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Indiens ambitionierte Weltraumpläne

Mark Williams

Der Subkontinent plant eine Mondmission und ein wiederverwendbares Raumfahrzeug. Oder sind das alles nur Ablenkungsmanöver für neue Militärtechnik?

Mit dem zunehmendem Aufstieg Chinas in der Welt wird ein Weltraumrennen zwischen dem Riesenreich und den USA immer wahrscheinlicher – so meinen jedenfalls Beobachter. Schließlich gelang es den Chinesen bereits zweimal, ihre "Taikonauten" in den Orbit und wieder zurück zu befördern – das Raumfahrzeug Shenzhou machte es möglich. Damit müsste prinzipiell auch eine bemannte Mondmission möglich sein, die die Chinesen bis 2026 planen. Oder sogar schon bis 2017, ein Jahr bevor die NASA offiziell wieder auf den Erdtrabanten zurückkehren möchte. Die Startraketen der dafür notwendigen neuen Generation mit dem vieldeutigen Namen "CZ-5 Langer Marsch" sind allerdings noch nicht budgetiert. Und, wenn man einmal ehrlich ist, wiederholen die Chinesen bislang nur raumfahrerische Leistungen, die den Amerikanern und Russen vor Jahrzehnten gelangen.

Weniger Aufmerksamkeit widmet die Weltöffentlichkeit hingegen dem anderen asiatischen Giganten: Indien. Auch hier wird ein Weltraumprogramm vorangetrieben, wenn auch mit kleinerer finanzieller Ausstattung. Dank neuartiger Ansätze könnte das Land trotzdem schnell Fortschritte machen. Im Frühjahr legte der damalige Präsident, A.P.J. Abdul Kalam, in einer Videokonferenz während eines Symposiums der Boston University eine ambitionierte Vision der zukünftigen Weltraummacht Indien vor. Der Mann kannte sich mit dem Thema gut aus – er war an den frühen Satellitenmissionen des Landes ebenso federführend beteiligt wie an der Entwicklung indischer Lenkraketen.

Kalam sagte dem internationalen Publikum aus Weltraumexperten, dass Indien neben einer Ausweitung seines breiten Satellitenprogrammes auch Mondmissionen und ein wiederverwendbares Raumfahrzeug (Reusable Launch Vehicle, RLV) plane, das einen "Hyperplane"-Scramjet-Antrieb verwenden soll. Indien sei klar, dass die globale Bevölkerung die in der Erde befindlichen fossilen Brennstoffe noch im 21. Jahrhundert aufbrauchen werde. Deshalb sei eine "industrielle Revolution im Weltraum" notwendig, um dort Energiequellen zu erschließen. Er denke dabei an gigantische Sonnenkollektoren im Orbit, die sein Land eines Tages bauen werde.

Auf dem Mond will Kalam hingegen Helium-3 abbauen – ein auf der Erde enorm seltener chemischer Baustein, dessen atomare Struktur die Energiegewinnung aus der Kernfusion möglich machen könnte. Das Scramjet-RLV der Inder soll daneben ein kostengünstiges, voll wiederverwertbares Raumfahrzeug werden, mit dem es der Menschheit endlich möglich würde, im Weltraum aufgebaute Solaranlagen zu nutzen, die in geostationären und anderen Umlaufbahnen platziert worden sind.

Große Reden zu schwingen kostet bekanntlich nichts. Trotzdem kann die Indian Space Research Organisation [1] (ISRO) bereits erste Erfolge verzeichnen. Im April wurde der erste kommerzielle Raketenstart gefeiert, bei dem ein italienisches Gammastrahlen-Observatorium in den Orbit geschossen wurde, auf Basis des "Polar Satellite Launch Vehicle". Im Frühjahr 2008 soll dann "Chandraayan-1", der erste Mond-Orbiter der Inder, starten und zwei NASA-Projekte tragen, die nach einer passenden Region für die geplante US-Mondbasis suchen sollen. Ende nächsten Jahres ist dann ein erstes Demonstrationsraumfahrzeug auf dem Weg zum Scramjet RLV geplant, das "Hypersonic Technology Demonstrator Vehicle" (HTDV).

Obwohl die aktuellen Projekte das indische Raumprogramm in die Medien bringt, ist das All für die Inder keineswegs Neuland. 1975 schoss die ISRO mit "Aryabhata" einen ersten Satelliten ins All – auf einer Sowjet-Rakete. Indiens eigener Launcher, der SLV-3, setzte 1980 dann den ersten Satelliten in die Umlaufbahn. Die ISRO hat seither eine ganze Reihe größerer Satelliten und Raketen ins All geschossen. Statt sich um ihr nationales Prestige zu kümmern, konzentrierten sich die Inder bislang auf rein pragmatische Weltraumvorhaben, die ihnen den besten Mehrwert für ihr eingeschränktes Budget lieferten: Kommunikationssatelliten etwa, um ländliche Regionen des Landes ohne Infrastruktur anzubinden, oder Wetterstationen, die oft einfach gleich auf Kommunikationssatelliten aufgesetzt wurden. Auch interessant für die Inder: Sensor-Satelliten, um die Rohstoffe des Landes zu kartografieren.

Erst jetzt beginnt die ISRO, weiter zu denken. Im vergangenen November sagte Virender Kumar, für Weltraumprogramme zuständiger Mann in der indischen Botschaft in Washington, sein Land sei an einen Punkt gekommen, an dem man viel erreicht habe. Die Forschergemeinschaft des Landes fordere nun aber auch entsprechende Missionen, die über rein praktische Anwendungen hinaus gingen.

Zu den technologisch innovativsten Projekten gehört zweifellos das erwähnte Scramjet-RLV, das auf den Namen "Avatar" hört. Die Nutzung solcher wiederverwendbarer Weltraumfahrzeuge gehört zum heiligen Gral der Raumfahrt – doch weder die Amerikaner noch die Russen haben ihn bislang überzeugend erreicht. Avatar soll nur 25 Tonnen wiegen. 60 Prozent davon sind der flüssige Wasserstoff, der für die Turbo-Ramjet-Motoren notwendig sind, die den Flugzeug-artigen Start realisieren und das Fahrzeug auf eine passende Flugbahn hieven soll. Von dort kommt dann der Scramjet-Antrieb zum Einsatz, der Avatar von vierfacher auf achtfache Schallgeschwindigkeit bringt.

Ein an Bord befindliches System sammelt Luft ein, aus der flüssiger Sauerstoff separiert wird. Dieser flüssige Sauerstoff wird dann in der letzten Flugphase verwendet, in der der Raketenmotor diesen zusammen mit dem verbliebenen Wasserstoff verbrennt, um einen 100 Kilometer hohen Orbit zu erreichen. Die ISRO geht davon aus, dass mit dem Avatar-Design mindestens 100 Wiedereintritte in die Atmosphäre möglich wären. Theoretisch soll dabei eine Nutzlast von bis zu einer Tonne an Bord genommen werden können. Der Kilogramm-Preis soll so bei ungefähr 67 Dollar liegen, was enorm günstig wäre.

Aktuell kostet das Kilogramm Weltraumfracht bei den Russen dagegen 4300 Dollar(Proton), während man beim Anbieter Orbital (Pegasus) bis zu 40.000 Dollar zahlt. Sollte Avatar wirklich wie geplant funktionieren, würde das die Inder auf dem globalen Satellitenmarkt weit voran bringen.

Gregory Benford, Astrophysiker an der University of California in Irvine, der NASA und Weißes Haus in Weltraumfragen berät, gibt sich begeistert: "Das Avatar-RLV-Projekt würde die Inder gegenüber dem chinesischen Nostalgietrip weit nach vorne bringen. Sobald solche Billigflüge ins All möglich sind, werden insgesamt günstigere Methoden für all unsere unbemannten Weltraumaktivitäten vorangetrieben."

Trotz all dieser radikalen Vorteile gibt es bei Avatar aber auch große Nachteile: Neben der geringen Nutzlast ist das auch der sehr niedrige 100-Kilometer-Orbit. Diese Umlaufbahn in der äußeren Atmosphäre (der Mesosphäre) ist ein Problem: Jeder Satellit, der hier ausgesetzt würde, verliert wegen Reibung an vereinzelten Luftmolekülen schnell wieder an Höhe.

Planen die Inder etwa Avatar nur als eine erste Stufe, von der dann Satelliten in weiter entfernte, sichere Umlaufbahnen geschossen werden? Vielleicht. Doch in diesem Fall muss man sich auch eingestehen, dass Avatar auch als Startplattform für Cruise Missiles eingesetzt werden könnte. Auch die USA arbeiten an einem Scramjet-Konzept – aber im Kontext einer unbemannten, globalen Langstreckenrakete namens X-51 Scramjet-Waverider.

Könnte Avatar also nur ein weiteres Militärprojekt sein, bei dem die indischen Weltraumforscher ein Anhängsel darstellen, aber hoffen, einen radikalen RLV-Prototypen zu entwickeln? Den Indern scheint es jedenfalls ernst genug mit der kommerziellen Nutzung zu sein. Immerhin haben sie entsprechende internationale Patente angemeldet. Die ISRO hat jedoch ein vergleichsweise eher kleines Budget. Damit Avatar wirklich kommt, bräuchten die Inder also internationale Partner – Geld aus dem Ausland. Sollte sich das Projekt tatsächlich als militärisch erweisen, wären die indischen Forscher aber sicher nicht die ersten, die ihre hochfliegenden Weltraum-Pläne mit Hilfe des Verteidigungsministeriums umsetzen würden. (bsc [2])


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