Kulturerbe aus Kunststoff zerfällt in den Museen

Kunststoffe sind längst nicht so langlebig wir ihr Ruf. In Museen kämpfen Kuratorinnen und Restauratoren jetzt um unsere jüngere Geschichte aus Plastik.

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Der Raumanzug Sokol-KV-2 war 1992 auf der russischen Raumstation Mir. Jetzt beginnt er sich zu zersetzen. Eine Restauratorin nimmt eine Materialprobe, um dem Problem auf den Grund zu gehen.

(Bild: Christian Illing / Deutsches Museum)

Lesezeit: 4 Min.

Plastik im Museum ist weit mehr als unser technisches Erbe in Form von Filmen, Brillengestellen, Computern, Raumanzügen oder Radios. Pop-Art-Künstler wie Andy Warhol oder Roy Lichtenstein haben ihre Werke in Acryl gemalt – Suspensionen aus polymerisierten Acrylsäure-Estern. Und die in Deutschland besonders für ihre "Nanas" berühmt gewordene Niki de Saint Phalle hat bei ihren Skulpturen ganz auf Plastik gesetzt. Duane Henson hat seine realistischen Menschenskulpturen ebenfalls vollständig aus Glasfaser und Polyesterharz geformt und mit Accessoires wie Dralonröcken, Nylonstrümpfen, Lockenwicklern aus Polystyrol und Handtaschen aus PVC ausgestattet.

Künstlerinnen und Künstler machen sich dabei nicht zwangsläufig Gedanken um die langfristigen Folgen für ihre Kunstwerke, sondern schöpfen kreativ die Möglichkeiten des Kunststoffs aus. Und nun haben Museen auf der ganzen Welt die gleichen Probleme: Die Kunstwerke zersetzen sich – ob im Deutschen Museum in München, in der Tate Gallery in London oder dem Museum of Modern Art in New York.

Das Problem der Restauratorinnen und Restauratoren: Es gibt unzählige Polymervarianten in noch mehr Verarbeitungsformen. Weichmacher, Additive, Farbstoffe geben dem Material seine individuellen Eigenschaften. Die Anforderungen an einen Raumfahrtanzug, eine Kunst-Skulptur oder einen Alltagsgegenstand sind sehr unterschiedlich. Zwar hat jede Kunststoffgruppe ihren speziellen Feind, die allgegenwärtigen Gegner des Plastiks wirken aber immer mit: UV-Strahlung, Wärme, Sauerstoff und Feuchtigkeit. Von allem gibt es im Museum reichlich.

Hinzu kommt, dass Museen sich meist erst nach 30 bis 50 Jahren wirklich für die Gegenstände interessieren. Soll ein Objekt in eine Dauerausstellung übernommen werden, bleibt es etwa 20 bis 30 Jahre für das Publikum sichtbar. In diesen Dimensionen hat kein Entwickler von Kunststoffen je gedacht. Und vor allem weiß nach diesen Zeiträumen niemand mehr, welche Kunststoffe für die Exponate verwendet wurden.

Fünf Kunststoffarten bereiten den Museen besondere Schwierigkeiten: Zelluloid, Perlmuttersatz, Polyurethan, Gummi und PVC. Die richtige Diagnose ist der Kern der Restaurierungs- und Bewahrungsarbeit im Museum. Nur nach der richtigen Diagnose kann die passende Behandlung gewählt werden. Und die ist sehr individuell. Mal rettet Sauerstoffentzug die Gummiente, mal hilft sanftes Erwärmen von Plexiglas. Aber immer ist es riskant, industrielle Techniken auf Kulturgut anzuwenden: Es gibt nur einen Versuch und die Chance auf Erfolg ist gering.

Ein problematischer Museums-Dauerbrenner ist beispielsweise der von Verner Panton in den 60er Jahren entworfene Schwingstuhl aus Kunststoff. Die ersten Stühle wurden aus Acrylnitril-Styrol-Acrylester, ASA, gefertigt. Das Material ist hart, schlag- und kratzfest, außerdem äußerst witterungsbeständig. Was man damals nicht wusste, war, dass dieser Kunststoff bei Belastung ermüdet und schließlich bricht. Es gibt allerdings bis zu 300 ASA Sorten und für eine Restaurierung muss man zunächst wissen, aus welchem ASA genau der zu restaurierende Stuhl gefertigt ist. Und hat er in den heißen, sonnigen, feuchten Tropen gestanden oder im kalten, trockenen, dunklen Grönland? Je nach Lebensbedingungen verflüchtigen sich Additive und Weichmacher, degradiert das Polymernetzwerk.

Und einfach zusammenkleben ist in der Welt der Museen nicht möglich: Die Teile müssen so zusammengefügt werden, dass sie unter Last an derselben Stelle brechen würden und nicht etwa daneben, weil die neue Verbindung stärker ist als das gealterte Material. Dann würde dem Stuhl ein weiterer Schaden zugefügt, statt ihn für die Nachwelt so gut wie möglich zu erhalten.

Mehr über die Geheimnisse alter Kunststoffe, wie Restauratorinnen und Restauratoren versuchen, unser Plastikkulturerbe zu erhalten – und was moderne, abbaubare Kunststoffe für unsere Museen bedeuten – erfahren Sie in der aktuellen Ausgabe 6/2021 von MIT Technology Review (im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich).

(jsc)