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Mash-ups für Professoren

Steffan Heuer

Wissenschaftliche Fachverlage geraten zunehmend unter Druck durch Akademiker und Hochschulen, die ihre Forschungsergebnisse frei zur Verfügung stellen wollen. Der Kampf um alte und neue Geschäftsmodelle tobt.

Digitale Formate und der Siegeszug des Internets stellen das Geschäftsmodell einer Branche mit Umsätzen in Milliardenhöhe und zweistelligen Gewinnspannen in Frage. Gefahr ist im Verzug, rechtliche Fragen sind ungeklärt. Politiker scharren mit den Füßen, Nutzer organisieren sich in Gruppen und sammeln Unterschriften, neue Geschäftsmodelle mit radikalen Konzepten sprießen auf dem umkämpften Feld. Eine Gruppe von entschlossenen Vordenkern propagiert gar offenen Zugang für die ganze Welt.

All das klingt nach einer Neuauflage der Schlacht von Internet-Tauschbörsen wie Napster gegen die Musikindustrie. Doch diesmal geht es nicht um Hits, sondern um so trockene Themen wie kristalline Chemie, Teilchenphysik, Molekularbiologie und Medizin. In der ansonsten eher zurückhaltenden akademischen Welt braut sich ein Sturm zusammen über "Open Access", also den weitgehend ungehinderten Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln und den ihnen zugrunde liegenden Daten: "Wir stehen vor einer Revolution in der wissenschaftlichen Kommunikation. Die heutigen Geschäftsmodelle sind nicht haltbar und werden von einer Ära der wissenschaftlichen Mash-ups abgelöst werden", sagt Tony Hey, Doktor der Physik und derzeit verantwortlich für den Bereich Technical Computing bei Microsoft Research.

Als ehemaliger Dekan einer Fakultät an der Universität Southampton erlebte Hey aus erster Hand, in welcher Zwickmühle sich Wissenschaftler tagtäglich befinden, wenn es um ihre Fachliteratur geht: Wer seine Karriere vorantreiben will, muss forschen und seine Ergebnisse in möglichst renommierten Journalen veröffentlichen – von "Nature" und "Science" bis zu einschlägigen Spezialtiteln wie "Stroke". So weit, so schwierig. Doch wer Fachbeiträge nicht nur veröffentlichen, sondern auch lesen will, muss kräftig zahlen – selbst Hochschulen, aus deren Reihen die Autoren eines Artikels stammen, oder Stiftungen, die eine Studie finanziert haben, müssen die oft teuren Journale in gedruckter oder elektronischer Form abonnieren. "Ich war regelmäßig in der Situation, dass ich nicht einsehen konnte, was die Mitglieder meiner eigenen Arbeitsgruppe geschrieben hatten, weil wir uns das Abonnement nicht leisten konnten", erinnert sich Hey.

Die weltweit rund 24000 Fachzeitschriften, die pro Jahr geschätzte 2,5 Millionen von Fachkollegen überprüfte ("peer reviewed") Artikel veröffentlichen, sind ein einträgliches Geschäft. Verlage lassen sich das Dienstleistungsbündel aus Redigieren, Kommentieren und Veröffentlichen reichlich vergüten, obwohl sie weder den Autoren noch den Rezensenten Honorare zahlen. Dank Konsolidierung teilen sich die zehn größten Fachverlage im Bereich wissenschaftlicher, technischer und medizinischer (STM) Fachzeitschriften etwas weniger als die Hälfte eines Marktes, der 2005 weltweit für rund 19 Milliarden Dollar Umsatz gut war (siehe Grafik Seite 31). Und die Gewinne sprudeln: John Wiley & Sons etwa vermeldete für das vergangene Geschäftsjahr eine operative Marge von 14,5 Prozent, die britische Reed-Elsevier-Gruppe 16 Prozent.

Gleichzeitig aber klagen Universitäten über astronomische Abonnement-Preise. Die Kostenzuwächse für Fachzeitschriften liegen seit Jahren deutlich über der Inflationsrate in allen Industrienationen – die Preise für Abonnements haben sich zwischen 1986 und 2000 verdoppelt und sind allein im vergangenen Jahr um knapp acht Prozent gestiegen. Und hier geht es nicht, wie bei Publikumszeitschriften, nur um ein paar Euro: Das durchschnittliche Chemiejournal kostet im Jahresabo inzwischen umgerechnet 2522 Euro, ein Ingenieurblatt um die 1523 Euro, so eine aktuelle Erhebung des "Library Journal". Dabei bewegen sich deutsche Fachzeitschriften mit jährlichen Abonnementkosten von 788 Euro recht genau im Durchschnitt, die Niederlande liegen mit 2473 Euro einsam an der Spitze. Bibliothekare sehen sich deshalb seit einiger Zeit gezwungen, Zeitschriften-Abos abzubestellen.

Die Überschrift für die Preisübersicht in dem Branchenblatt lautet "Serial Wars", "Serienkriege" also. Weit hergeholt erscheint sie nicht: Verleger üben Druck auf Hochschulen aus, da sie der Meinung sind, dass Sammellizenzen für den elektronischen Zugang zu ihren Titeln für ein gesamtes Labor oder einen Campus zu großzügig genutzt oder missbraucht werden.

So berichtet der Chemiker Peter Murray-Rust, Leiter einer Forschungsgruppe an der Universität Cambridge, von einem großen Verlag, der ein Inspektionsteam zu einem Labor entsandte, um dort für angebliche übermäßige Nutzung sei- ner Produkte Geld einzutreiben. "Wir stehen kurz vor einem Krieg mit den Verlegern, wenn sich nichts ändert", sagt Murray-Rust. Die Angegriffenen aber halten sich zumindest mit öffentlichen Äußerungen vornehm zurück: Die Fachverlage Springer und Wiley sowie der Verleger von "Science", die Technology Review um eine Stellungnahme bat, wollten sich zum Thema Open Access nicht äußern.

Ihre Gegner werden dafür umso deutlicher: Als "Dinosaurier mit Gnadenfrist" bezeichnet Barbara Cohen die ungeliebten Verlage. Die ehemalige Redakteurin beim Fachmagazin "Nature Genetics" vergleicht das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit mit einer Geburt: "Es dauert eine Weile, ist äußerst schmerzhaft, und man freut sich, wenn das Baby endlich auf der Welt ist. Mit einem entscheidenden Unterschied: Bei Fachartikeln gehört das Kind der Hebamme. Die Verlage bestimmen, welche Besuchsrechte die Eltern haben, und man muss dafür auch noch bezahlen."

Viel zu lange schon sei die Branche mit diesem Modell ungeschoren davongekommen, sagt Cohen. In ihrem neuen Job bei der Public Library of Science (PLoS) in San Francisco arbeitet sie nach Kräften daran, das zu ändern. Im Herbst 2000 als akademische Bürgerinitiative für Open Access ins Leben gerufen, hat sich PLoS zu einem der ersten unternehmerischen Vorstöße entwickelt, die das traditionelle Verlagsmodell auf den Kopf stellen. Der Ausgangsgedanke ist einfach: "Im digitalen Zeitalter kostet nur das erste Exemplar Geld, alle weiteren sind kostenneutral", erklärt Cohen, "wenn ich meine Kosten darüber decke, trägt sich das Modell, und ich kann allen Lesern den offenen Zugang erlauben."

Bei den bislang fünf Online-Magazinen der Organisation zahlen deswegen die Autoren oder ihre Förderinstitutionen eine einmalige Gebühr von gegenwärtig 2500 Dollar, wenn sie einen Artikel einreichen. Laut Cohen sind die Veröffentlichungskosten bei den meisten Forschungsstipendien bereits einkalkuliert, in Härtefällen wird die Gebühr erlassen.

Sobald ein Artikel den Peer-Review-Prozess bei der PLoS durchlaufen hat, ist der Volltext online kostenlos zugänglich; auch der Zugriff aufs Archiv ist gebührenfrei. Ein ähnliches Modell verfolgen BioMed Central, das kanadische Journal Open Medicine sowie der indische Verlag Hindawi, der rund 60 naturwissenschaftliche Fachzeitschriften nach der Open-Access-Methode veröffentlicht. Insbesondere an Forscher in Entwicklungsländern gerichtet ist ein Open-Access-Archiv namens Hinari, das mit Hilfe der Weltgesundheitsorganisation WHO gestartet wurde.

Vom Silo zur Web-Software

Weltweit gibt es heute ungefähr 2600 Open-Access-Zeitschriften. Das ist zwar ein Viertel mehr als 2005, aber immer noch eine kleine Insel im Meer der kostenpflichtigen Angebote. Die steilen Zuwachsraten zeigen jedoch, dass viele Akademiker auf die Gelegenheit gewartet haben und dafür auch das Risiko in Kauf nehmen, statt in den angesehensten Journalen nur in neuen Nischenpublikationen abgedruckt zu werden. PLoS Biology etwa verzeichnete 1891 eingereichte Artikel in 2005, von denen 330 veröffentlicht wurden. Im Jahr darauf stieg die Zahl auf 4127 Einreichungen zu 689 Veröffentlichungen. Wissenschaftler aus etwa 50 Ländern bieten ihre Artikel inzwischen in San Francisco an.

Für die drei Gründer von PLoS, darunter der Nobelpreisträger Harold Varmus, ist das der Anfang einer Revolution, bei der Akademiker, Hochschulen, Fördereinrichtungen und Web-Programmierer an einem Strang ziehen: "Open Access wird es Wissenschaftlern erlauben, Fachliteratur in etwas weitaus Nützlicheres zu verwandeln als nur das elektronische Äquivalent von Millionen Einzelartikeln, die sich in Bibliotheksregalen aufreihen", schrieb das Trio in einem Geleitwort zur ersten Ausgabe von PLoS Biology. Denn letztlich geht es PLoS und Wissenschaftlern wie Hey oder Murray-Rust darum, das wissenschaftliche Arbeiten vom Experiment bis zum fertigen Paper ins Web-Zeitalter zu befördern, in dem Offenheit und Kollaboration an erster Stelle stehen.

Die elektronische Veröffentlichung eines Fachaufsatzes ohne Zugangsbeschränkungen ist dabei nur der erste Schritt – aber selbst dazu bedurfte es fast zwei Jahrzehnte Pionierarbeit: Akademiker fordern bereits seit Anfang der 90er-Jahre, Forschungsergebnisse in freien Archiven zugänglich zu machen. Den Anfang machte der Physiker Paul Ginsparg an den Los Alamos Labors, der 1991 einen arXiv genannten Dienst einrichtete, in dem seine Fachkollegen die letzte Version eines Aufsatzes vor der Veröffentlichung deponieren konnten. Heute wird das Archiv mit mehr als 400000 Manuskripten an der Cornell-Universität gepflegt.

Ginspargs Idee fand Nachahmer in den Computerwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und anderen Disziplinen, aber es blieb bei losen Sammlungen von nach Disziplinen getrennten Silos, in denen es jedem Wissenschaftler überlassen bleibt, seine Arbeiten einzuspeisen oder nicht. Die zweite Hälfte der 90er-Jahre brachte das große Erwachen der Open-Access-Bewegung mit sich – angestoßen vom offenen Charakter des Human Genome Projects und dem Heraufziehen des Webs samt neuartiger Suchmaschinen, die Wissen plötzlich einem globalen Publikum präsentieren. Die National Institutes of Health in den USA, Herr über knapp 14 Milliarden Dollar an Fördergeldern im Jahr, starteten 1999 unter Führung ihres damaligen Chefs Harold Varmus die E-biomed-Datenbank. Was ursprünglich alle mit Steuergeldern geförderten Aufsätze umfassen sollte, wurde allerdings aufgrund des Widerstands der Verlage zu PubMed Central gestutzt, einer Datenbank hauptsächlich mit Zusammenfassungen und Aufsätzen, die erst ein halbes Jahr nach ihrer Erstveröffentlichung aufgenommen werden.

Etwa zur gleichen Zeit begannen Universitäten, Standards und bedienerfreundliche Software zu entwickeln, um das Deponieren von Forschungsarbeiten und die Suche danach zu vereinfachen. Die Universität Southampton in Cornwall, an der Microsoft-Forscher Hey damals arbeitete, war der Pionier und veröffentlichte im Jahr 2000 eine EPrints genannte Software, gefolgt vom MIT, das gemeinsam mit den Hewlett-Packard Labs seine eigene Variante namens DSpace entwickelte. Heute sind weltweit rund 20 verschiedene Software-Systeme in mehr als 1400 Hochschul- und anderen akademischen Literaturdeponien im Einsatz, schätzt Hey.

Archivieren nach Farben

Auch wenn die vielen Systeme unterschiedliche Datenmodelle und Dienste benutzen, sind sie grundsätzlich kompatibel und ermöglichen eine noch vor wenigen Jahren unvorstellbare Recherche-Bandbreite. Und auch die Universitäten selbst profitieren: "Wer in Zukunft als Forschungseinrichtung international sichtbar sein will, muss im Web auffindbar sein", sagt Hey und verweist auf Suchmaschinen wie OAIster – ein Projekt der Universität Michigan, das einen Metaindex von rund zwölf Millionen Dokumenten an bald 800 Institutionen angelegt hat. Der Google-Dienst Scholar wiederum, seit Ende 2004 als Spezial-Suchmaschine nach wissenschaftlichen Aufsätzen verfügbar, dient mittlerweile als Referenz für Uni-Rankings – je höher die Artikel ihrer Forscher in den Suchergebnissen erscheinen, desto besser die Bewertung des akademischen Erfolgs einer Hochschule.

Für einige Akademiker geht diese Öffnung allerdings weder schnell noch weit genug. Einer der lautstärksten Wortführer der Open-Access-Bewegung ist der aus Ungarn stammende Kognitionswissenschaftler Stevan Harnad. Seiner Ansicht nach sollte jedem Forscher die Selbstarchivierung aller für eine Veröffentlichung in Fachzeitschriften angenommenen Artikel vorgeschrieben werden – "ohne Ausnahme, ohne Verzögerung". Für Harnad liegen die Vorteile dieses Vorgehens auf der Hand: Offen zugängliche Artikel würden deutlich häufiger und mit weniger zeitlichem Abstand von der Fachwelt zitiert, verbreiten also neues Wissen weiter und schneller. Offene Forschung erhöhe damit den Einfluss wissenschaftlicher Arbeit und treibe den Fortschritt voran.

"Geldgeber und Universitäten werden verpflichtend vorschreiben, dass Veröffentlichungen in ihren eigenen institutionellen Lagern gespeichert werden", sagt Harnad voraus. Die Folgen für die etablierten Verlage interessieren den in Montreal lehrenden Wissenschaftler dabei herzlich wenig: Wenn sich das Abo-Modell in einem offeneren Umfeld nicht mehr rechne, müssten sie eben auf Open Access umsteigen, ihre Kosten also durch Veröffentlichungsgebühren wieder hereinholen.

Doch so schön und simpel diese Vision klingt, so schwer ist sie zu realisieren. Bislang sind nur geschätzte 10 bis 15 Prozent aller Forschungsarbeiten offen zugänglich – die Mehrzahl der Forscher weiß entweder über ihre Rechte als Urheber nicht Bescheid, kümmert sich nicht um Alternativen zum herkömmlichen Modell oder will sich nicht mit der freiwilligen Selbstarchivierung herumschlagen. Und auch die Hochschulen wissen oft nicht, wie wenig Zeit und Geld sie investieren müssen, um ein eigenes Archiv zu installieren: Die nötige Hardware samt Open-Source-Software ist laut Experten wie Arthur Sale von der australischen University of Tasmania für eine einmalige Investition von rund 5000 Dollar zu haben. In Großbritannien haben sich rund zwei Dutzend Universitäten zum Sherpa Project zusammengetan, das Wissenschaftlern beim Archivieren in Eigenregie helfen soll: Seine Romeo-Datenbank listet nach einem einfachen Farbschema auf, welcher Fachverlag wie viel davon erlaubt, Juliet verrät, welche Fördereinrichtung wie viel davon verlangt.

Literatur zum Leben erwecken

Die Schwierigkeiten beim Umdenken gelten für alle, doch je nach Land zeigen sich deutliche Unterschiede darin, wie schnell es vorankommt. Die Niederlande etwa unterhalten ein landesweites Netz aus drei Artikel-Repositorien, in denen insgesamt an die 200000 Forschungsarbeiten abgelegt sind. An deutschen Hochschulen dagegen finden sich zwar 112 Repositorien – beim genaueren Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die wenigsten davon häufig aktualisiert werden. So unterhält die Universität Bielefeld seit September 2002 ein Archiv, aber es umfasste Ende April 2007 gerade einmal 823 Dokumente; im Archiv der Universität Potsdam, das gut zwei Jahre alt ist, befinden sich rund 1400 Dokumente. Im Gegensatz zu Einrichtungen in Australien, Portugal und Großbritannien schreibt bislang keine einzige deutsche Universität die Selbstarchivierung zwingend vor.

Trotzdem haben viele Verlage schon auf den Ruf nach mehr Offenheit reagiert. Einer der Wendepunkte war die Budapest Open Access Initiative, die das Open Society Institute des Multimilliardärs und Mäzens George Soros im Jahr 2000 anschob. Ihr folgten weitere Konferenzen und Deklarationen – sowie die Entscheidung von bislang knapp zwei Dutzend Verlagen, darunter Springer und Oxford University Press, ihren Autoren zumindest ein Hybrid-Modell anzubieten, das bestimmte Formen der Selbstarchivierung erlaubt: Wer vorweg eine Gebühr zahlt, kann seinen Aufsatz in vielen Fällen offen zugänglich machen oder schneller online stellen. Die Regeln variieren jedoch von Zeitschrift zu Zeitschrift, sodass unter Akademikern weiterhin Verwirrung herrscht, was wo erlaubt ist; die Vorabgebühren liegen zwischen 795 und 3100 Dollar pro eingereichtem Aufsatz.

Die Verfechter der reinen Lehre sehen bei solchen Misch-modellen ohnehin reichlich Probleme. Ihnen schwebt eine Welt von nach allen Richtungen offenem wissenschaftlichem Arbeiten nach dem Vorbild moderner Web-2.0-Angebote vor: Webdienste sollen ganz ohne verlagseigene Grenzzäune automatisch Zusammenfassungen und Volltext-Dateien mit Leserkommentaren und anderen interaktiven Komponenten bündeln und für jeden Nutzer dynamisch darstellen können – Mash-ups für Professoren sozusagen. "Wir wollen akademische Literatur zum Leben erwecken", sagt PLoS-Redakteurin Cohen. In ihrer alle Disziplinen umfassenden Web-Publikation PLoS One können Leser Artikel bereits mit Randnotizen versehen und kommentieren. Da die Software dafür Open Source ist, hofft Cohen, dass andere Programmierer zusätzliche Funktionen basteln werden. Und weil alle Artikel in PLoS unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht werden, könnten Dritte auf dieser Grundlage sogar neue, gewinnorientierte Produkte entwickeln und vertreiben.

Vordenker Hey propagiert sogar ein noch umfassenderes Modell – nicht nur die Ergebnisse in Artikelform sollen frei verfügbar werden, sondern auch die Basisdaten wissenschaftlicher Arbeit. "In ein paar Jahren werden Fachaufsätze keine toten PDFs mehr sein, sondern Links besitzen, mit denen man auf die Datensätze zugreifen, eigene Berechnungen anstellen und Daten vermessen kann. Wissenschaftler werden sich über Blogs, Wikis, Tagging austauschen – all das geht aber nur, wenn Open Access allgemein akzeptiert ist", sagt er. Die Hochschulwelt brauche dazu neben Archiven bessere Suchmaschinen. Dabei könnten die großen kommerziellen Anbieter wie Google, Microsoft und Yahoo helfen, sowie Suchwerkzeuge, mit denen Unternehmen heute ihre eigenen Daten und die der Konkurrenz analysieren.

In Ansätzen ist die Welt der akademischen Mash-ups bereits vorhanden. Connotea etwa ist eine Webseite, die das Auszeichnen ("tagging") von Fachaufsätzen mit selbst gewählten Stichworten wie beim Online-Bookmark-Dienst del.icio.us erlaubt; Faculty of 1000 ist die akademische Version von kollaborativen Filterseiten wie Digg, bei der sich beachtenswerte Forschungsergebnisse in einem Fachgebiet per Abstimmung hervorheben lassen. Einzelne Disziplinen experimentieren mit Blogs, Wikis oder Online-Labor-Logbüchern wie Useful Chemistry oder AstroGrid, um ungeklärte Fragen in die globale Runde zu werfen. "Manchmal sind es nur Beobachtungen, die zu nichts führten, oder ein Experiment, das gescheitert ist", erklärt Hey, "für eine förmliche Veröffentlichung kämen solche Dinge nicht in Frage, aber sie können anderen Forschern enorm weiterhelfen, wenn sie nur davon wüssten."

Mittlerweile hat sich mancherorts auch die Politik eingeschaltet, um das Thema Open Access voranzutreiben. Im US-Kongress steht eine Gesetzesinitiative namens Federal Research Public Access Act (FRPAA) zur Debatte, nach der alle mit Steuergeldern geförderten Arbeiten öffentlich zugänglich gemacht werden müssten; Unterstützung kommt von großen Universitäten. In Europa ist es noch nicht so weit, aber eine Petition an die Europäische Union gewinnt rapide an Zulauf: Bislang etwa 20000 Einzelpersonen und rund 1000 namhafte Institutionen haben sich der Forderung an die Europäische Kommission angeschlossen, der Öffentlichkeit Zugang zu mit öffentlichen Mitteln geförderter Forschung "kurz nach Veröffentlichung" zu gewähren.

In Deutschland allerdings geht die Entwicklung derzeit eher in die andere Richtung: Es steht zu befürchten, "dass der für Forschung und Lehre unabdingbare Zugriff auf das publizierte und mit öffentlichen Mitteln erstellte Wissen durch neue Vorschriften erheblich behindert wird", sagt Rainer Kuhlen von der Universität Konstanz.

25-jährige gegen Blödsinn

Kuhlen ist Sprecher des Aktionsbündnisses "Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft". Was den Professor so besorgt macht, sind Regelungen in der anstehenden Novelle des deutschen Urheberrechtes. Die klingen in der Tat weniger nach öffentlichem Zugang als nach den drakonischen Vorschriften, mit denen auch die Musik- und Filmlobby ihr wankendes Geschäftsmodell schützen will.

So soll nach dem derzeitigem Stand vorgeschrieben werden, dass elektronische Bestände einer Bibliothek nur in deren eigenen Räumen eingesehen werden dürfen. Ebenso ist geplant, Büchereien die Auslieferung elektronischer Dokumente zu untersagen, wenn ein Verlag mit entsprechenden Konkurrenzangeboten auf den Markt kommt. Obendrein fehlt in der Novelle bislang die Regelung, wonach das Nutzungsrecht an einem Artikel spätestens ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung an den Autor zurückzugeben ist.

Doch zum Glück ist nicht alles Politik: Wenn die Gesetzgeber nicht mitziehen, schätzt der britische Chemiker Murray-Rust, wird der nötige Druck zum Wandel eben von Geldgebern wie dem Wellcome Trust ausgehen. Die weltweit größte Stiftung für medizinische Forschung hat es schon Ende 2005 zur Vorbedingung für die Vergabe von Fördermitteln gemacht, dass alle späteren Berichte bei PubMed Central archiviert werden. "Organisationen wie Wellcome werden für Wandel sorgen", sagt Murray-Rust, "und natürlich diejenigen, die heute 25 sind und sich den Blödsinn nicht mehr gefallen lassen." (bsc [1])


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