Interview: Pläne für die "elektronische Patientenakte für alle" sind sportlich

Die elektronische Patientenakte kann nicht viel, das wird sich auch Anfang 2025 nicht ändern. Über die "ePA für alle" sprachen wir mit Nicole Löhr von der KVN.

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Ärztin vor einem leeren PC

(Bild: DG FotoStock/Shutterstock.com)

Lesezeit: 15 Min.

Mit dem Start der "ePA für alle" Anfang 2025 lassen sich in die Akte elektronische Arztbriefe, Entlassbriefe, Befundberichte, Laborbefunde, Bildbefunde als PDF/A-Dateien und Informationen zur Medikation in Form einer Medikationsliste hinterlegen. Kritik gibt es dafür, dass ab Januar keine großen Dateien wie MRT-Bilder gespeichert werden können. Das liegt aber nicht nur an der fehlenden Möglichkeit, Bilder im DICOM-Format abzuspeichern, sondern auch am begrenzten Speicherplatz – derzeit begrenzt auf 25 MB pro Datei.

Während die für die Digitalisierung des Gesundheitswesens verantwortliche Gematik kürzlich die finalen Spezifikationen für die Weiterentwicklung der ePA für Juli 2025 veröffentlicht hat (ePA 3.1), die unter anderem die technischen Voraussetzungen für die Weiterleitung der Daten an das Forschungsdatenzentrum Gesundheit regelt, lassen die Verantwortlichen Wünsche der Ärzteschaft noch offen.

(Bild: Nils Hendrik Müller)

Noch Wochen vor der Veröffentlichung von Version 3.1 hatte sich der eigens für die Digitalisierung gegründete Digitalisierungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) mit einem Eckpunktepapier "Anforderungen an die elektronische Patientenakte in der vertragsärztlichen Versorgung" an das Bundesgesundheitsministerium und die Gematik gewandt – eine Reaktion auf den Versuch, an der ePA mitzuwirken, erfolgte nicht. Über die Hintergründe des Eckpunktepapiers haben wir mit KVN-Vorständin Nicole Löhr gesprochen.

heise online: Was war Ihre Motivation für das Eckpunktepapier?

Nicole Löhr: Die elektronische Patientenakte beschäftigt uns weit mehr als das elektronische Rezept oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Unsere Mitglieder sind hier auch emotional viel stärker involviert. Wir haben im vergangenen Jahr einen Digitalisierungsausschuss gegründet, in dem sich eine Gruppe von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zusammengefunden und in den vergangenen Monaten siebenmal getroffen hat, um über die kommende ePA zu diskutieren.

Wir sehen die Digitalisierung des Gesundheitswesens inzwischen auch als berufspolitisches Thema. Als die Spezifikationen für die ePA vorab veröffentlicht wurden, hat der Ausschuss diese unter die Lupe genommen, um sie mit den Anforderungen in den Praxen abzugleichen. Die Ärztinnen und Ärzte wollen eine ePA, die im Praxisalltag einen Mehrwert bietet, und daran wollen wir aktiv mitwirken. Das Gesundheitsministerium hat zu Beginn der Digitalstrategie von einem partizipativen Prozess gesprochen, daher sind wir auch davon ausgegangen, dass unsere Erfahrungen aus der Praxis gefragt sind.

Uns ist auch bewusst, dass unsere Wünsche mit der für Anfang 2025 geplanten ePA 3.0 nicht mehr berücksichtigt werden können. Die ePA ist ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt. Unsere Vorschläge sind also in die Zukunft gerichtet. Mitte 2025 wird es bereits die nächste Version der ePA geben. Die dazugehörende Spezifikation wurde gerade veröffentlicht.

Der digital gestützte Medikationsprozess ist eine wichtige Entwicklung, um zukünftig vermeidbare Medikationsfehler zu verringern. Die Anforderungen der Hauptanwender sollten dennoch nicht unter den Tisch fallen und bei dieser und den folgenden Versionen dringend berücksichtigt werden. Mit den Hauptanwendern meine ich die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Denn obwohl die ePA eine versichertengeführte Akte ist, sind die genannten Praxen gesetzlich zur Nutzung der ePA verpflichtet.

In Niedersachsen haben sie im Jahr über 60 Millionen Patientenkontakte, bei denen regelhaft die ePA genutzt werden muss. Da wäre es schön, wenn die ePA tatsächlich eine Erleichterung darstellt und funktioniert.

Wie läuft es mit der aktuellen ePA im Praxisalltag?

Derzeit sind die Ärztinnen und Ärzte eher zurückhaltend bei der elektronischen Patientenakte. Einerseits haben nur wenige Patienten eine ePA, andererseits müssen alle Ärzte in der Lage sein, die ePA zu befüllen. Das ePA-Modul muss im Praxisverwaltungssystem implementiert sein, sonst droht ein Honorarabzug von einem Prozent und eine Reduzierung der TI-Pauschale um 50 Prozent. Hinzu kommt, dass die ePA den Arzt in seiner Arbeit derzeit nicht wirklich unterstützt.

Die heutige ePA ist für den Praxisalltag deutlich zu langsam und oftmals zu instabil. Ferner ist die Suche nach Informationen in der ePA zeitaufwändig. Die Daten gelangen teilweise nicht automatisiert in das Praxisverwaltungssystem. Ein Zusatznutzen für die Praxen ist bei der aktuellen ePA nicht erkennbar.

Sind Sanktionen der richtige Weg, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens voranzubringen?

Es ist immer schwierig, Sanktionen für die Mitglieder zu kommunizieren, wenn man Begeisterung wecken will. Dies besonders dann, wenn eine Anwendung zunächst keinen oder wenig Nutzen im Praxisalltag bietet und der Changeprozess als zusätzliche Belastung wahrgenommen wird. Es müssen positiven Effekte durch die ePA beim Anwender ankommen. Sanktionen helfen nicht weiter.

Immer wieder ist zu lesen, dass es zu Störungen der Dienste rund um die Telematikinfrastruktur kommt. Es wird auch behauptet, dass diese zugenommen haben, was möglicherweise auf die vermehrte Nutzung zurückzuführen ist. Fühlen sich Ärzte ausreichend über Störungen informiert?

Nein. Ich verfolge das TI-Störungsportal natürlich. Zusätzlich schaue ich auch in den WhatsApp-Kanal. Immer wieder erhalte ich E-Mails von KVN-Mitgliedern dazu, dass TI-Anwendungen nicht funktionieren. Erst kürzlich gab es Fehler beim Einlesen der elektronischen Gesundheitskarte, was zum Einlösen des E-Rezepts notwendig ist. Während die E-Mails der Mitglieder schon morgens bei der KVN ankamen, erschien die Meldung im WhatsApp-Kanal erst am Nachmittag. Etwa eine halbe Stunde später folgte die Meldung, dass die Störung behoben sei. Für die Ärzte ist zudem die Information "wir haben eine Störung und es könnte an Komponente A, B oder C liegen" wenig hilfreich, gerade montags, wenn die Sprechstunden besonders voll sind.

Wenn dann Dienste wie das E-Rezept nicht erreichbar sind, muss sich jemand in der Mittagspause oder abends noch einmal hinsetzen und das alles abarbeiten. Wenn der Stammdatenabgleich über die eGK nicht funktioniert, sind auch die Patienten unzufrieden, weil Rezepte nicht eingelöst werden können.

Was passiert, wenn Patienten Probleme mit den ePA- Apps haben?

Erfahrungsgemäß landen Probleme der Patienten mit TI Anwendungen in der Arztpraxis. Meist rufen die Patienten nicht bei ihrer Krankenkasse an. Deshalb ist es uns wichtig, dass die Krankenkassen ihre Versicherten umfassend über die ePA informieren. Das ist auch eine unserer Forderungen, die zwar im Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen berücksichtigt ist, von der wir aber mitbekommen, dass sich eben nicht alle Krankenkassen daran halten und zum Beispiel Erwartungen bei den Patienten wecken, die zumindest beim Start der ePA nicht erfüllt werden können.

Einige Krankenkassen haben kommuniziert, das mit der elektronischen Patientenakte (ePA) das Suchen des Impfpasses entfällt. Das impliziert, dass es möglich ist, Daten zu Impfungen, die Versicherte erhalten haben, in einem elektronischen Impfpass digital verfügbar zu haben. Dies ist zwar geplant. Diese Funktionen werden aber ab Anfang 2025 nicht zur Verfügung stehen.

Gerade bei schwerkranken Patienten, die oft zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor wechseln, würde es helfen, wenn nicht immer wieder alle Unterlagen zwischen Krankenhäusern und Praxen neu übermittelt werden müssten und beispielsweise Röntgen- oder MRT-Bilder aus der ePA abgerufen werden könnten. Dies wäre zum Start natürlich wünschenswert gewesen. Leider ist der stationäre Sektor faktisch noch gar nicht an die ePA angebunden. Darüber hinaus können große Bilddateien sowie das versorgungsübliche DICOM-Format auch nicht in die ePA geladen werden. Trotzdem informieren Krankenkassen in diese Richtung.

Die Befürchtung unserer Mitglieder ist, dass aufgrund falscher oder mangelnder Aufklärung bei Einführung der ePA in den Praxen Diskussionen beginnen: "Warum kommt mein Röntgenbild nicht in die ePA? Warum geht das und das nicht?"

Viele Versicherte wissen bisher auch nicht, wie sie die ePA nutzen können, insbesondere wenn sie kein Smartphone besitzen. Die Desktopversion ist bisher nur sehr eingeschränkt nutzbar. Gerade für ältere Menschen kann das eine Herausforderung sein und Fragen aufwerfen, etwa wo sich bestimmte Dokumente gerade befinden. Die Information der Versicherten muss adressatengerecht erfolgen.

Eine weitere Befürchtung betrifft rechtliche Unklarheiten bei der ePA für Kinder, deren Eltern getrennt leben, aber ein gemeinsames Sorgerecht haben. Hier könnten Ärzte zwischen die Fronten geraten. Die Abläufe, wer was wie in die ePA einstellen darf, sind noch nicht geregelt.

Sie fordern auch, dass Ärzte mit expliziter Zustimmung der Patienten länger als 90 Tage Zugriff auf die ePA erhalten. Was sind da die Hintergründe?

Auf Wunsch des Patienten muss der Zugriff auch für eine längere Dauer als 90 Tage möglich sein. Insbesondere im Umgang mit Chronikern und "Stammpatienten", die selbst die ePA-App ihrer Krankenkasse nicht bedienen können und auch über keinen Vertreter verfügen, ist diese Möglichkeit für einen reibungslosen Praxisalltag unumgänglich. Zu Quartalsbeginn fehlen auch regelhaft die eGK. Für diese Patienten wäre dann kein Zugriff auf deren ePA möglich.

Auch bei einer Behandlung durch mehrere Ärzte wäre eine Befugnis für einen längeren Zeitraum von Vorteil. Wenn Ihr Hausarzt Sie an einen Facharzt überweist, kann es einige Zeit dauern, bis Sie den Facharzttermin wahrnehmen. Möglicherweise überweist Sie der Facharzt zum Beispiel noch an einen Radiologen. Wenn die Arztbriefe noch nicht in Ihrer Hausarztpraxis angekommen sind, hätte Ihr Hausarzt bei Zugriff auf die ePA die Möglichkeit, Ihre Unterlagen vor dem nächsten Termin einzusehen - auch wenn ihr letzter Besuch länger als 90 Tage zurückliegt.

Halten Sie den Start der "ePA für alle" ab Januar oder Februar 2025 für realistisch?

Die ePA 3.0 wird seitens der Krankenkassen zum 15. Januar für alle ausgerollt, aber die ersten vier bis sechs Wochen wird nicht jeder Patient eine ePA haben. Dies sollte allen Patienten und Praxen bewusst sein, damit es nicht zur Verwirrung kommt. Anfang 2024 soll auch der technische "Warmup" und die Pilotphase in den zwei ausgewählten Modellregionen Hamburg, und Franken erfolgen, bevor es im Februar dann an den bundesweiten Roll-Out geht.

Die Pläne für die Umsetzung sind "sportlich". Ab dem 1. Oktober 2024 soll es durch die Referenzumgebung eine Möglichkeit der "Echttestungen" geben, damit Softwarehersteller die Nutzung der ePA prüfen können. Das Zusammenspiel von Aktensystemherstellern und der ePA im PVS kann in dieser Referenzumgebung allerdings nicht geprüft werden, so dass hier ein Restrisiko verbleibt. Sorge gibt es bei uns vor allem davor, dass die Ärztinnen und Ärzte und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten am Ende vor einer nicht benutzerfreundlichen und instabilen Anwendung sitzen und dadurch die eigentlichen Mehrwerte der ePA verkannt werden. Daher plädieren wir für eine umfangreiche Testung und Pilotierung, und vor allem einen ergebnisoffenen Umgang mit der Testphase. Die ePA sollte nur nach einer zufriedenstellend verlaufenen Testphase für alle gesetzlich Versicherten bundesweit freigeschaltet sein.

Welche Funktionen der ePA sind hilfreich und welche werden zum Start fehlen?

Leider wird der elektronische Medikationsplan zum Start nicht zur Verfügung stehen. Umso wichtiger ist es, das praktische Handling der elektronischen Medikationsliste um (Medikations-)Anamnese, Medikationstherapie und Medikationsüberwachung zu unterstützen. Insbesondere gezielte Suchen und Filterungen beispielsweise auf Wirkstoffgruppen sind für die Anamnese sowie die Therapieentscheidung von besonderer Bedeutung. Diese Möglichkeit wird aber nicht vorhanden sein.

Es fehlt zum Start ferner die Möglichkeit, die Dokumente mit einer Volltextsuche zu durchsuchen. Es ist keine Arbeitserleichterung, wenn Dokumente einzeln geöffnet und durchgelesen werden müssen, um dann festzustellen, dass die gesuchte Information nicht enthalten ist. Daher ist zum Start ein sinnvolles Metadatenhandling für die Dokumente in der ePA unerlässlich. Unser Papier zur ePA setzt sich daher sehr umfänglich mit diesem Thema auseinander. Die Volltextsuche muss unabhängig davon dringend zeitnah nachgeliefert werden.

Sorge macht uns auch die Vorgabe, dass Dokumente im PDF/A-Format gespeichert werden müssen. Für die meisten Ärzte bedeutet dies, dass sie die Dokumente erst konvertieren und nach der Konvertierung prüfen müssen, was einen zusätzlichen Arbeitsschritt darstellt.

Bevor dann doppelte Arbeit entsteht, wäre es dann nicht besser, erst die ePA fertigzustellen und zu testen und dann die Versicherten zu informieren?

Man darf nicht vergessen, dass die ePA die verpflichtende ärztliche Dokumentation nicht ersetzt. Das Befüllen der ePA bedeutet derzeit einen Mehraufwand. Es wäre daher tatsächlich wünschenswert, wenn zunächst alle Weichen so gestellt werden, dass die ePA nicht zu Mehraufwand führt. Sie sollte reibungslos funktionieren, Prozesse sollten automatisch ablaufen. Wenn zum Beispiel die TI ausfällt, sollten für die ePA markierte Dokumente später automatisch aus dem PVS in die Aktensysteme geladen werden.

Die KVN und ihr Digitalisierungsausschuss sehen durchaus die Vorteile der elektronischen Patientenakte. Wir plädieren aber für eine ausgiebige Erprobung der Systeme.

In einer ersten Testphase könnte zunächst geprüft werden, welche Schwierigkeiten und Fehler bei der ePA auftreten und wie diese behoben werden können. Störungen wird es sicherlich geben, aber dann sollte es auch eine verantwortliche Stelle geben, die für die Störungen zuständig ist.

Mit dem Digitalagentur-Gesetz, das die Gematik wieder zur Behörde des Bundesgesundheitsministeriums macht, soll das doch geschehen?

Das ist die Hoffnung. Dann gibt es zentrale Vorgaben und zumindest perspektivisch eine Gesamtverantwortung. Die Gematik muss dafür sorgen, dass die ePA über alle Aktensystemanbieter und alle TI-Dienste-Kombinationen hinweg für die Praxen eine stabile, schnelle und robuste Nutzung ermöglicht. Sie muss Vorgaben für alle beteiligten Systeme festlegen und in der Folge auch konsequent durchsetzen. Dazu haben wir auch spezielle Wünsche, wie lange das Abrufen und Einstellen von Dokumenten dauern darf. Sonst behindert das die Abläufe in der Praxis enorm.

Wenn etwas nicht funktioniert, gibt es Hotlines bei den Softwareanbietern, an die sich die Ärztinnen und Ärzte wenden können. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Hotlines bei der Einführung neuer Anwendungen völlig überlastet sind. Da braucht es andere Möglichkeiten. Hilfreich wäre es auch, wenn die Ärztin oder der Arzt Fehlermeldungen abspeichern könnte. Sobald der Support erreichbar ist, könnte die Praxis die Meldung weitergeben.

Aufgrund der vielen verschiedenen Fehlerquellen ist oft nicht klar, ob der Fehler beim Praxisverwaltungssystem, beim Konnektor, beim elektronischen Heilberufsausweis oder bei anderen TI-Komponenten liegt. Ärztliche Arbeitszeit ist ein knappes Gut. Dieses Gut muss den Patienten zugutekommen und nicht der Praxis-IT.

Medizinische Dokumentation muss einfach sein. Komplizierte Dokumentation bedeutet Mehraufwand. Es ist wichtig, dass es eine Gesamtstabilität der ePA gibt. Die geplanten Testungen sind nicht ausreichend. Da ist noch viel Luft nach oben. Die Spezifikationen müssen eindeutig sein und es muss eine echte komponentenübergreifende Konformitätsbewertung stattfinden.

(mack)