Mensch oder Maschine?

Vor 10 Jahren schlug der IBM-Rechner "Deep Blue" den Schach-Weltmeister Garri Kasparow. Der US-Philosoph Daniel C. Dennett nimmt den Jahrestag zum Anlass, in Technology Review über unser unreflektriertes Verständnis vom Menschsein nachzudenken.

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Von
  • Daniel C. Dennett
Inhaltsverzeichnis

In der Öffentlichkeit war Schach immer etwas Besonderes. Es ist kein Buchstabierwettbewerb und kein Gesellschaftsspiel, bei dem überprüft wird, wer die meisten Tatsachen auswendig lernen und wieder abrufen kann. Im Schach, so scheint es, ist wie in der Kunst und der Wissenschaft viel Raum für Schönheit, Feinheit und tiefgehende Originalität. Schach braucht, so dachten wir lange, brillantes Denken – etwas, das für immer außerhalb der Fähigkeiten eines Computers bleiben musste..

Und dennoch: Seit mehr als einem Jahrzehnt muss die Menschheit mit der Tatsache leben, dass eine der höchsten Auszeichnungen unseres Geisteslebens, die des Schachweltmeisters, von Mensch und Maschine geteilt werden muss. Deep Blue, der berühmte IBM-Schachcomputer, schlug den Champion Garri Kasparow 1997 in einem viel beachteten Spiel. Wir konnte es dazu kommen? Und welche Lektionen haben wir aus dieser schockierenden Tatsache gelernt? Mussten wir anerkennen, dass Maschinen ebenso gut denken können wie die intelligentesten lebenden Menschen unter uns – oder dass Schach eben kein so tiefgehendes Spiel ist, wie wir immer dachten?

In den nachfolgenden Jahren gab es noch zwei weitere kritische Partien Mensch gegen Maschine: Ein hart umkämpftes Unentschieden zwischen Wladimir Kramnik und "Deep Fritz" in Bahrain 2002 und ein ebensolches Ergebnis zwischen Kasparow und "Deep Junior" in New York 2003. Diese Wettkampfserie wurde von der Sportkommission der Stadt New York auch noch als erste Schachweltmeisterschaft klassifiziert, die sowohl vom Schachweltverband Federation Internationale des Echecs (FIDE) und der "International Computer Game Association" (ICGA) offiziell anerkannt wurde.

Was ist Schach?

Das Urteil, dass Computer dem Menschen im Schach gleichwertig sind, könnte also kaum offizieller sein. All die Ausreden, müssen wir uns eingestehen, wirken nur noch vorgeschoben: "Gut, aber Computer spielen Schach eben anders als der Mensch" oder "Was die Maschine da tut, ist eigentlich gar kein Schach". Was, bitte schön, ist dann Schach?

Diese Frage ist keineswegs trivial. Die besten Computerschachprogramme der Welt sind von den besten menschlichen Spielern inzwischen kaum zu unterscheiden – mit einer Ausnahme: Der Rechner weiß nicht, wann er ein Unentschieden akzeptieren muss. Computern wird, zumindest in ihrer heutigen Form, nie langweilig und ihnen wäre es auch niemals peinlich, den Respekt anderer Spieler zu verlieren, wenn sie zu früh aufgäben.

Dies sind Seiten des menschlichen Lebens, mit denen auch die Profis im Schachspiel immer wieder kämpfen müssen – und die sie manchmal auch ausnutzen. Das Angebot oder die Annahme eines Unentschieden oder gar die Aufgabe eines Spiels sind Entscheidungen, die die hermetisch abgeschlossene Welt des Schach plötzlich mit der realen Welt in Kontakt bringt. Es ist eine Welt, in der das Leben kurz ist und es Dinge gibt, die wichtiger sind als das Spiel mit den Figuren. Diese Grenzüberschreitung lässt sich zwar mit Zufallsroutinen simulieren oder von den Betreuern des Rechnersystems übernehmen. Doch menschliche Spieler versuchen häufig, ihre Gegner einzuschüchtern oder gar lächerlich zu machen – das ist wie das versteckte Schieben und Foulen im Fußball. Das Fehlen dieser menschlichen Eigenschaften beim Computergegner bedeutet folglich, dass man sie allein mit fairen Mitteln schlagen muss. Und ist das nicht etwas, was Kasparow und Kramnik offenbar nicht konnten?

Egal. Fakt ist: Maschinen aus Silizium beherrschen das Schachspiel nun besser als die Maschine Mensch. Es ist eigentlich keine große Sache. Doch diese ruhige und vernünftige Reaktion halten die meisten Beobachter leider nicht durch. Sie mögen die Vorstellung gar nicht, dass ihre Gehirne eigentlich wie ein Apparat aus Proteinen funktionieren. Als Deep Blue Kasparow 1997 schlug, betonten viele Kommentatoren, dass die "Brute Force"-Methode, mit der der Rechner mit roher Gewalt alle möglichen Lösungswege durchrechnet, doch so ganz anders sei als das kreative Erforschen möglicher Antworten, das Kasparow beim Überlegen seiner Züge verwendet. Aber das ist einfach nicht richtig.

Kasparows Hirn besteht natürlich aus organischem Material und besitzt eine Architektur, die sich stark von der von Deep Blue unterscheidet. Und dennoch führt es doch eine stark parallelisierte Suche durch, die heuristische Techniken verwendet, um keine Zeit für unnütze Zugerwägungen zu verschwenden.

Natürlich gibt es keinen Zweifel, dass die Investitionen, die Kasparow und Deep Blue in ihr Training steckten, sich voneinander unterscheiden. Kasparow zieht gute Spielprinzipien aus vergangenen Matches heraus, so dass er sie wieder abrufen kann – und kann dadurch andere der vielfältigen Möglichkeiten ignorieren, wie das Spiel weitergehen könnte. Deep Blue musste selbst solche Züge hingegen alle durchrechnen. Kasparows Vertrauen auf diese Einsicht bedeutet auch, dass die Form seines Suchpfads, mit dessen Hilfe er nach Lösungsmustern fahndet und Züge vorausberechnet, sich von der von Deep Blue unterscheidet.

Doch dies bedeutet nicht unbedingt eine völlig andersartige Gesamtsuche nach dem nächsten Zug. Immer dann, wenn Deep Blue einen bestimmten Bereich von Zügen untersucht hatte, den er nicht weiter verfolgen wollte, konnte er dieses Wissen später erneut verwenden – genauso wie Kasparow. Ein großer Teil der analytischen Arbeit wurde von Deep Blues Designern durchgeführt, doch auch Kasparow profitierte von Hunderttausenden Mannjahren Arbeit anderer Spieler, die ihm Kollegen, Trainer und Bücher vermittelten.

Brute Force von Mensch und Maschine

In diesem Zusammenhang ist es interessant, einen Vorschlag von Bobby Fischer zu untersuchen, der einmal vorgeschlagen hat, das Schachspiel zu einer Art von rationaler Reinheit zurückzuführen. Dabei werden die Regeln des Zufalls verwendet, um die Grundaufstellung der Figuren festzulegen. Fischers Zufallsschach würde den Berg an auswendig gelernten Eröffnungen fast vollständig nutzlos machen – für Mensch wie Maschine. Nur in weniger als einem Prozent aller Fälle ließen sie sich verwenden.

Die Schachspieler wären also auf die grundlegenden Prinzipien des Spiels zurückgeworfen – schwere gestalterische Wettkampfarbeit in Echtzeit. Es ist unklar, ob diese Regeländerung eher Menschen oder Computern helfen würde. Es hängt stark davon ab, welche Art von Schachspieler vor der Maschine sitzt – und wer zuvor besonders stark auf das Auswendiglernen setzte.

Die Züge, die es beim Schach zu untersuchen gilt, sind in Echtzeit einfach zu vielfältig – selbst für einen Rechner wie Deep Blue. Genauso wie Kasparow wird er also seine Suchpfade reduzieren und jeweils ein kalkuliertes Risiko auf sich nehmen. Kasparow macht das nicht anders. Sowohl Mann als Maschine führen also große Mengen an "Brute Force"-Berechnungen durch – auf ihrer jeweils ganz eigenen "Architektur". Was wissen unsere Nervenzellen schließlich von Schach? Alles, was sie tun, muss auf die eine oder andere Art mit roher Gewalt erfolgen.

Es mag sein, dass ich hier voreilige Schlüsse ziehe, in dem ich Kasparows Hirn auf diese Art beschreibe – aber irgendwie muss man es ja. Außerdem wurde noch kein anderer Weg als dieser "rechnerische" entdeckt. Es reicht nicht aus, einfach zu sagen, dass Kasparow Dinge wie "Einsicht" und "Intuition" verwendet. Das würde nämlich bedeuten, dass Kasparow selbst nicht sagen kann, wie er diese guten Ergebnisse erzielt. Weil niemand wirklich weiß, wie Kasparows Gehirn funktioniert (nicht einmal Kasparow selbst), gibt es auch im Umkehrschluss keinen Beweis dafür, dass der Schachmeister wirklich völlig anders vorgeht als Deep Blue.

Das sollte man immer bedenken, wenn jemand behauptet, Kasparow spiele Schach "natürlich ganz anders" als ein Rechner. Was bitte schön könnte uns dazu motivieren, eine solche Feststellung ohne Beweise zu wagen? Wunschdenken? Angst vor der Maschine?

In einem Editorial, das zur Zeit des Deep-Blue-Matches 1997 erschien, schrieb die "New York Times" dazu: "Die tatsächliche Bedeutung dieses Spiels voller Hype liegt doch darin, dass wir gezwungen werden, zu überlegen, was den Menschen ausmacht. Wir glauben, dass es etwas gibt, was uns von den Maschinen, die wir schaffen, absetzt. Vielleicht ist dies mit Konzepten wie Kreativität, Intuition, Bewusstsein, Ästhetik, Moral, Mut oder gar mit der Fähigkeit, Angst vor Deep Blue zu haben, zu erklären."

Die "Fähigkeit, Angst vor Deep Blue zu haben"? Ist das wirklich eine unserer Qualitäten, die uns so wichtig sind? Laut der "New York Times" von 1997 schon: "Niemand weiß genug über diese Konzepte, um sagen zu können, dass sie auf lange Sicht Maschinen fremd bleiben werden. Es wäre aber schön, dies anzunehmen."

Eine Art von wunderbarem Maschinenkind

Warum ist das schön? Wäre es nicht genauso schön oder noch schöner, wenn es uns Menschen gelingen würde, eine Art von Maschinenkind zu gebären, das noch wunderbarer als unsere biologischen Kinder ist? Das Match zwischen Kasparow und Deep Blue löste zwar nicht die größten metaphysischen Fragen, sorgte aber dafür, die Schwächen in der Argumentation weit verbreiteter Annahmen offen zu legen. Viele Menschen halten sich immer noch gerne an der Vorstellung fest, dass unser Geist aus einer mysteriösen, immateriellen Seele besteht – oder, genauso romantisch, ein Produkt eines Gehirns ist, das aus einem Wundergewebe besteht, das nicht nachvollziehbare Prozesse durchführt, die rein gar nichts damit zu tun haben, wie Computer Dinge berechnen. Geradezu alchimistisch ist diese Idee. Oft scheint es so, als könnten wir, sollten wir nur Maschinen aus Proteinen sein, nicht verantwortungsvoll, liebenswert und wertvoll sein.

Wenn man diesen Schluss attraktiv findet, zeigt das allerdings kein tiefgehendes Verständnis für Verantwortung, Liebe und Werthaltigkeit des Menschen, sondern ist nur eine flache Anerkennung für die Leistungsfähigkeit von Maschinen, in der Billionen Teilchen werkeln.

Mehr zum Thema Künstliche Intelligenz finden Sie im Fokus der neuen Ausgabe von Technology Review. (bsc)