Lebt da was?

Mit den Fortschritten bei Robotik und Biotechnologie stellt sich eine uralte Frage neu: Was ist Leben? Die Antwort ist entscheidend für die Suche nach Lebensspuren im All.

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Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Birgit Herden
Inhaltsverzeichnis

Kein Leben. Nur wüste Leere, zerfurchter grauer Fels unter einem strahlend blauen Erdenhimmel. Jean-Pierre de Vera steht in einem namenlosen Tal nahe dem Südpol, dick verpackt im Polaranzug, um ihn herum grenzenlose Weite. Viele Wochen hat der Biologe gebraucht, um hierher zu gelangen, hat sich mit den Kollegen durch Treibeis und Schneestürme gekämpft. Bei in diesem Teil der Welt sommerlichen 15 Grad unter null wandert er nun durch eine Landschaft aus erodiertem Tiefengestein, die Geologen als "Mars-Analog" bezeichnen.

Und es scheint, als hätte hier am Ende der Welt das irdische Leben kapituliert. Erst als der Helikopter den Biologen ein zweites Mal in der eisigen Wüste absetzt, gelingt ihm die ersehnte Entdeckung: ein winziger gelber Fleck, mit dem bloßen Auge kaum auszumachen. Dann noch ein Fleck, und dann ein grünen Schleier. "Als mein Auge erst einmal geschult war, konnte ich plötzlich überall Flechten und Bakterien nachweisen", erzählt de Vera, inzwischen von der Ganovex-11-Expedition zurückgekehrt.

Bei der der elften von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) geleiteten "German Antarctic North Victoria Land Expedition" hat der Forscher trainiert, was später einmal Roboter auf dem Mars leisten sollen – inmitten einer scheinbar unbelebten Wüste die kleinsten Spuren des Lebendigen zu finden und sie zweifelsfrei von all den anderen Sprenkeln und Gesteinsanomalien zu unterscheiden. Denn seine Arbeit ist ein kleiner Teil eines gewaltigen Unternehmens, das dank immer komplexerer Technologien zunehmend Fahrt aufnimmt und neue Antworten auf uralte Fragen geben will: Was ist das eigentlich – Leben? Und wenn wirklich außerhalb der Erde außerirdisches Leben existiert, werden wir es überhaupt erkennen?

Die meisten Menschen werden diese Frage für längst beantwortet halten. Bittet man jedoch Jean-Pierre de Vera um eine Definition des Lebens, antwortet er mit entwaffnender Offenheit: "Es gibt keine."

Gerade neuere Fortschritte bei Robotik und Biotechnologie zeigen, wie wenig landläufige Überzeugungen noch zählen. Sucht man in Lehrbüchern, stößt man für gewöhnlich auf eine Aufzählung von Eigenschaften: Da ist zum einen der Stoffwechsel – die wundersame Verwandlung von einem Sandwich in Muskelkraft. Doch längst existieren Roboter, sogenannte "Ecobots", die als Treibstoff tote Fliegen oder vergammeltes Obst konsumieren können, ohne dass jemand sie als lebendig bezeichnen würde. Da ist zum anderen ein Energiestoffwechsel – doch ein weites Feld von Energy-Harvesting-Technologien wandelt inzwischen Sonnenstrahlen, Temperaturunterschiede oder Vibrationen in Elektrizität um. Leben, so heißt es weiter in der Liste, reagiert auf Reize in der Umwelt. Doch selbst manche tumbe Waschmaschine erkennt inzwischen den Verschmutzungsgrad der Wäsche und passt ihr Programm entsprechend an.

Als einzigartig gilt auch die Eigenschaft, sich selbst zu replizieren und dabei eine darwinsche Evolution zu durchlaufen. Zweifel an diesem Kriterium können einen im Labor der Cornell University beschleichen, das eine Reihe höchst seltsamer Kreaturen beherbergt. Ihr Schöpfer ist Hod Lipson, und ihre Geschichte begann mit einer Simulation, die der Ingenieur 1998 als junger Postdoc entwickelte. "Wir suchten nach neuen Wegen, Roboter zu erschaffen. Anstatt uns hinzusetzen und sie am Schreibtisch zu entwerfen, wollten wir sie schlicht züchten", erzählt Lipson. "Wir haben alle möglichen Komponenten in einen großen Behälter gesteckt, in dem sie willkürliche Verbindungen untereinander eingehen konnten. Auf das Ganze ließen wir dann eine darwinistische Selektion wirken. Das Ziel war, Gebilde hervorzubringen, die über eine Tischoberfläche kriechen können."

Einige Tage und Tausende von Generationen später waren bizarre virtuelle Konstrukte entstanden, die bald darauf in die Schlagzeilen gerieten, als Lipson sie per 3D-Drucker Pixel für Pixel von der virtuellen in die physische Welt transferierte. Die fremdartigen Geschöpfe, zappelnde und zuckende Gebilde aus beweglichen Stabelementen, krochen nun tatsächlich über einen Tisch – die ersten Roboter, die nicht von einem Menschen entwickelt wurden, sondern durch einen evolutionären Prozess entstanden waren.

Das funktioniert freilich nicht ohne menschliche Hilfe: Die Forscher können bislang nur die Stabelemente drucken und müssen Drähte, Batterien und Antriebselemente hinzufügen. Das Team arbeitet nun daran, die kompletten Kreaturen durch 3D-Druck herzustellen, bei den Batterien ist das immerhin gelungen. Zugleich hat Lipson auch rudimentäre Roboter aus würfelförmigen Bausteinen entwickelt, die Kopien von sich selbst herstellen. Sein erklärtes Ziel ist es, Leben aus Plastik und Drähten zu erschaffen.

Man mag Lipsons Vorhaben als Machbarkeitstraum eines Ingenieurs abtun. Aber warum eigentlich? Was genau unterscheidet belebter von unbelebter Materie? Die Frage ist weit mehr als nur akademischer Natur. Die Antwort hat Einfluss auf ein Forschungsvorhaben, das wie kaum ein anderes das menschliche Selbstverständnis verändern könnte: die Suche nach Leben auf fremden Planeten. Mangels alternativer Konzepte liegt der Fokus bislang auf Bausteinen, die den irdischen Biomolekülen ähneln, oder auf Planeten, die vertraute Bedingungen wie flüssiges Wasser aufweisen könnten.

Und doch kann niemand sicher sein, ob Leben nicht auch Formen annehmen könnte, die jenseits unserer Vorstellung liegen. Denn wenn Biologen definieren wollen, was Leben ausmacht, dann stehen sie vor einem fundamentalen Problem: Wir kennen nur ein einziges Beispiel, aus dem wir auf allgemeine Prinzipien schließen müssen. Das ist so, als würde jemand, der nur einen Farbpinsel kennt, eine Definition für Werkzeug herleiten. So unendlich vielfältig uns die irdische Flora und Fauna auch erscheinen mag, alles bekannte Leben auf der Erde stammt von einem gemeinsamen Vorfahren ab und ist daher im Innersten erstaunlich uniform.

Ob Mensch, Tannenbaum oder Bakterium, das Erbgut aller Organismen besteht aus vier Bausteinen, die 20 Aminosäuren buchstabieren. Von einer ubiquitären zellulären Maschinerie werden sie zu Proteinen zusammengefügt, deren gemeinsame Abstammung auch nach Milliarden Jahren noch offensichtlich ist. Was davon Zufall und was Notwendigkeit war, darüber lässt sich nur spekulieren.

Weitgehend Einigkeit herrscht immerhin darüber, dass Leben nur auf Kohlenstoff basieren kann. Das C-Atom scheint geradezu prädestiniert für vielgestaltige komplexe Moleküle, da es mit vier weiteren Atomen Verbindungen eingehen kann. Als Alternative wird von den Astrobiologen mitunter Silizium diskutiert. Allerdings reagiert Silizium sehr stark mit Sauerstoff, einem der häufigsten Elemente im Universum. Anstelle des gasförmigen Kohlendioxids entstehen dabei gleichförmige Gitterstrukturen – Gestein.

Es ist daher nicht ganz abwegig, das uns vertraute Leben als universelles Erfolgsmodell zu postulieren, denn immerhin war es auf unserem Planeten schon entstanden, kaum dass die junge Erde abgekühlt war, und hat sich seither in jeden Winkel ausgebreitet. Man findet Leben im ewigen Eis, an Vulkanschloten, in heißen Quellen im Meeresgrund und auf Giftmülldeponien. Irdische Organismen überleben Säure, kochendes Wasser, harte Strahlung, das Vakuum des Weltalls. Selbst auf dem Mars scheinen sie überleben zu können, jedenfalls in jenem, den das Institut für Planetenforschung in Berlin in seinen Kellerräumen aufgebaut hat.

In die Einrichtung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt DLR hat Jean-Pierre de Vera seine Flechten, Pilze und Bakterien vom Südpol gebracht. Nun kann er sie den Umweltbedingungen auf dem Roten Planeten aussetzen und zuschauen, was mit ihnen passiert: ein Hundertstel des irdischen Atmosphärendrucks, weniger als zwei Prozent Sauerstoff, 95 Prozent Kohlendioxid, eine Temperatur von minus 50 Grad. Selbst unter diesen Bedingungen gedeihen die zähen Kreaturen. Sie betreiben Photosynthese und stellen Proteine her. Astrobiologen sind daher überzeugt: So wie das Universum Sterne und schwarze Löcher gebiert, so könnte es auch zwangsläufig lebendige Strukturen hervorbringen.

Damit aber ist die eigentliche Frage noch immer ungeklärt, was Leben im Kern ausmacht. Die amerikanische Philosophin Carol Cleland vergleicht das Problem mit Versuchen aus dem 18. Jahrhundert, das Wesen von Wasser zu definieren. Vor der Entdeckung von Molekülen und der Atomtheorie gelang dies nur durch Aufzählung von Eigenschaften: Wasser ist klar, nass, fließt abwärts und löscht den Durst. Wirklich verstehen kann man den Stoff aber erst, seit man weiß, dass er im Innersten aus H2O-Molekülen besteht.

Ein ähnlich grundlegend neues Konzept könnte zur Erklärung des Phänomens Leben nötig sein. "Die Biologie hat viel geleistet, um die einzelnen Bausteine zu charakterisieren", sagt Frank Jülicher, der am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden forscht. "Nun ist die Zeit reif, Leben auch in Form physikalischer Gesetze zu verstehen." Für ihn ist "das Verblüffende am Leben, wie unregelmäßig und variantenreich die Vorgänge sind, wie viele Fluktuationen und Abweichungen wir beobachten – und wie daraus trotzdem eine ungeheure Präzision erwächst".

Ein einziges tumbes Darmbakterium stellt an rund zehntausend Fabrikationsanlagen fortlaufend präzise arbeitende Nanomaschinen her. Millionen von Proteinen agieren und reagieren, wie von einem unsichtbaren Dirigenten gelenkt, damit ein einzelnes Bakterium sich in seiner Umwelt behaupten und fortpflanzen kann.

Um die Mechanismen dieses Uhrwerks zu entschlüsseln, arbeitet Jülicher in einem Feld, das in den letzten Jahren rasche Fortschritte gemacht hat und zunehmend an Bedeutung gewinnt: Die Erforschung von "aktiver Materie", die ohne äußere Einwirkung Bewegung und Strukturen hervorbringen kann – seien es nun Vögel, die ohne Anführer koordinierte Schwärme bilden, oder einzelne Moleküle, die in Zellen wie ein Orchester ohne Dirigent zusammenspielen. Eine grundlegende Eigenschaft lässt sich anhand der Modelle bereits erkennen: Aktive Materie befindet sich in einem beständigen Nichtgleichgewicht.

Innerhalb ihrer einzelnen Bestandteile existiert ein Energiegefälle. Wenn die Einzelteile spontan reagieren, entsteht ab einer gewissen Dichte koordinierte Bewegung. Aktive Materie treibt sich also selbst an: Zellen geraten beispielsweise in Bewegung, weil die starren Fasern des Zellskeletts fortlaufend an einem Ende wachsen und am anderen Ende abgebaut werden. Die Folgen sind fließende Zellbewegungen und Zellteilungen. Aus amorpher Masse entstehen Organe, Flügel, Gliedmaßen. "Eine faszinierende Erkenntnis war, dass chemische Reaktionen mechanische Prozesse hervorbringen", sagt Jülicher.

Inzwischen ist es mehrfach gelungen, aktive Materie aus den Biomolekülen der Zellskelette künstlich zu erzeugen. Es entstehen pulsierende Cluster und sphärische Gebilde. Ihr Verhalten entspricht dem, was die theoretischen Modelle vorhersagen: Sind die Einzelmoleküle weit verstreut, bewegen sie sich ziellos. Erst ab einer gewissen Dichte setzen die koordinierten Fließeigenschaften ein. Die Grenze zu lebenden Systemen scheint bereits zu verschwimmen: Wenn die Physikerin Jennifer Ross von der University of Massachusetts Amherst ihre Videoaufnahmen Zellbiologen zeigt, dann sind diese meist überzeugt, die typischen Bewegungsmuster lebender Zellen zu sehen.

Ist das bereits das Wunder des Lebens? Komplexe, aber eben doch profane biochemische Kettenreaktionen, aus denen neuartige Eigenschaften resultieren? Einige Forscher wollen sich damit nicht zufrieden geben. Sie glauben, dass unter der Schicht der Moleküle noch eine tiefere liegt. Sie tauchen ein in die Welt der Quanten, und auch wenn es vielleicht nicht ihr Ziel ist, sie geben dem Phänomen damit einen Teil seines Zaubers zurück. Denn Quanten verhalten sich auf für normale Menschen nahezu unbegreifliche Weise. Am besten ist das Phänomen der Quantenbiologie bei der Photosynthese belegt.

In jeder Sekunde stellen die Pflanzen und Mikroorganismen der Erde ungefähr 16000 Tonnen neue Biomasse her, indem sie Sonnenlicht mithilfe von Chlorophyll einfangen. Die Pigmente sind so konstruiert, dass durch die Aufnahme eines Photons ein nur locker gebundenes Elektron in den umgebenden Kohlenstoffkäfig geschleudert werden kann. Zurück bleibt eine "Elektronenlücke", ein sogenanntes Exziton. Man kann es sich wie eine instabile Batterie vorstellen. Damit seine Energie genutzt werden kann, muss es rasch zum Reaktionszentrum weitergeleitet werden. Bis vor wenigen Jahren dachte man, dass dieser Weg wie ein Zufallspfad verlaufen würde.

Dabei aber wäre viel Energie verloren gegangen – was nicht zu den Messergebnissen vieler Forschergruppen passte. Vor zehn Jahren stieß ein Team um Graham Fleming an der University of California in Berkeley auf eine gänzlich andere Erklärung: Das Exziton breitet sich als Welle aus und schlägt damit viele Routen gleichzeitig ein. Es nutzt das fast mystisch anmutende Phänomen der Quantenkohärenz.

Bislang galt, dass dies nur bei sehr tiefen Temperaturen möglich sei. Bei höheren Celsius-Graden dagegen würden die vielen Molekülschwingungen der Umgebung das Phänomen zunichte machen. Wie der Photosynthese-Apparat dieses Kunststück dennoch hinbekommt, beschrieb zuerst der Physiker Martin Plenio vom Institut für Theoretische Physik der Universität Ulm gemeinsam mit seiner Ehefrau Susana Huelga. Danach unterstützen Moleküle den "quantum walk" mit genau dem richtigen Ausmaß an Schwingungen. "Stellen Sie sich einen Fußball vor, der auf der untersten Stufe einer Treppe auf und ab springt", erklärt Plenio. "Wenn alle Stufen auf und ab oszillieren, dann sinkt die nächstobere Stufe manchmal so weit ab, dass der Ball darauffällt und mit angehoben wird. Mit dem richtigen Ausmaß an Oszillationen kann der Ball die ganze Treppe hinaufgelangen."

Aus Erkenntnissen wie diesen leiten der Kernphysiker Jim Al-Khalili und der Molekulargenetiker Johnjoe McFadden eine neue Theorie des Lebens ab: Es "unterscheidet sich von unbelebten Objekten, weil eine relativ kleine Zahl hochgeordneter Teilchen einen ganzen Organismus entscheidend beeinflussen können", schreiben sie in ihrem Buch "Der Quantenbeat des Lebens". Dem Konzept zufolge würden Organismen Quantenkohärenzen ausnutzen und sie als Verstärkersysteme in die makroskopische Welt transportieren. Das noch junge Feld der Quantenbiologie gewinnt derzeit rasch an Bedeutung, bis 2017 soll auf dem Campus in Ulm das weltweit erste "Zentrum für Quantenbiowissenschaften" entstehen.

Wird es die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Lebens liefern? Werden Astrobiologen, Biochemiker oder Robotiker schneller sein? Sind es am Ende alle zusammen? Oder keiner? Die Antwort liegt irgendwo da draußen, und sehr wahrscheinlich nicht nur auf der Erde, sondern auch auf einigen der erdähnlichen Planeten. Der Astrochemiker Wolfram Thiemann von der Universität Bremen jedenfalls ist überzeugt, dass die nächste oder übernächste Generation von Weltraumteleskopen erste Lebenszeichen finden wird. "Leider", fügt der inzwischen emeritierte Forscher etwas wehmütig hinzu, "werde ich das wahrscheinlich nicht mehr erleben". (bsc)