Karte zeigt eine halbe Milliarde Nervenverbindungen in einem Mäusegehirn

Unsere Gehirne unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen der Nager. Ein umfangreicher neuer Datensatz gibt einen genaueren Einblick.

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(Bild: Allen Institute)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Tatyana Woodall

Neurowissenschaftler haben die bislang detaillierteste dreidimensionale Karte eines Säugetiergehirns veröffentlicht, die je erstellt wurde. Sie stammt von einem Tier, dessen Gehirnaufbau dem unseren sehr ähnlich ist – der Maus. Die Karte und der zugrundeliegende Datensatz, die nun der Öffentlichkeit frei zugänglich sind, zeigen mehr als 200.000 Neuronen und eine halbe Milliarde neuronaler Verbindungen in einem würfelförmigen Ausschnitt des Mäusegehirns, der nicht größer als ein Sandkorn ist.

Die Forschungsarbeit ist Teil des MICrONS-Programms (Machine Intelligence from Cortical Networks), das die nächste Generation von Algorithmen für das maschinelle Lernen verbessern will, indem es die Großhirnrinde – also den Teil des Gehirns, der bei Säugetieren für höhere Funktionen wie Planung und Schlussfolgerungen zuständig ist – einem Reverse-Engineering unterzieht. Ein Konsortium von Forschern unter der Leitung von Gruppen am Allen Institute, am Baylor College of Medicine und an der Princeton University sammelte die Daten dazu.

"Manche Forscher vermuten, dass die grundlegenden Geheimnisse der menschlichen Intelligenz vielleicht in der Untersuchung des Kortex liegen", sagt H. Sebastian Seung, Professor für Informatik und Neurowissenschaften in Princeton und leitender Wissenschaftler von MICrONS. "Deshalb ist es ein so geheimnisvolles, gar glamouröses Thema in den Neurowissenschaften." Wenn die Wissenschaftler mehr über diesen Bereich des Gehirns lernen, könnten ihre Entdeckungen zu einer menschenähnlicheren KI führen.

Die Erstellung der Karte war ein fünfjähriges Projekt in drei Phasen. In der ersten Phase wurde gemessen, was das Gehirn der Maus tat, als das Tier noch lebte. So entstanden mehr als 70.000 Aufnahmen von aktiven Gehirnzellen, während die Maus visuelle Informationen verarbeitete. Dann schnitten die MICrONS-Forscher ein kleines Stück des Gehirns heraus und zerlegten es in mehr als 25.000 hauchdünne Stücke. Anschließend nahmen sie mit Hilfe der Elektronenmikroskopie mehr als 150 Millionen hochauflösende Bilder von diesen Stücken auf.

Frühere "Schaltpläne", wie die Bilder genannt werden, haben "Konnektome" für die Gehirne von Fruchtfliegen und Menschen kartiert. Ein Grund, warum MICrONS so gut aufgenommen wurde, ist, dass der Datensatz das Potenzial hat, das Verständnis der Wissenschaftler für das Gehirn deutlich zu verbessern und ihnen möglicherweise bei der Behandlung von Hirnerkrankungen zu helfen.

Venkatesh Murthy, Professor für Molekular- und Zellbiologie an der Harvard University, der sich mit der neuronalen Aktivität von Mäusen befasst, aber nicht an der Studie beteiligt war, sagt, dass das Projekt ihm und anderen Wissenschaftlern einen Einblick in die "Interaktion einzelner Neuronen aus der Vogelperspektive" gibt, indem es ihnen ein äußerst hochauflösendes "Standbild" bietet, in das sie hineinzoomen können. R. Clay Reid, leitender Forscher am Allen Institute und ein weiterer federführender Wissenschaftler des MICrONS-Projekts, sagt, dass er vor Abschluss der Forschungsarbeiten des Programms eine Rekonstruktion auf diesem Niveau für nicht möglich gehalten hätte.

Reid sagt, dass mit Hilfe des maschinellen Lernens die Umwandlung von zweidimensionalen "Schaltplänen" des Gehirns in dreidimensionale Modelle exponentiell besser geworden ist. "Es ist eine spaßige Kombination aus einem sehr alten Gebiet und einem neuen Ansatz", sagt er. Reid verglich die neuen Bilder mit den ersten Kartierungen des menschlichen Genoms, da sie grundlegendes Wissen für andere liefern. Er stellt sich vor, dass sie anderen Forschern helfen, Strukturen und Beziehungen im Gehirn zu erkennen, die zuvor unsichtbar waren. "Ich betrachte dies in vielerlei Hinsicht als den Anfang", sagt Reid. "Diese Daten und die KI-gestützten Rekonstruktionen können von jedem, der über einen Internetanschluss und einen Computer verfügt, genutzt werden." So ließe sich eine außergewöhnliche Bandbreite von Fragen zum Gehirn zu stellen – und hoffentlich auch beantworten. (bsc)