Ionis Pharmaceuticals: Durchbruch bei Erbleiden

RNA-Medikamente können Genfehler beheben. Doch lange fehlte der Durchbruch. Jetzt wurde die erste Arznei gegen Spinale Muskelatrophie zugelassen.

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Von
  • Karen Weintraub

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Kurz nach Cameron Hardings erster monatlicher Kontrolluntersuchung fiel seiner Mutter Alison auf, dass sich ihr Neugeborener kaum noch bewegte. Wenn sie ihn wickelte, fielen seine Arme kraftlos zur Seite. Er strampelte nicht und drehte nicht einmal seinen Kopf. Die Diagnose lautete "Spinale Muskelatrophie". Die angeborene Erkrankung zerstört die Motoneuronen, die für die Steuerung der Bewegung verantwortlich sind. Sie bricht meist während der ersten beiden Lebensjahre aus.

Cameron erkrankte so heftig, dass er wahrscheinlich seinen ersten Geburtstag nicht erlebt hätte. Doch im Alter von sieben Wochen meldeten seine Eltern ihn für eine klinische Studie an. Der Säugling erhielt das Präparat Spinraza. Zwei Monate später konnte der Junge seinen Kopf bewegen und nach einem Spielzeug greifen. Nie zuvor hatte ein Kind in seiner Verfassung eine solche Besserung gezeigt.

Entwickelt hat Spinraza das im kalifornischen Carlsbad ansässige Pharmaunternehmen Ionis Pharmaceuticals. Ende 2016 wurde das Medikament in den USA zugelassen und diesen Juni auch in Europa. Es könnte sich als erster durchschlagender Erfolg für die sogenannten RNA-Therapeutika erweisen, an denen seit mehr als 20 Jahren geforscht wird. "Sie sind die Zukunft der Medizin", glaubt Steven Dowdy von der University of California in San Diego. Insgesamt laufen derzeit mehr als 150 klinische Studien mit RNA-Medikamenten zur Behandlung von Krebs, Infektionen, Hormonproblemen und neuronalen Erkrankungen, darunter die Huntington-Krankheit.

RNA ist die Kurzform für Ribonukleinsäure. Sie ist eng mit dem Erbgutmolekül DNA verwandt und ist dafür zuständig, die genetische Information aus dem Zellkern zu schleusen. Außerhalb des Kerns dient sie dann als Bauplan für Hormone oder Enzyme. Für Mediziner bietet sie sich als Weg an, Fehler im Stoffwechsel zu beheben. Sie setzen dabei meist auf modifizierte RNA-Moleküle. Je nach Krankheitsursache sollen sie die natürliche RNA blockieren, verändern oder ihr etwas hinzufügen. Klingt zunächst einfach – allerdings haben Zellen in Milliarden von Jahren der Evolution alles daran gesetzt, fremde RNA abzuwehren. Das sei die größte Herausforderung bei diesem Ansatz, sagt Dowdy.

RNA-Medikamente zeigen zudem häufig eine Reihe von Nebenwirkungen. Etliche Humanstudien wurden aus Sicherheitsgründen abgebrochen. Im Oktober 2016 musste das US-Biotech-Unternehmen Alnylam eine Studie für ein Medikament zur Behandlung der erblichen Stoffwechselerkrankung Amyloidose vorzeitig beenden, nachdem einige Teilnehmer aus ungeklärten Gründen gestorben waren.

TR 9/2017

Alnylam arbeitet mit einer Methode, welche die Botschaften der körpereigenen RNA blockiert. Spinraza basiert dagegen auf der sogenannten Antisense-Technik. Das Medikament besteht aus kurzen synthetischen RNA-Strängen, die dem Spiegelbild einer mutierten Stelle des DNA-Codes entsprechen. Dort setzt es an und verhindert dadurch, dass das Ablesen des Genabschnitts vorzeitig abgebrochen wird. So können Camerons Zellen nun das Protein, das seine Nervenzellen benötigen, korrekt zusammensetzen.

Im Gegensatz zu Gentherapien greifen RNA-Präparate also nicht in das Erbgut selbst ein. Aus diesem Grund heilt Spinraza auch nicht dauerhaft. Cameron muss alle vier Monate eine Spritze in den Bereich um das Rückenmark erhalten, wo die Motoneuronen sitzen – und das für den Rest seines Lebens. Die jährlichen Kosten belaufen sich derzeit auf 375.000 Dollar. In Deutschland werden für die Behandlung im ersten Jahr nach Informationen der "Deutschen Apotheker Zeitung" 540.000 Euro veranschlagt.

Das Medikament allein reicht allerdings nicht. Cameron wird zusätzlich von Physio-, Beschäftigungs-, Sprach- und Schwimmtherapeuten sowie einem Chiropraktiker unterstützt. "Wenn ich irgendetwas in den vergangenen drei Jahren gelernt habe, dann das: Das Medikament wirkt nicht von allein. Würde man die Muskeln nicht trainieren, gäbe es keinerlei Fortschritt", sagt Camerons Mutter. Noch ist ungewiss, ob es für den Jungen so gut weitergeht. Spinraza wurde vor fünf Jahren das erste Mal an Kindern getestet.

Daher können die Ärzte nicht sagen, wie ältere Kinder auf die Therapie ansprechen. Das Unternehmen teste derzeit, was passiert, wenn das Medikament früher verabreicht würde, also direkt nach der Geburt und bevor sich erste Symptome zeigten, sagt C. Frank Bennett, Leiter der Forschungsabteilung bei Ionis Pharmaceuticals. Bis jetzt sind die Zeichen ermutigend. Laut Bennett würden die Kinder die typischen Meilensteine der motorischen Entwicklung – sich umdrehen oder krabbeln – zur gleichen Zeit erreichen wie Gesunde.

Camerons Mutter erzählt, ihr Sohn lerne gerade, seine Muskeln so gut zu beherrschen, dass er laufen könne. Außerdem rede er wie ein Maschinengewehr. Nun arbeitet sein Sprach-therapeut daran, dass der Junge die Wörter verständlicher ausspricht. Denn Cameron hat noch nicht gelernt, seine Gesichtsmuskulatur zu kontrollieren. Aber wenn er fröhlich ist, zieht er bereits den einen Mundwinkel leicht nach oben. Es ist der Beginn eines Lächelns.

(bsc)