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Kampf dem Verkehrsinfarkt

Denis Dilba

Mit neuen Telematik-Technologien sollen vorhandene Straßenflächen besser ausgenutzt werden. Auch an Systemen, die den öffentlichen Nahverkehr mit einbeziehen, arbeiten Experten bereits.

Mehr als 12.500 Kilometer lang sind alle Autobahnen Deutschlands zusammengerechnet – hinzu kommen 41.000 Kilometer Bundesstraßen. 46,6 Millionen Fahrzeuge (ohne Lkw und Motorräder) buhlen laut Statistischem Bundesamt derzeit um jeden Meter Asphalt dieser Hauptschlagadern der Republik. Und jedes Jahr werden mehr Autozulassungen verzeichnet, steigt der Lkw- und Personenverkehr. Seit der EU-Osterweiterung sind überdies deutlich mehr Lkw auf Durchreise in Länder wie Polen oder Tschechien. Innerhalb des nächsten Jahrzehnts erwarten Verkehrsexperten insbesondere bei dem Güterverkehr auf der Straße satte zweistellige Zuwächse. Wenn nichts geschehe, drohe "Europa schon bald der Infarkt im Zentrum und die Lähmung an den Extremitäten", warnte die EU-Kommission bereits 2001 in ihrem Weißbuch "Die europäische Verkehrspolitik bis 2010".

Bislang konnte man einen solchen Infarkt zwar noch weitgehend vermeiden – um aber die stetig wachsende Verkehrslawine weiterhin in geordnete Bahnen lenken zu können, sucht die Wissenschaft händeringend nach neuen Technologien und Verkehrskonzepten. Als eines der wichtigsten Ziele seiner Verkehrspolitik beschreibt Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee daher den Ausbau der Forschungsaktivitäten im Bereich der Telematik. "Es geht in Zukunft vor allem darum, die vorhandene Infrastruktur besser als heute auszunutzen", sagt Lutz Rittershaus vom Referat Telematik und Verkehrsbeeinflussung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in Bergisch Gladbach. Einen vielversprechenden Ansatz sehe er in einer deutlich effizienteren Vernetzung von Straßen-, Schienen- und Seeverkehr. Vor allem nahtlosere Übergänge ohne Wartezeiten beim Wechsel auf den Schienenverkehr seien anzustreben.

Automatisierte Umladestationen an Bahnhöfen und Binnenhäfen etwa könnten Spediteure davon überzeugen, mehr auf die umweltfreundlichere Bahn zu setzen. In Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet oder Regionen wie Berlin können noch genauer aufeinander abgestimmte Fahrpläne von Bussen, U- und S-Bahn zusätzlich mehr Entlastung für den Straßenverkehr schaffen.

"Das Falscheste, was man jetzt tun kann, ist jedenfalls, noch mehr Straßen zu bauen", warnt Hermann Knoflacher, Leiter des Instituts für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik an der TU Wien, der als einer der renommiertesten Verkehrsexperten Europas gilt. Einzige Lösung sei für ihn, den Anreiz zum Autofahren zu mindern. "Die Menschen müssen weg vom Fetisch Auto und auf den öffentlichen Nahverkehr und die Schiene setzen", so Knoflacher. Diesen vergleichsweise radikalen Ansatz halten viele Verkehrsexperten zwar nicht für falsch – aber das Auto regelrecht zu verdammen sei für sie keine realistische Lösung.

Telematik-Experte Rittershaus etwa sieht als Schlüssel zu einem flüssigeren Verkehr, den Verkehrsteilnehmern detailliertere Informationen über den Verkehrszustand zu liefern. Verbesserte Algorithmen der Navigationssysteme könnten dabei helfen: Bisher arbeiten die Geräte noch mit vergleichsweise altem Kartenmaterial und liefern relativ statische Daten. Entscheidend bei der Wahl der optimalen Route sei aber heutzutage nicht nur die Karten immer auf dem aktuellsten Stand zu halten, sondern auch mit einzubeziehen, wann man fahren möchte, so Rittershaus: "Bei Stoßzeiten, wie etwa im Feierabendverkehr oder zu Ferienbeginn, ergibt sich so eine vollkommen andere optimale Route, als die vom konventionellen Navigationsgerät vorgeschlagene." Auch Informationen darüber, ob es regnet, schneit oder nebelig sei, hätten großen Einfluss auf die jeweils beste Verbindung. Aufgabe der Forschung sei daher nun, möglichst viele und genaue Messdaten über die Verkehrsauslastung unter diesen unterschiedlichen Randbedingungen zu sammeln.

Doch auch eine Routenberechnung nach solch verbesserten Kriterien verhindert nicht zwangsläufig jede Engstelle: Wenn allen Verkehrsteilnehmern die gleiche Alternativstrecke vorgeschlagen wird, würde es sich dort ebenfalls stauen. Autobahnvielfahrer kennen diesen Effekt und fahren trotz Warnung per Radio in einen vermeintlichen Stau, in der Hoffnung, dass dieser sich dann schon aufgelöst hat. "Das funktioniert manchmal schon. Die Strategie basiert aber auf reinem Glück", sagt Martin Fellendorf, Leiter des Instituts für Straßen- und Verkehrswesen der TU Graz. Haben zu viele Autofahrer den gleichen Gedanken, staut es sich erst recht. Zusammen mit Herstellern von Navigationsgeräten arbeitet der Österreicher an einer Lösung für dieses Problem: Abhängig von der Position und dem aktuellen Verkehrszustand soll nur einem gewissen Prozentsatz der Autofahrer eine jeweilige Route zugewiesen werden. So kann sichergestellt werden, dass die Alternativstrecken nicht überlastet werden.

Diesem Ansatz ähnlich ist ein Verkehrskonzept, das ein Team um den Informatiker Martin Middendorf von der Universität Leipzig für denkbar hält: So genannte Ameisen-Algorithmen könnten künftig helfen, den Verkehr besser im Fluss zu halten. "Diese Algorithmen beschreiben mathematische Optimierungsverfahren, die sich Lösungsstrategien zu Nutze machen, welche Ameisen bei der Futtersuche verwenden", erklärt Middendorf.

Bisher werden sie eingesetzt, um Routingpfade im Internet zu optimieren. Dazu werden beispielsweise spezielle Datenpakete, so genannte elektronische Ameisen, von einem definierten Anfangs- zu einem definierten Zielpunkt gesendet, stoppen ihre Laufzeit – und "laufen" den selben Weg wieder zurück, auf dem sie gekommen sind. Da jede Datenameise auf einem anderen Datenpfad vom Start zum Ziel gelangt, ergeben sich unterschiedliche Laufzeiten. Wie ihre realen Vorbilder markieren die programmierten Ameisen auf ihrem Rückweg nun jeden Router-Abzweig unterschiedlich stark mit so genannten elektronischen Pheromonen – abhängig davon, wie schnell sie waren.

Je stärker diese flüchtige künstliche Duftmarke ist, desto mehr ihrer Nachfolger erkennen, auf welchem Weg sie am schnellsten ans Ziel kommen – und wählen diesen so lange bevorzugt, bis sich dort ein Datenstau bildet. Da die elektronischen Ameisen auf diesem Weg nun länger unterwegs sind, wird er weniger markiert; die künstlichen Tierchen favorisieren einen anderen Pfad. Auf diese Weise pendelt sich nach einiger Zeit ein Gleichgewicht ein, das die Ameisen ohne Stau über jeweils unterschiedliche Routen zum Ziel schickt – und somit den schnellsten Gesamtdatenfluss gewährleistet.

"Über eine intelligente Infrastruktur, die den Autos per Funk sagen könnte, wo sie abbiegen sollen, wäre es in Zukunft vielleicht möglich, den Verkehr so zu steuern, dass Staus vermieden werden und alle auf dem für das Gesamtsystem schnellsten Weg ihr Ziel erreichen", hofft Middendorf.

An solcher Car-to-Infrastructure- und Car-to-Car-Kommunikation werde bereits geforscht, sagt BASt-Mann Rittershaus."Das wird kommen, die große Frage ist nur: wann?", sagt der Telematiker. In näherer Zukunft sollen zunächst so genannte "Floating Car Data"-Pakete die Streckenempfehlungen noch genauer machen. Die Idee dahinter: Jedes Fahrzeug funkt seine aktuelle Position und Geschwindigkeit per GPS-Sensor in eine Zentrale, um so den Verkehrsfluss in Echtzeit abzubilden. Dabei gebe es aber noch rechtliche Hürden, sagt TU Graz-Verkehrsexperte Fellendorf: Jeder Fahrer müsste bereit sein, zu jeder Zeit seinen aktuellen Standort preiszugeben. Außerdem ist völlig ungeklärt, wer diese Maßnahme zahlen würde.

Um diese Probleme zu umgehen, hat der bekannte Navigationsgerätehersteller TomTom vor kurzem im niederländischen Brabant einen Versuch durchgeführt, bei dem die Verkehrsdaten anonymisiert aus GSM-Rohsignaldaten von Handys ermittelt wurden. "In den Niederlanden wird diese Technologie bei den Navigationsgeräten bereits eingesetzt, auch für Deutschland soll in naher Zukunft eine Markteinführung folgen", sagt TomTom-Sprecherin Sarah Schweiger. "Floating Phone Data ist ein interessanter Ansatz, der auch in anderen Ländern bereits erprobt wurde", kommentiert Rittershaus.

Heute setze man vielfach noch auf Induktionsschleifen in der Straße. Diese Sensoren bauen ein Magnetfeld definierter Größe auf – fährt ein Auto darüber, wird das Feld gestört und das Fahrzeug somit detektiert. Zudem werden so genannte Überkopfsensoren eingesetzt, die an Verkehrsüberführungen oder Schilderbrücken angebracht sind und mit Hilfe von Mikrowellen, Radar- oder Lasersensoren den Verkehr überwachen.

Mit solch genaueren Daten versorgte Navigationsgeräte wären aber im Sinne zukunftsweisender Mobilität am wirksamsten, wenn sie gleichzeitig auch öffentliche Verkehrsmittel mit einbeziehen würden, sagt der Grazer Verkehrsexperte Fellendorf. Die Empfehlung, etwa besser die Bahn zu nehmen, müsse mit portablen Geräten passieren und zwar bevor man im Auto sitzt – sonst gewinnt die Bequemlichkeit. Unter dieser Voraussetzung kann auch TU Wien-Verkehrsexperte und erklärten Auto-Gegner Knoflacher dieser Technologie etwas Positives abgewinnen.

Sonst halte er die Entwicklung von noch mehr Navigationstechnik für einen Fehler. Sie erhöhe eher den Reiz zum Autofahren, da man sich in der falschen Sicherheit wiegt, schneller anzukommen. Fahren dadurch mehr Autos auf den Straßen, staue es sich zwangsläufig auch mehr. Die Lösung des Verkehrsproblems liegt für ihn die Einschränkung des Parkraumes: "Wenn die Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs nicht weiter entfernt liegen als der eigene Parkplatz und man auch nicht erwarten kann, am Zielort einen attraktiven, nahe gelegenen Haltepunkt vorzufinden, würde man sich automatisch intelligenter verhalten. Und die Bahn nehmen." (bsc [1])


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