Kleine blaue Monster

Ein Start-up will 3D-Bilder in die reale Welt integrieren. Eine halbe Milliarde Dollar soll der Plan kosten. Wie wäre es, mit Monstern zusammenzuleben?

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Rachel Metz

Ein Start-up will 3D-Bilder in die reale Welt integrieren. Eine halbe Milliarde Dollar soll der Plan kosten. Wie wäre es, mit Monstern zusammenzuleben?

Eigentlich weiß ich, dass kein vierarmiges blaues Monster mit verdrehten Hörnern im Raum ist und vor mir herumstapft. Aber es sieht verdammt danach aus. Ich sitze hinter einer Werkbank beim Start-up Magic Leap in Dania Beach im US-Bundesstaat Florida. Mit großen Augen starre ich durch ein Paar Linsen, befestigt an einer Art Metallgestell über meinem Kopf, in dem sich weitere Linsen und reichlich Elektronik befinden. Es handelt sich um einen frühen Prototyp der Technologie, die das Unternehmen als "Cinematic Reality" bezeichnet. Sie sorgt dafür, dass ich den Eindruck habe, die muskulöse Bestie mit dem unfreundlichen Gesichtsausdruck und zwei Paaren schwingender Arme schwebe etwa zwei Meter vor meinem Gesicht.

Mit einem an die Demo-Anlage angeschlossenen Videospiel-Controller in der Hand kann ich das Monster per Knopfdruck kleiner oder größer machen, es nach links, rechts oder weiter weg bewegen. Natürlich hole ich es so nah wie möglich heran. Ich möchte sehen, wie realistisch es aus der Nähe wirkt. Ich habe Handtaschengröße eingestellt. In etwa 70 Zentimetern Entfernung sieht die Figur so echt aus, wie ein Monster nur aussehen kann. Ich sehe raue Haut, muskulöse Extremitäten und tief liegende perlenartige Augen. Ich strecke meine Hand aus, um der Kreatur eine Unterlage zum Gehen anzubieten, und ich schwöre, kurz darauf ein Kitzeln auf meiner Handfläche zu spüren. Einen Sekundenbruchteil später erinnert sich mein Hirn wieder daran, dass ich vor mir nur ein beeindruckend überzeugendes 3D-Bild sehe, und ich muss grinsen.

Die bisherigen Technologien für virtuelle und erweiterte Realität in Filmen, Smartphone-Apps und Elektronikgeräten haben ihre großen Versprechen nicht erfüllt und enttäuschen vor allem durch schlechte Bildqualität. Der Grund dafür ist, dass sie fast immer auf stereoskopischem 3D beruhen – eine Methode, bei der das menschliche Sehen ausgetrickst wird. Dabei entsteht der Eindruck von Tiefe jedoch, indem jedem Auge ein eigenes Bild des Objekts aus einem anderen Winkel vorgespielt wird. Das kann zu Kopfschmerzen oder Übelkeit führen, weil die Betrachter gezwungen sind, auf einen zweidimensionalen Bildschirm in etwas Entfernung zu blicken und gleichzeitig Bilder zu verfolgen, die sich vor ihnen zu bewegen scheinen. Natürlich ist auch 3D-Stereoskopie zuletzt besser geworden. Das am weitesten entwickelte System, das man heute kaufen kann, kommt von Oculus VR. Vergangenes Frühjahr hat Facebook das Unternehmen für zwei Milliarden Dollar übernommen. Oculus will den Nutzern mit seiner Technologie Spiel und Spaß in einer virtuellen Welt bieten.

Magic Leap dagegen will den umgekehrten Weg gehen: dreidimensionales Spiel und Spaß in die reale Welt bringen. Damit auf einem Schreibtisch neben echten Stiften Fantasie-Monster erscheinen, brauchte das Unternehmen eine Alternative zu stereoskopischem 3D – etwas, das nicht dem widerspricht, wie Menschen normalerweise sehen.

Wie gelingt der Firma das? Gründer und CEO Rony Abovitz sitzt am Schreibtisch in seinem Büro ganz in der Nähe des Flughafens Fort Lauderdale-Hollywood. Die Regale sind voller Spielzeug und ViewMasters – alte Plastikgeräte, mit denen man spezielle Bilder in 3D ansehen kann. Auch Strahlenkanonen und Zauberstäbe liegen herum. Abovitz, 44 Jahre alt, ist ein Bär von einem Mann mit einem freundlichen Lächeln. Bei unserem Treffen trägt er schwarze Nike-Turnschuhe, ein Hemd mit langen Ärmeln und Stoffhosen, eine Kippa auf seinem grau werdenden lockigen Haar. Er wirkt nachdenklich und gelassen.

Vor etwa vier Jahren begann er sich mit Hologrammen zu beschäftigen, zusammen mit John Graham Macnamara, einem Freund aus Highschool-Zeiten, der sein Studium der theoretischen Physik am California Institute of Technology abgebrochen hatte. Die beiden begeisterten sich für die Idee, bewegliche Hologramme wie in "Star Wars" zu erzeugen – also 3D-Bilder, die sich aus unterschiedlichen Winkeln betrachten lassen. Sie entstehen durch die exakte Nachbildung von Lichtfeldern, also jenen Mustern, die sich bilden, wenn Licht von einem Objekt reflektiert wird.

Allerdings stellte Abovitz bald fest, dass es sehr teuer und zeitaufwendig werden würde, holografische Bilder auch nur mit geringer Auflösung zu erzeugen. Wie die Lösung genau aussieht, die das Team bei Magic Leap gefunden hat, ist aus Angst vor der Konkurrenz noch weitgehend geheim. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass ein winziger Projektor Licht auf eine transparente Linse wirft, die es dann weiter auf die Retina leitet. Dieses Licht vereint sich so gut mit dem Umgebungslicht, dass der visuelle Kortex künstlich eingefügte Objekte kaum noch von echten unterscheiden kann.

Während ich knackig scharfe Bilder von Monstern, Robotern und Leichenköpfen sehe, kann ich mir vorstellen, eines Tages einen Videochat mit weit entfernten Familienmitgliedern zu führen, die in meinem Wohnzimmer zu sitzen scheinen. Ich wiederum wäre virtuell bei ihnen zu Hause. Oder ich könnte einen Film sehen, bei dem die Figuren direkt vor mir erscheinen. Noch aber weiß niemand so richtig, was die vielversprechendsten Einsatzgebiete für Magic Leap sein werden. Wenn es aber gelingt, die Technologie klein, bequem und benutzerfreundlich zu machen, werden spannende Anwendungen gewiss nicht lange auf sich warten lassen.

Das sieht man bei Google offenbar genauso. Der Suchmaschinenriese ist im vergangenen Oktober mit 542 Millionen Dollar bei Magic Leap eingestiegen. Seitdem "haben wir uns von ,Will das überhaupt irgendjemand wissen' zu ,Okay, die Leute wollen es wissen' weiterentwickelt", sagt Abovitz. Jetzt steigen die Erwartungen an das Team. Das Start-up schweigt sich dazu aus, wann das eigene Produkt herauskommt oder was es kosten soll. Abovitz will auch auf eindringliches Nachfragen nichts verraten. Er lächelt nur und sagt, "Es dauert nicht mehr lange." Preislich soll es sich im Bereich heutiger Mobilgeräte für Verbraucher bewegen.

Seit dem Bau des ersten Prototyps im Jahr 2011 hat das Unternehmen seine Technologie immer weiter miniaturisiert. Ich konnte auch schon einen Blick auf einen Design-Prototyp werfen – ein realistisch aussehendes Stück Hardware ohne Funktion. Danach zu urteilen will das Unternehmen seine Technologie in Form einer etwas klobigen Sonnenbrille anbieten, verbunden mit einem quadratischen Kästchen, das in die Tasche gesteckt wird. Ein ähnliches Bild in einer Patentanmeldung von Magic Leap aus diesem Januar spricht ebenfalls dafür. Auch darüber will Abovitz nichts Genaues sagen. Er bestätigt nur, dass ein brillenähnliches tragbares Gerät geplant ist. Aber schon für diese Aussage muss ich ihn lange löchern.

Klar ist, dass es sehr schwierig werden wird, die Technologie derart stark zu verkleinern. Die kleinste Demo-Hardware, die ich bei Magic Leap gesehen habe, bietet noch kein so beeindruckendes Erlebnis wie die größeren Versionen. Sie besteht aus einem Projektor, der kleiner ist als ein Reiskorn und in einen schwarzen Draht eingebaut ist. Er leitet das Licht zu einer einzelnen durchsichtigen Linse. Bei einem Blick durch diese Linse sehe ich eine grobe grüne Version desselben vierarmigen Monsters, das vorher auf meiner Handfläche herumzuhüpfen schien. Bei den kleineren Versionen muss Magic Leap nicht nur die Auflösung noch erhöhen, sondern auch Sensoren unterbringen, die Augen und Fingerbewegungen registrieren. Die virtuellen Kreaturen müssen zudem bei ihren Bewegungen auch Objekte in der realen Welt erkennen und mit einbeziehen. Nur dann könnte man mit ihnen richtig interagieren.

Um die Probleme zu lösen, stellt Magic Leap derzeit reihenweise neue Mitarbeiter ein. Das Unternehmen sucht nach Softwareentwicklern für sämtliche relevanten Disziplinen von Augen-Tracking und Iriserkennung bis zu künstlicher Intelligenz. Darüber hinaus braucht Magic Leap Optik-Experten, Spieleentwickler und andere Mitarbeiter, die sich interessante virtuelle Objekte ausdenken. Passend dazu hat Magic Leap den Science-Fiction-Autor Neal Stephenson als Chef-Futuristen verpflichtet, dessen Roman "Snow Crash" aus dem Jahr 1992 eine virtuelle Welt namens Metaverse beschreibt. "Den Elfjährigen in uns, den wollen wir aus den Socken hauen", sagt Abovitz. (bsc)