zurück zum Artikel

Kann WeChat den Westen erobern?

Emily Parker

In China geht ohne den Kommunikationsdienst des Internetriesen Tencent fast nichts mehr. In Europa und den USA ist WeChat dagegen fast unbekannt.

Einige der größten amerikanischen Internetfirmen haben sich an China die Zähne ausgebissen. Egal ob für Google, Uber oder Amazon – im Riesenreich läuft es für die Superhelden des Webs gerne etwas anders. Schuld daran ist nicht nur die kommunistische Regierung, die mit der Zensurkeule droht. Der Markt hat ganz eigene Regeln.

Allerdings geht es auch manchen chinesischen Unternehmen im Westen nicht anders. Das aktuelle Paradebeispiel: WeChat, der Kommunikationsdienst des Portalgiganten Tencent, der in China mittlerweile das Leben zahlloser Nutzer prägt. Die Plattform, die auch einen mobilen Bezahldienst integriert, hat über 900 Millionen aktive Nutzer im Monat. Ausländer, die China besuchen, sind beeindruckt von der enormen Dominanz dieser "Super-App", die für fast alles verwendet werden kann – vom Chat über das Rufen eines Taxis bis hin zum Kauf von Immobilien.

Mehr Infos

Millionen verifizierter offizieller Accounts gibt es – darunter bekannte Marken, Prominente und sogar Krankenhäuser. Seinen Einkauf oder seine Arztrechnung kann man per WeChat bezahlen. Der Dienst ist eine digitale Geldbörse und zentrales Kommunikationsmittel in China – und ein Leben ohne WeChat ist für viele Menschen nicht mehr vorstellbar.

Entsprechend optimistisch war Tencent bezüglich der Einführung des Dienstes in den westlichen Ländern. So wurde schon 2013 ein eigenes Büro in den Vereinigten Staaten eröffnet, um WeChat nach Amerika zu bringen. Nach dem großen Erfolg in der Heimat war die Internationalisierung der natürliche nächste Schritt. Die Firma sah es auch als Chance. Es gab zwar bereits diverse Messaging-Dienste im US-Markt, doch keiner hatte das Land wirklich derart überrollt wie das WeChat in seiner Heimat gelungen war.

Vier Jahre später müssen die Versuche Tencents als gescheitert gelten. Fragt man einen durchschnittlichen Amerikaner oder Europäer danach, was WeChat ist, bekommt man oft nur ratlose Gesichter zu sehen. Eine Art WhatsApp vielleicht?

Gegenüber Technology Review wollte sich Tencent nicht zur weiteren internationalen Expansion von WeChat äußern, doch ein "Global Player" ist die Firma noch lange nicht. 2013 engagierte Tencent den Fußballstar Lionel Messi für Fernsehwerbung. Auch in Schwellenländern wie Indonesien, Indien oder Brasilien klappte der Push nur teilweise. Nur in Malaysia scheint sich WeChat mittlerweile bei den Messagingdiensten eine Spitzenposition erobert zu haben. In anderen Ländern wird der Dienst vor allem von Menschen mit chinesischer Herkunft verwendet. In einem Bericht der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua heißt es, Tencent-Gründer Pony Ma habe die Schwierigkeiten im Ausland eingeräumt. Und laut der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg ist WeChat nicht unter den Top-5-Apps fürs iPhone in Indonesien, Indien, Brasilien und anderen zentralen Märkten.

Es ist kein Geheimnis, dass das Internet in China stark zensiert wird und das auch WeChat selbst ein stark zensiertes Produkt ist. Das kann die internationale Expansion für den Nutzer verwirrend machen: "Sensible" internationale Inhalte sind in China selbst blockiert. Doch diese Zensur ist nicht das zentrale Problem, dass WeChat davon abhält, im Westen einen Fuß auf den Boden zu bekommen. Stattdessen leidet der Dienst an genau jenem Netzwerkeffekt, der ihm in China so viele Nutzer verschafft hat. Hast Du viele Nutzer, bekommst Du noch mehr – hast Du wenig Nutzer, motivierst Du auch keine neuen, weil die ja mit irgendjemandem kommunizieren müssen.

Facebook ist in China derzeit gesperrt, ein Faktor, der sicherlich zu WeChats Erfolg beigetragen hat. Würde Facebook nun ins Land gelassen, müsste die Firma dagegen ankämpfen, dass fast jeder schon bei WeChat ist. Natürlich sind die beiden Produkte anders, doch WeChat funktioniert so gut in China, weil eben so viele Chinesen den Dienst nutzen. Die Lieblingsmarken und Lieblingspromis sind hier, die Freunde, die Familie, die Arbeitskollegen. Für Facebook wäre es fast ein Ding der Unmöglichkeit, dieses Netzwerk nachzubilden.

Doch Netzwerkeffekte sind nur ein Teil dieser Geschichte. WeChat wurde expliziert für den chinesischen Markt entwickelt. Connie Chan, Partnerin beim prominenten Risikokapitalgeber Andreessen Horowitz, hat 2015 den wohl wichtigsten Artikel über den Dienst für ein westliches Publikum verfasst: "Wenn eine App alles beherrscht" [5], hieß er. Als WeChat im Jahr 2011 an den Start ging, hatten die Chinesen keine universelle Methode, miteinander zu kommunizieren. Die E-Mail-Verbreitung war eher gering, SMS- und Sprachpakete relativ teuer, unerwünschte SMS-Werbenachrichten zudem ein allgemeines Problem. Die Instant-Messaging-Plattform QQ von Tencent war populär, aber sie war noch für das Web entwickelt worden – in einer Zeit, als sich Smartphones durchzusetzen begannen.

Mittlerweile hat sich das Internet mobilisiert. Ende 2015 war mehr als die Hälfte der chinesischen Bevölkerung online und 90 Prozent bedienen das Web auf dem Handy. Als WeChat um 2013 herum versuchte, in Amerika zu landen, hatten die Menschen bereits Facebook, WhatsApp und iMessage – E-Mail sowieso. Die Auswahl an Kommunikationsmitteln war groß. "Es gab ein geringeres Bedürfnis dafür, eine einheitliche Plattform für alle zu haben."

Heute lässt sich WeChat in China wohl am besten als Bezahldienst mit angehängter Messaging-Funktion beschreiben. Schon im vergangenen Jahr wurden in China 5,5 Billionen Dollar mobil beglichen – der Markt ist 50 Mal so groß wie in den USA. Im ersten Quartal 2017 soll WeChat Pay 40 Prozent aller mobilen Zahlungen in China ausgemacht haben. Nachdem man dem Dienst seine Bankdaten mitgeteilt hat, kann man mittels QR-Code für fast alles zahlen. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil fast jeder WeChat-Nutzer von der Einzelperson bis zum Großhändler den Dienst verwendet und anbietet.

WeChat Pay ist mittlerweile auch in Amerika verfügbar, doch nicht für den durchschnittlichen Konsumenten. Zwar lassen sich dort weChat-Accounts erstellen, doch lassen sich diese nicht mit dem Bankkonto verbinden. Genauso fehlt die Funktion als digitale Geldbörse. Immerhin: Amerikanische Verkäufer, die sich als WeChat-Händler registrieren, können nun Zahlungen von chinesischen Touristen oder Studenten annehmen.

Die Firma Citcon mit Sitz im Silicon Valley bietet dazu eine passende Hardware, eine kostenlose Softwareschnittstelle (API) sowie Kundendienst für US-Firmen an, die WeChat- oder Alipay-Zahlungen entgegen nehmen wollen. (Alipay ist neben weChat Pay beliebtestes mobiles Zahlungsmittel in China.) Ein chinesischer WeChat-Nutzer muss dann nur noch sein Handy hervorholen und den QR-Code des Händlers scannen, um zu bezahlen.

Diese langsame Expansion von WeChat Pay kann für Tencent dennoch lukrativ sein: Chinesische Nutzer müssen die Plattform nicht verlassen und die Umsätze im Touristengeschäft sind ja nicht klein. So gaben chinesische Reisende laut der Welttourismusorganisation im vergangenen Jahr mehr als 260 Milliarden Dollar aus – und im Westen gibt es Tausende chinesischer Schüler und Studenten, ausgestattet mit auskömmlichem Taschengeld. Citcon arbeitet laut eigenen Angaben bereits mit rund 300 Händlern zusammen, darunter Hotels, Flughäfen, Museen, Restaurants und Freizeitparks.

Erst im August startete die Casinokette Caesars Entertainment ein digitales Bezahlprogramm mit WeChat in Las Vegas. Seither können chinesische Besucher, WeChat Pay in Restaurants, Läden und Theaterkassen verwenden. Claire Yang, Direktorin für das internationale Marketing bei Caesars, meint, chinesische Kunden machten mittlerweile einen großen Teil des Geschäftes aus und die fehlende Möglichkeit, WeChat Pay zu akzeptieren, habe zu Verkaufsverlusten geführt. Nachdem Start des Dienstes bei dem Casinobetreiber hätten sich Kunden erfreut gezeigt, dass sie nun ihre bevorzugte Bezahlform nutzen können. Besonders populär sei der Bezahldienst zum Debüt im Buffetrestaurant Bacchanal in Las Vegas gewesen. "Leute nahmen an der Kasse ihre Handys raus und zeigten QR-Codes und sagten, ich will mit WeChat Pay bezahlen. Das fühlt sich ja fast wie in China an."

Wei Jiang, Präsident von Citcon, sagt, WeChat Pay sei auch für die Händler gut. Die Kunden müssten weder Karten in Terminals einschieben noch durchziehen, PINs werden nicht benötigt. "Es ist 50 Prozent schneller als eine Kreditkarte." Eine andere Firma, der auf Firmen spezialisierte Bezahldienstleister Stripe, hat bereits eine Zusammenarbeit mit Alipay und WeChat Pay angekündigt.

Wenn das mobile Bezahlen also so einfach ist, warum haben sich diese Systeme im Westen noch nicht durchgesetzt? Kreditkarten dürften ein wichtiger Grund sein. Wei, der selbst sieben Jahre bei Visa gearbeitet hat, betont, dass Produkte wie WeChat anfangs für China entwickelt worden seien, wo die Kreditkartendurchdringung noch relativ gering ist. In China konnte WeChat somit die Kreditkartenevolution quasi überspringen und direkt zu mobilen Zahlungen übergehen- Nun hilft der Dienst dabei, große Teile des urbanen China zu einer bargeldlosen Gesellschaft zu transformieren.

Entsprechend kann man auch noch nicht sagen, ob WeChat wirklich im Westen gescheitert ist. Selbst wenn die Amerikaner und Europäer weChat nicht auf dem Handy haben, könnte das Produkt Einfluss entwickeln. Genauso wie die Handelsplattform Alibaba versucht, westliche Firmen davon zu überzeugen, ihre Produkte in China zu verkaufen, könnte WeChat die hiesigen Konzerne mit dem gigantischen chinesischen Endkundenmarkt anlocken. Und WeChat beeinflusst US-Produkte auch auf andere Arten: Snapchat setzt mittlerweile beispielsweise verstärkt auf QR-Codes – inspiriert durch die Nutzung in China.

Die chinesischen Internetriesen haben aber deutlich größere Ambitionen. Risikokapitalgeberin Chan glaubt, dass Alibaba oder Tencent mit Facebook, Google oder Amazon verglichen werden wollen. "Sie möchten in der gleichen Unterhaltung vorkommen." Vom Börsenwert her stimmt das schon: Alibaba und Tencent sind jeweils bald 400 Milliarden Dollar schwer. "Aus dieser Perspektive haben sie das Kapital, in den Westen zu gehen und interessante Dinge zu übernehmen, in Firmen zu investieren oder weitere Experimente zu wagen."

Manchmal muss ein chinesisches Unternehmen aber auch gar nicht allzuviel Kapital mitbringen, um im Westen Eindruck zu machen. Es reicht schon, sich auf Amerika und Europa verstärkt zu konzentrieren. Eines der erfolgreichsten Beispiele hierfür ist die chinesische App Musical.ly, eine soziale Musik-App. Als das Team der Firma in China sah, wie viele US-Nutzer die App herunterladen, beschloss es, den Fokus auf diesen Markt zu legen. Die Hit-App hat mittlerweile Millionen von Nutzern weltweit. Und so werden viele junge Schülerinnen und Schüler in den USA oder Europa nicht wissen, dass die App, in die sie da hineinsingen, eigentlich aus Shanghai kommt.

Die Herausforderung für WeChat bleibt, dass die Plattform spezifisch für chinesische Bedürfnisse entwickelt wurde. Und genau hier könnte Betreiber Tencent von den Misserfolgen der US-Firmen in China lernen: Passe Deinen Dienst stets an die Zielgruppe an.

(bsc [6])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3810016

Links in diesem Artikel:
[1] https://shop.heise.de/katalog/technology-review-9-2017
[2] https://www.heise.de/hintergrund/01-3797692.html
[3] https://www.heise.de/hintergrund/01-3797695.html
[4] https://www.heise.de/hintergrund/01-3797697.html
[5] https://a16z.com/2015/08/06/wechat-china-mobile-first/
[6] mailto:bsc@heise.de