Mein erster Cyberkrieg

In einer aufwendigen Übung mit mehr als 800 Menschen hat die Nato in Estlands Hauptstadt Tallinn eine Woche lang den virtuellen Kampfeinsatz geprobt.

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Mein erster Cyberkrieg

Immer wenn bei einem der Verteidigerteams ein Treibstofftank in die Luft fliegt, wird im Kontrollzentrum automatisch ein kleiner Funkenstrahl gezündet.

(Bild: Foto: Nato)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Tom Schimmeck

Früher war ein Manöver wohl gleichbedeutend mit Gebrüll und Geballer, mit Schlammlöchern und kreischenden Panzerketten. Glaube ich zumindest. Ich war nie dabei.

Mein Manövergelände ist ein Hotel im Zentrum von Tallinn, ein Wolkenkratzer. Wohlklimatisiert, mit weicher Auslegeware und flüsterleisen Fahrstühlen. Als ich den großen Ballsaal im sechsten Stock betrete, den größten des Landes, sehe ich Hunderte Monitore, Tastaturen, Mäuse auf langen Tischreihen. Die LAN-Kabel am Boden dürften zusammengeknotet bis zum Mond reichen; die Wände gepflastert mit Displays, die Karten zeigen, kryptische Tabellen, Diagramme, Flugbahnen. Und überall wuseln Menschen, viele emsige Menschen.

Ich bin als Rekrut der Nato hier. Hätte ich, ein amtlich anerkannter Kriegsdienstverweigerer, mir nie träumen lassen. Werde mit über 800 Leuten eine Woche lang den Cyberkrieg üben, bei „Locked Shields“, der wohl größten und komplexesten Cyber-Einsatzübung der Welt.

Alle im Saal tragen farbige T-Shirts. Die Weißen kontrollieren das Spiel, die Grünen kümmern sich um die Technik, die Gelben um das Lagebild. Die Angreifer tragen Rot und sitzen separat, nebenan in Ballsaal 3. Die blauen Teams sind die Verteidiger – aber die sind nicht hier. Sie schwitzen – jedes für sich – in den Cyberzentren der teilnehmenden Staaten, sind mit uns via Datenleitung, Skype, Chat, E-Mail, Telefon verbunden. Diesmal sind 18 Staaten und ein Nato-Team beteiligt.

Wir vom „Media Team“ sitzen am Rand des Saals, unter der großen „Visualisierungswand“ – zwanzig Großmonitore, die den Zustand diverser Systeme zeigen: Luftüberwachung, Dohnenflugbahnen, Treibstofftanks, Stromversorgung. Wir testen unsere Mikros, die Mail-, Chat- und Skype-Kanäle. Wir, das sind die Esten Liisa, Toomas, Kadri, Mari, Kaur und Eda, die eigentlich Dichterin ist. Und die Internationalen: der Tscheche Martin, der Brite Steve, der Spanier José und ich.

Seit Monaten schon arbeiten die Techniker an den etwa 3000 virtuellen Maschinen unserer Übungswelt. „Wir haben eine Umgebung aufgebaut, die so nah wie möglich am Leben ist“, sagt Rain Ottis, der Chef des Manövers. Soll wohl heißen: in der möglichst viel möglichst gleichzeitig kaputtgehen kann. Ottis ist ein kleiner, gut gelaunter Glatzkopf und im Alltag Professor an der TU Tallinn. Unauffällig, eher sanft. Er sagt: „Falls etwas passiert: Die Notausgänge sind dort, rechts und links.“

Es wird nicht unsere Aufgabe sein, möglichst wahrheitsgemäße Berichte über das Kampfgeschehen zu liefern. Sondern eher das zu produzieren, was Medien neuerdings so oft unterstellt wird: „Fake News“. Sprich: Gerüchte zu kolportieren, Propaganda zu verbreiten, bissige Kommentare zu schreiben und den blauen Teams mit dummdreisten Fragen maximal auf die Nerven zu gehen. Wir werden Teil der Kriegshandlung sein – Mit-Angreifer, Mit-Verteidiger. Das entspricht nicht meinem journalistischen Ideal. Aber es ist lehrreich. „Wir sind die, die die Welt erschaffen“, sagt Liisa, unsere Chefin.

Die Übung startet um 5.30 Uhr Zulu. Zulu ist Militärsprech für die Greenwich-Zeit. Hier in Tallinn ist es drei Stunden später. „Startex!“, brüllen sie jetzt überall. Start of the exercise. Es geht los. Unser erstes „Inject“ ist für 7 Uhr Zulu geplant. Injects – das sind Zwischenfälle, die dem Übungsgeschehen einen Kick geben, den Blauen tüchtig einheizen sollen. Unser Inject ist ziemlich fies: „Crimsonia Tomorrow“, einer unserer Zeitungen, erscheint an diesem Morgen mit der Schlagzeile: „Berylia wird grob, benutzt Drohnen als chemische Waffen“. Darunter eine lärmende Story, in der behauptet wird, das Land Berylia habe eine Nervengasdrohne entwickelt, die es verdeckt einsetze und an Schurkenstaaten und Terrorgruppen in alle Welt verkaufe. Ein Knüller.

Dazu muss man wissen, dass Berylia das Reich der Guten ist. Jedes blaue Team spielt Berylia, einen vage definierten Inselstaat irgendwo im Atlantik, der vor allem dank seines Öl- und Gassektors und der Exporte seiner Drohnenindustrie prosperiert. Die Hauptstadt heißt Belhi, der Premierminister Ernesto Dubois. Er hat just die Wahlen gewonnen. Berylia ist eine parlamentarische Demokratie mit Pressefreiheit und allem Pipapo. Die wichtigste Zeitung: der „Berylia Miracle“.

Peinlich, dass Berylia vor der Weltöffentlichkeit nun plötzlich als Produzent von Nervengasdrohnen dasteht. Wasser auf die Mühlen des östlichen Nachbarn Crimsonia, der nicht ganz so frei und demokratisch ist, aber umso begeisterter, wenn es Berylia an der Kragen geht. In Crimsonia ballen sich Macht und Reichtum in den Händen hoher Staatsfunktionäre und ihrer Freunde. Field Marshal Mark Agrippa, das Oberhaupt der crimsonischen Streitkräfte, ruft angesichts der „Tatsachen“ bereits laut nach dem UN-Sicherheitsrat. Der Vorgang sei „abscheulich“ und überschreite „alle roten Linien“.

Besonders perfide: Die Roten haben den Blauen eine mediale Bombe untergejubelt. Eigentlich schlummerte auf den virtuellen Regierungsservern von Berylia lediglich ein langweiliger Prospekt für eine Landwirtschaftsdrohne, Typ BER-MGFY-2017, die zum Besprühen vom Feldern eingesetzt wird. Doch die Roten haben es geschafft, unauffällig ein Wort auszutauschen. Statt „Chemikalien ihrer Wahl“ steht dort nun: „Nervengifte ihrer Wahl“.

Wir feuern E-Mails ab, voller Fragen über genau diese Drohne, deren Nutzung, Käufer, Einsatzorte. Im Skript steht: „Veröffentlichen Sie neue Nachrichten über die Drohne, mit Schwerpunkt AUZ – Angst, Unsicherheit, Zweifel. Stellen Sie Nachfragen. Richten Sie sich auf Bestätigungen, Lügen und Blockaden ein.“ Das Schlimme ist: Es macht Spaß. Eda, die Dichterin, erklärt mir, dass im Estnischen für Dichten und Lügen dasselbe Wort verwendet wird: luuletama.

(wst)