Kommentar: Eine Notfall-Zulassung der FDA fĂĽr Covid-Impfstoffe ist ein Fehler
Die US-Öffentlichkeit hat wenig Vertrauen in Impfungen. Deshalb sollte die zuständige Behörde beim neuartigen Coronavirus vorsichtig vorgehen.
- Clint Hermes
Ich hätte wirklich gern einen Impfstoff gegen Covid-19. Wie viele andere Amerikaner habe ich Familienmitglieder und Nachbarn, die am neuartigen Coronavirus erkrankt und daran gestorben sind. Meine Schwester arbeitet als Krankenschwester in einer Covid-Station, und ich möchte, dass sie dabei sicher ist. Als Rechtsanwalt im Gesundheitsbereich habe ich volles Vertrauen in die Spitzen-Wissenschaftler bei der US-Gesundheitsbehörde FDA, die letztlich darüber entscheiden werden, ob sie für einen Impfstoff eine Notfall-Zulassung erteilen werden. Trotzdem mache ich mir größte Sorgen darüber, was dann passieren könnte.
Clint Hermes hat verschiedene Universitäten, Lehrkrankenhäuser und Life-Science-Unternehmen zu globalen Gesundheitsproblemen beraten. Unter anderem war er an der Einrichtung von Impf-, Therapie- und Kontrollprojekten gegen Infektionskrankheiten in Nord- und Südamerika, Afrika, Asien und Nahost beteiligt. Die in diesem Artikel ausgedrückten Ansichten sind seine persönlichen und nicht die irgendeiner Organisation, zu der er gehört, einschließlich seines Arbeitgebers. Die Informationen sind nicht als rechtliche Beratung zu verstehen.
Das Tempo der Impfstoff-Forschung gegen Covid-19 ist beeindruckend: Inzwischen gibt es mehr als 200 Kandidaten in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung, bei mehreren davon laufen schon klinische Studien der Phase 3 – nur Monate, nachdem das Virus eine weltweite Krise auslöste. Damit die FDA eine Impfung zulässt, müssen aber nicht nur die Studien zu Ende geführt werden – üblicherweise mit zehntausenden Teilnehmern und über mindestens sechs Monate. Die Behörde muss auch Produktionsanlagen inspizieren, detaillierte Pläne für die Herstellung und Daten zur Stabilität überprüfen und massenhaft Studiendaten analysieren. Dieser Prozess kann leicht ein Jahr oder länger dauern.
Aus diesem Grund denkt die FDA seit mehreren Monaten über Kriterien dafür nach, einen Impfstoff zunächst mit einer Notfall-Zulassung einsetzbar zu machen, bis alle Informationen für eine reguläre Freigabe vorliegen. Einige der Hersteller mit Kandidaten in Phase-3-Studien haben schon öffentlich ihre Absicht erklärt, eine solche Zulassung zu beantragen. Nach den bemerkenswerten vorläufigen Ergebnissen zu seinem Impfstoff will Pfizer sie noch im November angehen.
Gefahr der Ausbremsung der Wissenschaft
Über diesen Weg kann die FDA in öffentlichen Notsituationen noch nicht zugelassene Produkte verfügbar machen. Bislang gab es einige solcher Fälle bei Diagnosen oder Therapien zu anderen Infektionskrankheiten wie H1N1 oder Zika-Virus; doch Impfstoffe waren noch nie darunter. Sie unterscheiden sich insofern von anderen medizinischen Wirkstoffen, als sie breit und bei gesunden Menschen eingesetzt werden. Also sind die Hürden für eine Zulassung hoch.
Das Vaccines and Related Biological Products Advisory Committee der FDA, eine Berater-Gruppe aus externen Experten, ist am 22. Oktober zum ersten Mal für Diskussionen über Corona-Impfungen zusammengekommen. Einige seiner Mitglieder stellten in Frage, ob die Behörde die Anforderungen für eine Notfall-Zulassung streng genug formuliert hat. Auch gab es allgemein erhebliche Bedenken gegen ein solches Vorgehen bei einem Impfstoff.
Unter anderem wird befürchtet, dass es – aus ethischen und praktischen Gründen – schwierig werden könnte, klinische Studien mit dem Impfstoff zu Ende zu bringen (um detailliertere Daten zu sammeln). Ebenso könnte dadurch die Fähigkeit von Wissenschaftlern beeinträchtigt werden, andere Kandidaten zu erforschen, die in unterschiedlicher Hinsicht besser geeignet sein könnten, aber nicht so schnell einsatzbereit waren.
"Der wichtigste Punkt aber ist in meinen Augen das Vertrauen der Ă–ffentlichkeit"
Impfstoffe allein bieten noch keinen Schutz, warnen Gesundheitsexperten – dafür braucht es auch Impfungen. Wenn die Öffentlichkeit einem Impfstoff nicht vertraut, wird er selbst dann nur begrenzt zur Kontrolle der Pandemie beitragen, wenn er hochgradig wirksam ist.
Doch Daten des Pew Research Center zeigen abnehmendes Vertrauen in einen Covid-19-Impfstoff über alle Geschlechter, Ethnien, Altersgruppen und Bildungsniveaus hinweg. Ebenso wurden dem Berater-Gremium Informationen von der Reagan-Udall Foundation vorgelegt, die für erhebliches Misstrauen mit Blick auf das Tempo der Impfstoff-Entwicklung sprechen. Durch die jüngste politische Einflussnahme auf die FDA und die US Centers for Disease Control and Prevention sowie die Behauptungen mancher Politiker, vor Ende des Jahres werde eine Impfung verfügbar sein, dürfte es noch verstärkt worden sein. Angehörige ethnischer Minderheiten haben zusätzliche Bedenken bezüglich der Forschung daran vorgebracht.
Nach den schriftlichen und mündlichen Beiträgen für die FDA-Berater sind sich große Hersteller der möglichen Probleme für spätere klinische Studien bewusst. Diese sind zwar schwierig zu lösen, aber ich vermute, dass das zusammen mit der Behörde möglich wäre. Doch das ändert nichts am öffentlichen Misstrauen gegenüber Notfall-Zulassungen – zumal die meisten Bürger davon zum ersten Mal in Zusammenhang mit dem Hydroxychloroquin-Debakel und später der Kontroverse um Rekonvaleszenten-Plasma gehört haben.
Experimentelle Therapie ohne Alternative?
Tatsächlich ist es so: Wenn die Studien-Daten gut genug sind, um den frühzeitigen Einsatz eines Covid-Impfstoffs bei manchen Personen zu erlauben, sollte die FDA dafür einen Mechanismus namens „expanded access“ nutzen. Normalerweise setzt sie ihn ein, um für Patienten ohne Alternativen experimentelle Therapien verfügbar zu machen. Aber er wurde auch schon für Impfstoffe genutzt, und auch jetzt wäre das möglich, um keine laufenden Studien zu stören und nicht die öffentliche Befürchtung zu nähren, ein Impfstoff werde wegen eines „Notfalls“ übereilt zugelassen. Zudem gibt es bei solchen Programmen eine Aufsicht durch Ethikräte, und Patienten müssen Zustimmungserklärungen abgeben, die weiter gehen als bei Notfall-Zulassungen.
Und die Öffentlichkeit muss nicht nur genügend Vertrauen haben, um sie für die erste Welle von zugelassenen Impfstoffen zu gewinnen: Dieses Vertrauen muss auch stabil genug sein, um möglichen Rückschlägen standzuhalten – eine Schutzquote unter 100 Prozent (und vielleicht unter 50 Prozent), schwere Nebenwirkungen (oder Gerüchte darüber) und mögliche Rückrufe. Bis so viel Vertrauen wieder aufgebaut ist, wenn es erst einmal zerstört wurde, vergeht einige Zeit. Und auf dem Spiel steht dabei nicht nur die Verlangsamung der Pandemie.
Der frühere hohe Gesundheitsbeamte Andy Slavitt hat es vor kurzem so formuliert: „Wenn man es richtig macht, werden Pandemien durch Impfstoffe beendet. Aber wenn man falsch vorgeht, sind Pandemien das Ende von Impfstoffen.“ (sma)