.

"Robotik sah am Erfolg versprechendsten aus. Das ist ein unbestelltes Feld, auf dem noch keine der großen Firmen ihr Zelt aufgeschlagen hat", sagt Friedman. "Die Zeit ist gekommen, um Roboternavigation von der akademischen Debatte zum marktfähigen Produkt zu bringen." Friedman las Moravecs Bücher und setzte sich Anfang des Jahres mit dem Pionier des dreidimensionalen Sehens von Maschinen in Verbindung.

"Hans gilt immer als dieser futuristische Denker, das wird manchmal fast als Minuspunkt gesehen", gesteht Friedman. "Aber kaum jemand hat die technischen Probleme eines autonomen Roboters so gründlich studiert wie er. Software zu schreiben ist einfach. Selbst einen Industrieroboter zu programmieren ist nicht besonders schwer, da solche Maschinen immer die gleiche präzise Bewegung wiederholen. Hans indes kennt sich aus mit Optik, mit den physikalischen Eigenschaften des Lichts. Er weiß, wie Maschinen in einem dreidimensionalen Raum funktionieren." Das weite Feld der sensorischen Software, die auf die wirkliche Umwelt reagiert, sei ein Markt mit Milliarden-Potenzial, sagt Friedman.

Moravec war gleich beim ersten Gespräch von dem jungen Unternehmer überzeugt. "Scott ist der Richtige. Ich habe von Geschäftsangelegenheiten und Management wenig Ahnung und auch keine Lust dazu", sagt der Professor. Mit Startkapital von Friedmans Privatkonto rief das Duo die Firma Seegrid ins Leben. Um die geplante Produktpalette erfolgreich einzuführen, sind nach Friedmans Schätzungen zwischen 2 und 15 Millionen Dollar nötig. Fürs Erste reicht seine Anschubfinanzierung, Gespräche mit weiteren Investoren laufen. Derzeit hat Seegrid drei Angestellte, die der Software den letzten Schliff geben.

An den Problemen des Maschinensehens tüftelte Moravec schon Mitte der 70er Jahre, als er noch im Labor für künstliche Intelligenz an der University of Stanford arbeitete. Im Rahmen seiner Doktorarbeit half er dem Stanford Cart, einem Gefährt auf Fahrradreifen, sich mittels eines Kamerasystems auch in freiem Gelände zurechtzufinden. Moravec entwickelte Software, die Gegenstände als Orientierungspunkte erkannte und für jeden Meter Bewegung 15 Minuten Bedenkzeit benötigte. Als er die Endversion 1979 vorstellte, legte das Gefährt in fünf Stunden gerade mal 20 Meter zurück. Die Fehlerquote war zu hoch, schlechte Lichtverhältnisse brachten den Roboter aus dem Konzept.

Zum Zwecke der Orientierung experimentierte Moravec wie auch andere Pioniere in den 80er und 90er Jahren mit Sonar- und Laserscannern, die immer noch mehrere tausend Dollar pro Stück kosten. Heute hat er sich wieder auf stereoskopische Kameras verlegt, die für wenige Dollar zu haben sind. Gekoppelt mit der von ihm entwickelten Software fertigen sie eine Karte ihrer Umgebung an, während der Roboter einen Raum erkundet. Dazu entwarf Moravec seit seiner Berufung an die Carnegie Mellon University 1980 das Konzept des "Evidence Grid", eines "Beweis-Rasters".

Bei diesem Verfahren zerlegt der Rechner das Bild in viele einzelne Zellen und bewertet, ob sie leer sind, gefüllt oder unbestimmbar - das ist etwa der Fall, wenn die Wand oder der Baum zu weit entfernt sind. Dank immer schnellerer Chips und steigender Speicherkapazität ist die Auflösung dieses virtuellen Millimeterpapiers von 30 mal 30 Zentimetern pro Zelle in zwei Dimensionen Mitte der 80er Jahre auf heute 16 mal 16 mal 16 Millimeter in drei Dimensionen gesunken. Bilder aus verschiedenen Kamerapositionen werden dabei miteinander verglichen, sodass das Programm zu einer schlüssigen Sicht seiner Umgebung gelangt. Wenn ein Algorithmus schließlich aus den verschiedenen Bildern für jede der Millionen Zellen einen Farbmittelwert bestimmt und ihn auf die entsprechende Zelle projiziert, ergeben sich mosaikartige Fotos der Umgebung, die auch das menschliche Auge als Flur oder Tür erkennen kann. Daher der Firmenname Seegrid.

Moravecs Team will das Konzept noch verfeinern, indem es Rundum-Kameras mit der Rechenleistung eines normalen, modernen Pentium-PCs paart. Ein Gigahertz-Chip, ein Gigabyte Arbeitsspeicher und eine 80-Gigabyte-Festplatte genügen, um jeder industriellen Maschine Navigationsfähigkeit zu verleihen. Seegrids Prototyp soll bis Jahresende in der Lage sein, sich einen Meter pro Sekunde zu bewegen, also Bilder in Echtzeit zu verarbeiten. Innerhalb der kommenden drei bis sechs Monate will das junge Unternehmen ein Modul zur Serienreife entwickeln, mit dem sich bestehende Maschinen im Fuhrpark eines industriellen Kunden nachrüsten lassen - etwa schwere Reinigungsroboter, Transport- oder Überwachungsroboter.

In einem zweiten Schritt plant die Firma, eigene Hardware zu verkaufen. Der Roboter mit Orientierungssinn spart nicht nur die Arbeiter ein, die sonst Paletten durch die Lager rollen, sondern auch teure Ingenieure und Installationsexperten. "Ein Angestellter führt den neuen Roboter einmal durch den Raum. Dabei lernt das Gerät seine Umgebung kennen und erstellt eine detaillierte Karte. Die lässt sich an jeden zusätzlichen Roboter weiterkopieren", erläutet Moravec. "Mit drahtlosem Internet-Anschluss kann der Nutzer des Roboters sogar aktuelle Positionsänderungen der Maschine weitergeben und so seinen Fuhrpark überwachen."

Größere technische Schwierigkeiten sehen Moravec und sein Team bislang nicht. Die Synchronisierung von bis zu acht Kameras sei in den Griff zu bekommen, ebenso die Frage, wie Sensoren mit unterschiedlichem Lichteinfall umgehen. "Niemand außer uns bietet 360 Grad Sichtfeld in solch hoher Auflösung", sagt Seegrids Hardware-Chef Ray Delissio, der seit zehn Jahren an Dienstleistungsrobotern arbeitet. Anders als bei Pleite gegangenen früheren Arbeitgebern sieht der Ingenieur diesmal ein echtes Anwendungsgebiet: "Wir konzentrieren uns auf die Software für ein bestimmtes Problem, das gelöst werden muss. Den Maschinenbau überlassen wir Firmen, die sich damit auskennen."

Laut Geschäftsplan sollen die ersten Produkte von Seegrid für kommerzielle Anwender zwischen 10000 und 25000 Dollar kosten. "Wenn wir in drei bis fünf Jahren bei jährlich 20 Millionen Umsatz liegen, bin ich glücklich", sagt Friedman. Bis Jahresende will er die ersten zehn Testkunden gewonnen haben. Gespräche mit möglichen Abnehmern in den USA und Europa finden nach seinen Angaben bereits statt, unter anderem habe der deutsche Reinigungsgeräte-Hersteller Kärcher Interesse gezeigt.

Und was, wenn das Roboter-Geschäft doch nicht so gut läuft, wie erhofft? Für diesen Fall hält sich Moravec noch eine Hintertür zur akademischen Forschung offen. Da er nicht unterrichtet, wird seine Universitätsstelle aus Fördermitteln finanziert. Statt von der Regierung soll dieses Geld künftig von Seegrid kommen, sodass der Wissenschaftler in der besten beider Welten leben kann. Er wird weiter am Robotics Institute arbeiten, während sich seine Angestellten um die Kommerzialisierung der kühnen Ideen kümmern.

Das heißt allerdings nicht, dass die Firmengründung für ihn zweitrangig wäre: "Ich habe mich mein ganzes Leben auf diesen Moment vorbereitet, diese Chance muss ich ergreifen", sagt Moravec. "Wenn sich jemand in der Robotik auskennt, dann doch wohl ich." (sma)