Insekten mit durchschnittlich 16 verschiedenen Pestiziden belastet

Die als "Krefeld-Studie" bekannte Untersuchung setzt die Forschung zum Insektenschwund in Schutzgebieten fort und gibt Einblicke in die Ursachen des Rückgangs.

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(Bild: Ayşenur / Unsplash)

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Von
  • Christian Schwägerl
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Insekten in deutschen Naturschutzgebieten sind mit einer Vielzahl von Pestiziden belastet. Das ist das Ergebnis einer im Wissenschaftsjournal "Scientific Reports" veröffentlichten neuen Studie, an der unter anderem der Entomologische Verein Krefeld beteiligt war. Der Untersuchung zufolge sind Insekten in deutschen Naturschutzgebieten mit durchschnittlich 16 verschiedenen Pestiziden kontaminiert. Da die Wirkstoffe Insektenbestände verringern und damit die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen beeinträchtigen können, plädieren die Forscherinnen und Forscher dafür, weiträumige Pufferzonen um Naturschutzgebiete einzurichten, in denen die Verwendung von Pestiziden drastisch eingeschränkt wird. Diese Forderung wird vom Umweltbundesamt unterstützt. "Das ist eine gute Idee", sagte Dirk Süßenbach, UBA-Experte für Pflanzenschutzmittel, auf Anfrage.

Für die Untersuchung unter Leitung des Agrarforschers Carsten Brühl von der Universität Koblenz, an der auch das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, der Entomologische Verein Krefeld und ein Mitarbeiter der Umweltorganisation Nabu mitgewirkt haben, wurden zwischen Mai und August 2020 in 21 deutschen Schutzgebieten des sogenannten Natura2000-Netzwerks Insekten nach einer einheitlichen Methode gesammelt und anschließend auf 92 handelsübliche Pestizide hin untersucht.

Insgesamt fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Naturschutzgebieten 47 verschiedene chemische Wirkstoffe, die eingesetzt werden, um im landwirtschaftlichen Anbau unerwünschte Wildpflanzen, Insekten und Pilze zu bekämpfen. Davon waren 13 Herbizide zum Einsatz gegen Wildpflanzen, 28 Fungizide gegen Pilze und 6 Insektizide. In 16 der 21 Gebiete wurde auch ein inzwischen verbotener Wirkstoff aus der Klasse der Neonikotinoide gefunden, was die Forscherinnen und Forscher auf einen verstärkten Einsatz kurz vor Inkrafttreten des Verbots zurückführen.

Der Entomologische Verein Krefeld sieht in den Ergebnissen eine Warnung, dass bisherige Anstrengungen zum Schutz der Insektenwelt nicht ausreichen. "Fortschreitende, regionale Artenverluste" würden toleriert. Dass ausgerechnet Schutzgebiete, in denen sich Populationen der regional oder bundesweit vom Aussterben bedrohten Insektenarten befänden, mit derart vielen Wirkstoffen belastet seien, beurteilte Martin Sorg vom Entomologischen Verein Krefeld als alarmierend.

Eine Analyse der landwirtschaftlich genutzten Flächen rund um die Schutzgebiete ergab, dass die dort entdeckten Wirkstoffe nicht nur aus der unmittelbaren Nähe stammten, sondern aus einem Radius von zwei Kilometern.

Der Krefelder Verein war treibende Kraft hinter einer in Fachkreisen als "Krefeld-Studie" bekannten Langzeitstudie, die zu dem Ergebnis kam, dass innerhalb von 27 Jahren die Biomasse fliegender Insekten in deutschen Schutzgebieten um knapp 80 Prozent zurückgegangen war. Die 2017 veröffentlichte Studie hatte weltweit zu Diskussionen über die Gefahren einer dramatischen Verarmung der Insektenwelt ausgelöst.

Insekten sind wichtige Bestandteile aller Ökosysteme an Land. Sie nehmen wichtige ökologische Funktionen wahr, von der Bestäubung von Pflanzen – darunter auch Nahrungspflanzen des Menschen – über den Abbau abgestorbener Organismen bis zur Rolle als Nahrung größerer Tiere wie etwa von Vögeln. Nimmt die Vielfalt und Biomasse von Insekten ab, hat dies weitreichende negative Wirkungen in der Natur, die zu einer allgemeinen Verarmung führen können.

In der industriellen Landwirtschaft wird eine Vielzahl von Wirkstoffen eingesetzt, mit denen sowohl Wildpflanzen als auch Insekten, Würmer und Pilze gezielt getötet werden, um den Ernteerfolg für Nahrungsmittel zu erhöhen oder die Bearbeitung zu erleichtern.

Dazu werden auf Feldern durch Herbizide Wildpflanzen beseitigt, die den Kulturpflanzen Licht und Ressourcen wegnehmen und die Ernte verunreinigen könnten, Insekten bekämpft, da einige von ihnen direkt die Nahrungspflanzen attackieren und Mittel ausgebracht, um das Wachstum von Pilzen auf den Pflanzen oder im Wurzelwerk zu unterbinden.

Schon seit den 1960ern Jahren wird der Einsatz dieser Mittel kontrovers diskutiert. Die Hersteller reklamieren für sich, dass ihre Wirkstoffe immer gezielter und effizienter geworden seien. Umweltverbände kritisieren, dass in der Natur ein Mix von potenten Chemikalien entsteht, mit desaströsen Folgen. Vor allem der dramatische Rückgang vieler Agrarvogelarten in ganz Europa wird auch auf den Einsatz von Agrarchemikalien zurückgeführt. Die Bestände mancher Feldvogelarten sind innerhalb der vergangenen Jahrzehnte um 90 Prozent eingebrochen. Ein Forscherteam ermittelte jüngst, dass heute in der Europäischen Union 600 Millionen Vögel weniger leben als vor 40 Jahren.

Die aktuelle Studie gibt dieser Kritik neuen Aufwind. Denn eigentlich sollen Naturschutzgebiete Lebewesen vor menschlichen Einflüssen abschirmen und ihnen eine freie, eigenständige Entwicklung ermöglichen. Die Präsenz von insgesamt 47 Pestiziden in deutschen Schutzgebieten und die Belastung von Insekten mit durchschnittlich 16 verschiedenen Wirkstoffen spiegelt wider, dass in der modernen Agrarlandschaft der Naturschutz selbst in ausgewiesenen Schutzgebieten noch nicht wirklich gelingt.

In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in umfangreichen Studien den Rückgang der Vielfalt von Wildpflanzen und auch der Vogelwelt akribisch dokumentiert. Die Nationalakademie Leopoldina warnte zuletzt vor den potenziell katastrophalen Folgen eines weiteren Verlustes von Biodiversität für Mensch und Natur. Deutschland drängt bei internationalen Verhandlungen über Biodiversität auf ambitionierte Ziele und den Schutz von bis zu 30 Prozent der Landfläche weltweit. Die Ausweisung als Schutzgebiet nützt aber wenig, wenn schädliche Wirkstoffe dort eingesetzt werden oder mangels Pufferzonen hingelangen.

Nach Einschätzung des Toxikologen Rolf Altenburger, Leiter der Abteilung für Bioanalytische Ökotoxikologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig, der an der Publikation nicht beteiligt war, ist die Studie wichtig, weil sie eine Lücke in der Erforschung des Insektenschwunds füllt.

In der 2017 veröffentlichten Krefeld-Studie seien Ursachen des Rückgangs offengeblieben. Der Wissenschaftliche Beirat des "Nationalen Aktionsplans zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln" hätte deshalb 2017 betont, dass die Krefeld-Studie "den Zusammenhang zwischen dem Rückgang an Insektenbiomasse und der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nicht untersucht und auch nicht beschrieben" habe. An dieser Stelle liefere die neue Untersuchung nun "weitergehende Befunde", schrieb Altenburger auf Anfrage.

Ob die gefundenen Mengen an Wirkstoffen und ihrer Mischungen einzeln oder in Kombination jeweils toxisch wirkten, sei nicht ohne weiteres zu beantworten. Erschwerend komme hinzu, dass Insekten, die bereits aus den Flächen verschwunden seien, nicht mehr untersucht werden hätten können.

"Klar ist hingegen, dass die gegenwärtige Konstruktion und das Management von Naturschutzflächen nicht geeignet sind, derartige Belastungen mit Stoffen, die auf Agrarflächen vielfach gezielt zur Bekämpfung von Insekten ausgebracht werden, effektiv zu unterbinden", urteilt Altenburger. Notwendig sei auch ein verstärktes nationales Monitoring zur Biodiversität in Agrarlandschaften, "damit es nicht weiterhin der Initiative einzelner 'citizen scientists' oder einzelnen wissenschaftlichen Untersuchungen obliegt, in diesem Bereich Wissen zu erzeugen."

Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger erklärte in einer Stellungnahme, Pestizide seien mitverantwortlich für den dramatischen Rückgang in der Insektenwelt. "Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich, dass wir dringend pestizidfreie Flächen als Rückzugsorte für Insekten benötigen."

Eine ambitionierte nationale Reduktionsstrategie mit verbindlichen Maßnahmen und Zielen sowie verbessertem Monitoring, um das Risiko durch Pestizide auch in der Fläche erheblich zu reduzieren, sei nötig. In Naturschutzgebieten und in ihrer direkten Umgebung sei es erforderlich, den Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide ganz zu unterbinden. Landwirtinnen und Landwirte müssten dabei "für pestizidfreies beziehungsweise pestizidarmes Wirtschaften finanziell angemessen honoriert werden."

Für den führenden deutschen Hersteller von Pflanzenschutzmitteln, die Bayer AG, wies der Sprecher der Abteilung "Crop Science", Alexander Hennig, darauf hin, dass die Nachweismethoden für sehr viele Substanzen heute so genau seien, dass schon geringste Spuren eines Stoffes nachgewiesen werden können. Dabei könne eine Substanz entweder durch reguläre Anwendung, durch Fehlanwendungen oder durch andere Einflüsse an den Ort der Probennahme gelangt sein.

"Insofern ist es nicht erstaunlich, dass man heutzutage an vielen Stellen Rückstände findet, wo man sie nicht erwarten würde oder wo die entsprechende Substanz gar nicht angewendet worden ist", teile Hennig mit. Das heiße aber im Rückschluss nicht, "dass es immer mehr Rückstände gibt, sondern dass die Analysemethoden immer ausgefeilter werden." Nicht der Nachweis eines Wirkstoffs sei entscheidend, sondern es gehe darum, schädliche Konzentrationen zu vermeiden.

Dass bestimmte Substanzen nachgewiesen werden können, deute daher nicht notwendigerweise auf eine für Umweltorganismen bedrohliche Situation hin. Oftmals seien solche Spuren bei weitem unterhalb der Größenordnung, die einen Schaden in der Umwelt verursachen könnte. Hennig nannte neben landwirtschaftlicher Anwendung weitere mögliche Quellen von Wirkstoffen, etwa Tierarzneimittel, Holzschutzmittel, Konservierungsmittel und Schimmelmittel, die auch in Naturschutzgebieten angewendet werden dürften oder mit denen Tiere behandelt würden, die sich in Naturschutzgebieten aufhielten. "Vor diesem Hintergrund sind weitere Anwendungsbeschränkungen für Pflanzenschutzmittel aus unserer Sicht nicht zielführend", so Henning.

Der Pflanzenschutzexperte Dirk Süßenbach vom Umweltbundesamt (UBA) sagte auf Anfrage, die Studie erscheine ihm methodisch "belastbar." Es werde auch angemessen diskutiert, was die Ergebnisse aussagen und was nicht. Vor allem sei wichtig, dass es nicht um tödliche Konzentrationen von Wirkstoffen gehe, sondern um eine chemische Bestandsaufnahme, welche Chemikalien im Körper von Insekten zusammentreffen. "Akute Effekte kann man mit der Messmethode nicht erfassen, denn solche Tiere würden erst gar nicht in die Fallen fliegen", sagte Süßenbach. Die Studie belege also keine tödlichen Effekte.

Sie mache aber auf ein grundlegendes Problem bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln aufmerksam. Die sogenannte "Mischungstoxizität", also das Zusammenwirken verschiedener Wirkstoffe im Organismus, sei bisher in den Verfahren kaum ein Thema, obwohl es Hinweise gebe, dass auch nicht-tödliche Mengen von Pflanzenschutzmittel Probleme verursachen könnten, wenn sie das Verhalten von Insekten veränderten. "Dass wir die Mischungstoxizität in der Zulassung nicht betrachten, ist eine grundlegende Systementscheidung." In den Verfahren würden jeweils nur geprüft, wie sich einzelne Wirkstoffe auf Natur und Umwelt auswirken, die für spezifische Anbaupflanzen in einer gewissen Häufigkeit ausgebracht würden. "Wir dürfen gemäß Pflanzenschutzgesetz und EU-Regeln immer nur einen Wirkstoff beziehungsweise ein Mittel prüfen", sagte der UBA-Mitarbeiter.

Wechselwirkungen von Stoffen und die Anreicherung verschiedenster Pflanzenschutzmitteln in Pflanzen oder Tieren seien mit wenigen bekannten Ausnahmen grundsätzlich nicht Gegenstand von Zulassungsverfahren und Anwendungsvorschriften. "Dafür gibt es auch keine Standardstudien", sagte Süßenbach.

Die von den Autorinnen und Autoren der Studie vorgeschlagene Pufferzone rund um Naturschutzgebiete, in denen Pflanzenschutzmittel nicht oder nur in geringen Mengen ausgebracht werden dürfen, bezeichnete Süßenbach als "gute Idee". Das UBA habe bereits 2016 Vorschläge für eine neue Praxis im Pflanzenschutz unterbreitet, die auch in diese Richtung gingen. Die dem Bundesumweltministerium unterstellte Behörde mit Sitz in Dessau hatte 2016 gefordert, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu minimieren und besser zu kontrollieren, Risiken stärker zu prüfen, negative Effekte in der Landschaft zu kompensieren und Folgekosten aus der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in deren Preis zu integrieren.

In der Studie heißt es zur Messmethodik, dass es sich bei den gemessenen Wirkstoffresten um nicht-tödliche Konzentrationen handle, da die untersuchten Insekten ja lebend gefangen worden seien. Die Werte könnte aber als Minimalbelastungen in Analysen eingehen und dabei helfen, realistische Szenarien für den realen Mix von Pestiziden in Ökosystemen zu entwickeln.

Die Forscherinnen und Forscher beklagen, dass es noch keine Studien gebe, die untersuchen, wie sich die realen Konzentrationen von Pestizidmischungen auf Ökosysteme an Land und ihre Bewohner auswirken. Aus der Untersuchung von Wasserlebensräumen gebe es aber eindeutige Hinweise auf die Gefährlichkeit für Kaulquappen und Wirbellose. Daher seien die Krefeld-Studie von 2017 und die aktuelle Untersuchung wichtige Argumente dafür, Schutzgebiete zu vergrößern und mit Pufferzonen zu versehen, die sie vor dem Eintrag von Pestiziden schützen.

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Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter.
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(jle)