Maßgeschneiderte Therapien nach Gendiagnose

Auf Basis von Gendiagnosen lassen sich Medikamente individueller verabreichen. Die Folge sind schnellere Therapieerfolge und weniger Nebenwirkungen.

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Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Tobias Stolzenberg
  • Inge Wünnenberg
Inhaltsverzeichnis

Die Vision einer personalisierten Medizin begeistert schon seit der Jahrtausendwende Wissenschaftler wie Ärzte. Als Paradebeispiel galt das bereits damals zugelassene Herceptin. Bei jeder vierten Brustkrebspatientin kann ein spezieller Rezeptor nachgewiesen werden, an den ein Wachstumsfaktor andockt und die Wucherung ankurbelt. Herceptin blockiert ganz spezifisch diesen Rezeptor. Zumindest für einen Teil der Patientinnen bedeutet dies einen deutlich günstigeren Verlauf ihrer Erkrankung.

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Auch gegen Aids gab es früh Erfolge: Der Wirkstoff Abacavir hemmt ein viruseigenes Enzym und verhindert dadurch, dass der HI-Virus sein genetisches Material in weitere Zellen einschleusen kann. Trägt ein Patient jedoch in den Erbanlagen das HLA-B*5701-Allel, reagiert er mit hoher Wahrscheinlichkeit extrem überempfindlich auf den Wirkstoff. Die Medikation könnte schlimmstenfalls sein Todesurteil bedeuten. Im Jahr 2008 hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) daher festgelegt, dass sich sämtliche HIV-Infizierte vor einer Gabe standardmäßig einem Gentest unterziehen sollen.

Nach diesen anfänglichen Fortschritten blieb es jedoch eine Weile ruhig auf dem Gebiet der zielgerichteten Medizin. Viele hochgesteckte Hoffnungen, insbesondere auch in der Gentherapie, erfüllten sich nicht. Ein Grund dafür ist, dass bei der Umsetzung genetischer Informationen in Merkmale so viele Wechselwirkungen auftreten, dass oftmals nur schwer zu erkennen ist, welche schließlich für eine Krankheit verantwortlich ist. Zudem haben viele Erkrankungen wie Diabetes mehrere Ursachen.

Doch im Zuge immer genauerer und günstigerer Genanalysen gibt es inzwischen durchaus wieder Erfolge auf dem Gebiet der Pharmakogenetik, also dem Einfluss der genetischen Ausstattung eines Patienten auf die Wirkung eines Arzneimittels. Bisher wurden Medikamente meist so verordnet, als würden sie jedem Patienten gleich helfen. Doch viele der Präparate müssen erst im Körper zerlegt werden, um zu wirken. Einige Menschen aber können bestimmte Stoffe kaum oder gar nicht umwandeln.

Andere wiederum scheiden einen Arzneistoff viel zu schnell aus, sodass das Medikament selbst in hoher Dosierung keinen Effekt hat. Im schlimmsten Fall vertragen Patienten mit einer bestimmten genetischen Konstellation ein Präparat nicht. Lebensbedrohende Nebenwirkungen können die Folge sein. Doch seitdem sich das menschliche Erbgut oder auch die DNA einer Krebszelle für nicht einmal 1000 Euro sequenzieren lässt – und das quasi über Nacht –, können diese Besonderheiten vergleichsweise leicht herausgefunden werden.

Patienten, die einen ersten Herzinfarkt hatten oder mit dem Risiko eines Infarkts leben, erhalten vielfach Cholesterinsenker. Einige reagieren jedoch auf gängige Präparate wie Simvastatin mit schweren Muskelschäden. Erste Kliniken analysieren daher bereits routinemäßig die Erbsubstanz ihrer Patienten, um solche Unverträglichkeiten zu ermitteln und in Datenbanken bereitzuhalten. Die Ärzte sind dadurch vor der Verordnung gewarnt.

Auch Wirkstoffe wie Clopidogrel oder Warfarin, die Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern sollen, werden mitunter erst nach einem Gentest eingesetzt.

Ob ein Patient auf ein bestimmtes Antidepressivum anspricht, zeigt sich bislang meist erst nach sechs bis zwölf Wochen. Das ist, auch wegen der teils massiven Nebenwirkungen der Psychopharmaka, eine quälend lange Zeit. Immer wieder begehen depressive Menschen Selbstmord, bevor sie eine wirksame Therapie erhalten. "Meiner Einschätzung nach ist die Depression die am schwersten zu ertragende Erkrankung überhaupt", sagt Reinhard Haller aus dem österreichischen Vorarlberg. Und mit Hinweis auf aktuelle Zahlen der WHO warnt der Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut eindrücklich: "In 20 Jahren dürfte die Depression die Krankheit Nummer eins sein."

Schnellere Hilfe und eine objektive Entscheidungsgrundlage verspricht hier der ABCB1-Gentest, den Wissenschaftler des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie entwickelt haben. Dabei suchen die Genetiker in der DNA aus den Blutzellen des Patienten nach erblichen Varianten eines ganz bestimmten Gens. Das Testergebnis zeigt dem Arzt vorab, ob der Patient eine höhere Dosis des Medikaments oder gar ein vollkommen anderes Präparat benötigt.

Jahr für Jahr erkranken deutschlandweit rund 280.000 Patienten an einer Blutvergiftung. Ursache ist eine überschießende Immunreaktion gegen eine Infektion. Die Abwehrzellen beginnen plötzlich, die Organe des eigenen Körpers anzugreifen und aufzulösen. Es drohen Schock, Multiorganversagen und der Tod. Nur der schnelle Beginn einer zielgerichteten und effektiven Therapie mit Antibiotika und Infusionen sowie die Stabilisierung des Blutkreislaufs kann den Patienten dann noch retten.

Eine Sepsis kann durch unterschiedlichste Auslöser entstehen: eine äußere entzündete Wunde, eine Lungenentzündung, ein Harnwegsinfekt. "Doch Sepsis-Patienten werden im Grunde genommen zunächst alle gleich behandelt, nämlich symptomatisch", sagt Michael Adamzik von der Uniklinik Bochum. Die Folge ist, dass jeder dritte Patient an der Blutvergiftung stirbt. Um das zu ändern, hat der Intensivmediziner zusammen mit Kollegen das Projekt SepsisDataNet.NRW ins Leben gerufen.

Drei Jahre lang wollen die Ärzte die medizinischen Daten von Tausenden Sepsispatienten sammeln, um per Datenanalyse Muster und Regelmäßigkeiten zu erkennen. "Damit werden wir dann wohl Europas größte Bio-Datenbank im Bereich der Sepsisforschung haben", sagt Projektleiter Adamzik. Auf Grundlage der Datenmengen könnten die Mediziner dann individualisierte Therapien für jeden einzelnen Patienten mit Blutvergiftung ableiten.

Einen Schritt weiter ist Jürgen Rulands Team an der Technischen Universität München. Es untersucht die angeborene Widerstandskraft gegen Infektionen durch Candida-Hefepilze. Daran erkranken laut einer Studie der University of Aberdeen weltweit jährlich rund 400.000 Menschen. Demzufolge verlaufen 46 bis 75 Prozent dieser Mykosen tödlich, insbesondere bei durch Krankheit geschwächten Personen. Zudem gibt es nur wenige Wirkstoffe gegen Pilzerkrankungen.

Vor einem Jahr konnte Ruland mit seinen Kollegen zeigen, dass unter den Erkrankten eine Genvariante besonders oft vertreten war. Der daraus resultierende Mangel an sogenannten Vav-Proteinen machte die Betroffenen anfälliger. Es ließe sich nun "ein Risikoprofil für Chemotherapie-Patienten entwickeln", sagt Ruland. Sie könnten engmaschiger überwacht und gegebenenfalls präventiv behandelt werden.

"Tumor ist nicht gleich Tumor", sagt Peter Schirmacher, Direktor des Pathologischen Instituts an der Uniklinik Heidelberg. Ein Tumor verändere sich ständig, auch und gerade infolge einer Therapie. Selbst innerhalb einer Wucherung können sich die Krebszellen in Eigenschaft und Aggressivität erheblich unterscheiden. Da liegt es auf der Hand, dass Therapien umso gezielter wirken, je besser sie auf den jeweiligen Tumor und seine genetische Ausstattung abgestimmt sind – bis hin zur hochindividuellen Präzisionstherapie für den jeweiligen Patienten. "Die Möglichkeiten moderner Krebstherapien stellen zugleich aber enorme Anforderungen an die Diagnostik", betont Peter Schirmacher. "Je präziser eine Therapie wirken soll, desto genauer muss ein Tumor auch charakterisiert werden."

Wie so etwas aussehen könnte, beschreibt Holger Sültmann vom Deutschen Krebsforschungszentrum. Der Leiter der Arbeitsgruppe Krebsgenomforschung arbeitet daran, eine Biopsie, also die Entnahme von Tumorgewebe zur genaueren Untersuchung, überflüssig zu machen. Bei Biopsien streuen nämlich häufig durch die Verletzung des Tumors Krebszellen. Außerdem: "Anders als Tumor-Gewebeproben lässt sich Blut problemlos mehrmals in kurzen Abständen abnehmen und auf Tumor-DNA untersuchen", so Sültmann. Denn der Tumor gibt ständig Zellen ab, die im Blut zirkulieren. Über eine molekulargenetische Analyse dieser Zellen können die Wissenschaftler ein genetisches Profil erstellen und den Krebs gezielt an seinen Schwachstellen angehen.

Schon heute funktioniere diese "Liquid Biopsy" – die flüssige Biopsie – in einigen Fällen recht gut, sagt Sültmann. Zum Beispiel bei der Therapieüberwachung bestimmter Lungenkrebs- oder Brustkrebsarten. "Wir können etwa verfolgen, ob und wie lange der Krebs auf ein Medikament anspricht. Krebszellen entwickeln nämlich gegen viele Wirkstoffe rasch Resistenzen."

Auf solches molekulares Profiling hat sich etwa das amerikanische Unternehmen Foundation Medicine aus Cambridge spezialisiert. Rund um die Uhr lesen automatische Sequenziermaschinen die Tumor-DNA aus Patientenproben aus. Algorithmen vergleichen das Ergebnis mit hinterlegten Genmustern vieler Tausend Patienten. Zugleich sucht die Software in Datenbanken nach passenden Studien, ermittelt die wirksamsten Medikamente und listet die Präparate auf, die sich am ehesten mit der genetischen Ausstattung des Patienten vertragen. Am Ende erhält der Arzt ein komplettes Dossier zu dem Patienten mit Therapieempfehlungen.

(inwu)