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Mashups: Aus alt mach neu

Larry Hardesty

Junge Musiker, die vorhandenes Songmaterial kunstvoll am Rechner vermischen, wirbeln die Plattenindustrie auf.

Girl Talk heizt ein: Knapp fünf Minuten nachdem sein Konzert begonnen hat, drängen sich bereits Hundert tanzende Menschen auf der Bühne des "Starlight Ballroom" in Philadelphia. Trockeneisnebel wabert durch den Club, dazu zucken farbige Lichter. Girl Talk selbst, der im echten Leben Gregg Gillis heißt, 27 Jahre alt ist, aus Pittsburgh stammt und ursprünglich Biomediziningenieur gelernt hat, beugt sich über seinen Laptop auf einem Tisch vorne an der Bühne. Knapp 15 Minuten später springt ein junger Mann mit nacktem Oberkörper auf den Tisch und tanzt dort weiter. Ein Kabel von Gillis' Technik löst sich und die Musik verstummt. "Das hilft jetzt wirklich nichts, dass die Leute auf dem Tisch tanzen", sagt Gillis in ein noch funktionierendes Mikrofon hinein und fummelt an den auf den Boden gefallenen Kabeln herum. Buhrufe aus dem Publikum holen den tanzenden Unfallverursacher schließlich von der Bühne.

Solche Probleme kann man schon mal haben, wenn man im Zeitalter der Mashups eine Live-Performance gibt. Die noch junge Kunstform bricht die Grenzen zwischen Künstler und Konsument auf, Girl Talks Show sind das ideale Beispiel. Ein Mashup ist eine digitale Neukombinierung von Musikelementen, die aus verschiedenen Aufnahmen stammen – etwa der Gesangsstimme eines Songs, dem Klavierpart eines zweiten und dem Schlagzeug eines dritten. Einige Beobachter verorten den Ursprung der Technik bei Avantgarde-Experimenten mit Bandmaschinen-Loops in den Siebzigern, andere sehen das Sampling existierender Platten, das durch den Rap ab den Achtzigern bekannt gemacht wurde, als Beginn. Trotzdem sind Mashups ein eindeutiges Phänomen des 21. Jahrhunderts. Schließlich funktioniert die Technik nur deshalb so gut, weil digitale Musikdateien in großer Zahl vorliegen und entsprechende Software-Werkzeuge zu ihrer Manipulation immer besser und billiger werden.

Gillis gehört zu den beliebtesten Mashup-Künstlern der Vereinigten Staaten. Er stellte schon die Vorgruppe von Beck und er trat auf dem Rockfestival "Lollapalooza" auf. Seine MySpace-Seite [1] bekommt mehr Aufrufe als die der Indierock-Helden Wilco. Wenn er auf Tour geht, füllt er große Clubs wie den "Starlight Ballroom", in dem mehr als Tausend Leute tanzend zur Bühne drängten.

Gillis dürfte auch deshalb so populär sein, weil er mit einer enormen Menge an Sample-Material für seine Mashups arbeitet. "Play Your Part (Pt. 1)", der erste Track auf seinem jüngsten Album "Feed the Animals", enthält laut Wikipedia [2] allein 24 Quellen. Der Track beginnt mit Vocals der Hip-Hop-Formation UGK, kombiniert mit einem Instrumentaltrack von "Gimme Some Lovin'" von der Spencer Davis Group. Nach 42 Sekunden ist ein rhythmischer Chor zu hören, der "Pump that shit up" von sich gibt – er stammt von einem gleichnamigen Song. Dann folgen wieder UGK-Reime, dann etwas später hört "Gimme Some Lovin'" auf. Das "Pump that shit up"-Fragment wird geloopt und ist dann über einem Drumsample eines R&B-Songs von Cupid aus Louisiana zu hören. Die Stimme verstummt, das Schlagzeug geht weiter. Dann ist eine bekannte Synthesizer-Sequenz aus Pete Townshends "Let My Love Open the Door" zu hören. Neue Samples wechseln sich für weitere dreieinhalb Minuten ab. Zu hören sind unter anderem die Rapper Ludacris, Bridman und T.I. sowie die Bands Twisted Sister, Rage Against the Machine und Temple of the Dog. Und das war noch nicht alles.

Ein gutes Mashup kann selbst lange Bekanntes wiederbeleben, indem es in einen neuen Kontext gestellt wird. Für das Publikum in Philadelphia tat das Girl Talks Musik ganz eindeutig. Jubel brandete jedes Mal auf, wenn erkennbare Instrumental-Teile in den Mix einflossen. Teile der Tänzer sangen die gesampelten Hip-Hop-Lyrics mit oder bewegten sich mit einem Enthusiasmus, den die Ursprungstitel bestimmt nicht ausgelöst hätten.

(Wie Mashups funktionieren, können Sie selbst mit dieser interaktiven Konsole [3] ausprobieren. Die Vocals stammen unter anderem von ABC, Diana Ross und anderen, die Instrumentals von Daft Punk, Rick James und Sister Sledge.)

Doch nicht alle seiner Kollegen haben Respekt vor Gillis' Kunst. "Was er da in seine Tracks packt, scheint mir ein ewiges "Kennst Du den Song, kennst Du den Song, kennst Du den Song?" zu sein", meint Tim Baker, der den Fachpodcast "Radio Clash" [4] betreibt. "Es ist so, als würde man Fernsehen gucken und irgendjemand schaltet alle 30 Sekunden den Kanal um."

"Die Form benötigt Wiederholung", sagt wiederum Jordan Roseman, der unter dem Namen DJ Earworm [5] Mashups kreiert. "Man muss sich einfach nur einen Popsong im Radio anhören: Die Elemente wiederholen sich. Sie verschwinden, man vermisst sie, sie kommen zurück und man freut sich wieder auf sie." Genau dann, wenn Teile eines Songs zu nerven anfingen, ändere dieser seine Richtung. "Und wenn man dann die alten Elemente wieder vermisst, kommen sie zurück." Girl Talk lässt jedes seiner Samples hingegen verschwinden, wenn es mal 30 oder 40 Sekunden lief.

Er tendiert außerdem dazu, Instrumentalstücke mit Hip-Hop-Vocals zu kombinieren, wie man bei "Play Your Part (Pt. 1)" sehen kann. "In der Mashup-Gemeinde wird das zum Teil als Drückebergertum gesehen, weil es sehr einfach ist. Man muss sich dann nicht mehr darum kümmern, dass die Tonlagen passen", sagt Luke Enlow, der als Mashup-Künstler in New Hampshire unter dem Namen Lenlow [6] arbeitet.

Gillis widerspricht dem Vorwurf nicht, dass Hip-Hop-Mashups einfacher sind, er hält das aber schlicht für irrelevant. "Was die Ramones spielten, war auch nicht sehr schwierig", sagt er und beruft sich damit auf jene New Yorker Band, die zu den großen Anheizern der Punk-Rock-Bewegung zählte. "Ich denke, einen Computer zu spielen, ist eine Übung, die viel mit Punk zu tun hat." Er ruft gerne auch noch Joe Satriani in Erinnerung, jenen Rockgitarristen, der für seine enorm schnellen Soli bekannt ist. "Der ist nicht deshalb wichtiger als Nirvana-Gründer Kurt Cobain, nur weil er die Klampfe besser zum Heulen bringt."

Es ist sowieso ein übliches Muster in der Musikgeschichte, dass in jenem Moment, in dem eine populäre Musikform aufsteigt, ihre ambitioniertesten Vertreter sofort in eine eher esoterischere Richtung abdriften. Die Nebenmänner, die in Benny Goodmans kleinen Ensembles in der Swing-Hochzeit spielten, sind ein Beispiel; die Beatles und die Beach Boys in den Sechzigern ein anderes. Mashups haben bislang noch nicht jene kulturelle Prominenz erreicht, den Jazz und Rock in ihrer Hochphase hatten.

Trotzdem versuchen Künstler wie Roseman alias DJ Earworm, den Status quo zu brechen. Er studierte gleichzeitig Musik und Computerwissenschaften an der University of Illinois und weil er die Harmonien im Rohmaterial analysieren kann, fallen ihm Tonlagenproblem sofort auf. Er muss im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen nicht ständig nach dem Trial-and-Error-Verfahren vorgehen, um Samples zu finden, die passen.

Er hat außerdem ein Talent dafür, besonders gutes Rohmaterial zu finden. Die digitalen Dateien, aus denen Mashups bestehen, werden in recht seltenen Fällen aus vollständigen Platten hergestellt, sondern aus isolierten Vocal- und Instrumental-Tracks. Plattenkünstler beginnen in letzter Zeit immer häufiger damit, dieses Rohmaterial im Netz zu verteilen, um Mashup zu erleichtern. Manche Musikfirma stellt solche Spuren unter fremdem Namen ins Internet, um Werbung für ihren Künstler zu machen. Manchmal sind es aber auch Toningenieure, die das Rohmaterial aus dem Studio schmuggeln. Einmal im Netz, verteilt es sich schnell in der Mashup-Gemeinde. Einzelne Spuren lassen sich außerdem in Surround-Sound-Aufnahmen und manchen Videospielen finden. Fehlen diese Optionen, müssen Mashup-Künstler selbst das Rohmaterial aus kompletten Alben extrahieren.

Roseman schrieb ein Buch namens "Audio Mashup Construction Kit", in dem sich ein 40seitiges Kapitel namens "Unmixing" befindet, in dem er erklärt, wie man die Stimmspur von den Instrumenten trennt. Einer der Tricks, die er beschreibt, ist das Auffinden eines Songteils, in dem sich eine Figur einige Takte lang wiederholt, bevor die Stimme hinzukommt. Software kann dann die sich wiederholende Figur aus dem Endmix abziehen, um die Stimmspur zu isolieren.

Rosemans künstlerischer Instinkt setzt ihn von anderen ab. Wie bei Girl Talks Mashups sampelt er stets mehrere Songs. In seinem größten Hit "United State of Pop" [7] borgt er sich Elemente von allen Top 25-Songs aus den Billboard Charts des Jahres 2007. Doch statt einfach nur Samples in einer langen Kette aneinanderzureihen, schichtet Roseman sie schrittweise übereinander, schafft Texturen und baut Spannungsbögen auf.

Ein weiteres gutes Beispiel ist das hypnotische "Stairway to Bootleg Heaven" [8], das sich die Tonspuren von sieben verschiedenen Platten leiht. Das Herz des Mashups ist die Nebeneinanderstellung eines Eurythmics-Songs aus den Achtzigern mit einer Coverversion des Led Zeppelin-Hits "Stairway to Heaven", die ausgereicht von Dolly Parton gesungen wird. Schon für sich genommen würde die überraschend effektive Kombination aus einer Synthesizer-Rhythmussektion und Fiedel und Mandoline für ein denkwürdiges Mashup sorgen.

Roseman geht jedoch noch weiter und ergänzt eine anderthalbminütige Einführung, die ein Stück der Performance-Künstlerin Laurie Anderson mit einem Song der Synth-Pop-Band Art of Noise kombiniert. Zum Schluss des Songs sorgt dann noch ein Sample aus dem Beastie Boys-Track "So What'cha Want" für zusätzliche Eindringlichkeit, bevor dann zum Höhepunkt plötzlich Pat Benatars "Love Is a Battlefield" auftaucht. Durch das gesamte Mashup fließt als eine Art verbindendes Gewebe auch noch ein Sample des Beatles-Stücks "Because" mit ein, das immer wieder kurz verschwindet. Und das schöne: Während einige der von Roseman verwendeten Songs für sich genommen veraltet oder sogar heutzutage eher lachhaft klingen, ergibt das Ganze doch eine hehre Kombination.

Roseman ist zwar nicht so erfolgreich wie Gillis, doch immerhin hat es sein "United State of Pop" bereits in die Liste der 100 meistgespielten Songs im Radio geschafft, mehrere Monate lang im letzten Jahr. Und sein bemerkenswertes Mashup [9] von Kanye Wests "Love Lockdown" mit "Reckoner" von Radiohead stieß sogar auf Beifall von Kanye West selbst, der prompt ein Video dazu auf seine Website stellte. Noch kann niemand sagen, wer in 20 Jahren zu jenen Mashup-Künstlern zählen wird, die wir dann womöglich immer noch hören. Ich weiß, auf wen ich wetten würde. (bsc [10])


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https://www.heise.de/-276020

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.myspace.com/girltalk
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Feed_the_Animals#1._.22Play_Your_Part_.28Pt._1.29.22_-_4:45
[3] https://www.technologyreview.com/files/22845/TR_mixAudio_R2.swf
[4] http://www.mutantpop.net/radioclash/
[5] http://djearworm.com/
[6] http://lenlow.com/
[7] http://www.earwormmp3.com/united_state_of_pop.mp3
[8] http://www.earwormmp3.com/Stairway_to_Bootleg_Heaven_256.mp3
[9] http://www.earwormmp3.com/reckoner_lockdown.mp3
[10] mailto:bsc@heise.de