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Missing Link: "Das Kapital" von Karl Marx erschien vor 150 Jahren

Detlef Borchers, Jürgen Kuri
Eugene Delacroix: Die Freiheit führt das Volk

Eugene Delacroix, Die Freiheit führt das Volk: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." (Ein Zitat, ebenfalls von Karl Marx, aber nicht aus dem "Kapital", sondern aus dem "Kommunistischen Manifest")

(Bild: Eugène Delacroix, Musée du Luxembourg, Paris, Zitat aus Manifest der Kommunistischen Partei)

Vor 150 Jahren kam "Das Kapital, erster Band, heraus. Es war der einzige von geplanten sechs Bänden, der zu Lebzeiten von Karl Marx veröffentlicht wurde. Und er begründete eine Exegese-Geschichte, die auch sehr deutsche Trauerspiele beinhaltet.

"Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine 'ungeheure Warensammlung', die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware." Die Ware hat einen Gebrauchswert für den Konsumenten der Ware und einen Tauschwert: Er muss die Ware bezahlen. Mit Geld. So beginnt "Das Kapital" von Karl Marx, in mühsamer Arbeit in der British Library in London geschrieben. Es beginnt nicht mit der Arbeit und der restlosen Konsumierung der Arbeitskraft des Arbeiters im Produktionsprozess, um den Mehrwert aus ihm herauszupressen.

Karl Marx (geb. 5. Mai 1818; gest. 14. März 1883)

Karl Marx (geb. 5. Mai 1818; gest. 14. März 1883)

Seit 150 Jahren finden Partei-Kommunisten diesen Anfang skandalös. Und nicht nur das sorgte besonders in Deutschland für eine ignorante Rezeption. In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg stritten SPD, USPD, KPD und unabhängige Linke schon um den "wahren Marx". Später schwankte die Exegese zwischen realsozialistischem Selbstrechtfertigungsdruck im Osten, der das Reale am DDR-Sozialismus zur wirklichkeitsgewordenen Utopie im Marxschen Sinne verklärte, und den realitätsfernen Parteidoktrinen aus den Lese- und Schulungszirkeln maoistischer Fraktionen und Kleinstgruppen im Westen, die in differierenden Interpretationen noch der kleinsten Nebensätze jeweils doch nur ihren eigenen Dogmatismus gerechtfertigt sahen. Kein Deut zu sehen, kein Gedanke zu entdecken, was in die undogmatische, befreiende Theoriebildung beispielsweise der französischen und italienischen Linken eingemündet hätte: die Geschichte des "Kapital" hierzulande ist ein deutsches Trauerspiel.

Mario Tronti formulierte schon 1966 in "Arbeiter und Kapital [1]" unter der Überschrift "Marx gestern und heute": "Eine Untersuchung, die die Diskussion über die aktuelle Gültigkeit einiger grundlegender marxistischer Thesen wiederaufnehmen will, darf Marx nicht mit seiner, sondern musihn mit unserer Zeit konfrontieren. Das Kapital ist aufgrund des heutigen Kapitalismus zu beurteilen. Damit ist ein für allemal jene kleinbürgerliche Banalität zu Fall gekommen, derzufolge das Marxsche Werk zugleich Produkt und Deutung einer Gesellschaft kleiner Warenproduzenten ist. Eine grundlegende These von Marx lautet: Auf der gesellschaftlichen Basis des Kapitalismus bewirkt der historische Prozeß selbst immer eine fortschreitende logische Abstraktion, die den Gegenstand aller bloß zufälligen, unmittelbar unter ihre kontingente Präsenz subsumierten Elemente zerstört, um dann dessen bleibende, notwendige Seiten zu entdecken und zu bewerten; jene Seiten nämlich, die dieses Objekt als besonderes Produkt einer bestimmten historischen Realität bezeichnen und es damit für die gesamte Breite dieser bestehenden Realität gültig machen. Der Prozeß der kapitalistischen Entwicklung selbst betreibt die Vereinfachung seiner eigenen Geschichte, macht die eigene Natur immer reiner, befreit sich von allen unwesentlichen Widersprüchen, um jenen Grundwiderspruch zu ermitteln, der ihn zugleich enthüllt und verdammt. In diesem Sinne ist die kapitalistische Entwicklung die Wahrheit des Kapitalismus selbst: denn allein die kapitalistische Entwicklung enthüllt das Geheimnis des Kapitalismus."

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Für Partei-Kommunisten waren solche Thesen der italienischen Operaisten [3] nicht einfach nur skandalös, sondern schlicht Verrat – und nur mit stalinistischen Verfolgungsphantasien zu ertragen. Kein Wunder, verloren die Dogmatiker nicht nur die Interpretationshoheit, sondern schlicht ihre Daseinsberechtigung, wie dies – etwas vorsichtig – auch bei der operaistischen Renaissance in Deutschland herausgearbeitet wurde [4]: "Während in der Erscheinung der Klassenbeziehungen alles dafür spricht, daß die Bewegungen der Gesellschaft vom Kapital ausgehen, und sich die Verwalter der offiziellen 'Arbeiterbewegung' von dieser Sichtweise leiten ließen, wird hier ein radikaler Arbeiterstandpunkt vorgeschlagen."

Louis Althusser, einer der wichtigsten Marx-Interpreten, empfahl allen Mitgliedern der französischen kommunistischen Partei, mit dem 2. Abschnitt des Werkes [5] "Die Verwandlung von Geld in Kapital" zu beginnen, weil die "verborgene Stätte der Produktion" für Arbeiter unmittelbar verständlich sei. Sicherheitshalber fügte er hinzu, dass der Abschnitt sieben Mal hintereinander zu lesen sei, ehe die Meinungsbildung ansetzen könne. Heutzutage helfen zudem neuere Marx-Interpretationen und -Fortführungen beim Verständnis, vom Anarchisten David Graeber [6] über sogenannte postoperaistische Theoretiker wie Toni Negri/Michael Hardt [7] bis hin zum französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty [8].

Karl Marx brachte die zweite Hälfte des Manuskripts zum ersten Band höchstpersönlich mit dem Dampfer am 10. April 1867 nach Hamburg. Zu groß war seine Sorge, dass Bismarcks Geheimagenten sein Werk abfangen könnten. Angeblich war eine Agentin auf ihn angesetzt, aber die Damen waren bei der sehr stürmischen Überfahrt "seasick kotzend" außer Gefecht gesetzt, wie Marx an Friedrich Engels schrieb, den Freund und Finanzier. Außerdem war Marx mit der Ablieferung der auf 6 Bände angelegten Universalgeschichte des Kapitalismus (a.k.a. "Saubuch") nach zehnjähriger Arbeit vertraglich bereits um zwei Jahre verspätet.

"Das Kapital", Titelblatt der Erstausgabe von 1867

"Das Kapital", Titelblatt der Erstausgabe von 1867

Er wollte seinen Verleger Meissner davon überzeugen, schon einmal mit der Veröffentlichung anzufangen. Marx hatte große Pläne für seine Gesamtschau der politischen Ökonomie: "1. Das Kapital. 2. Grundeigentum. 3. Lohnarbeit. 4. Staat. 5. Auswärtiger Handel. 6. Weltmarkt." Erst heute wird mit den umfassenden historisch kritischen Veröffentlichungen [9] klar, wie bruchstückhaft der beste Rohbau aller Zeiten [10] geraten war, aus dem Engels noch zwei weitere Bände zusammensetzte.

Am 14. September 1867 erschien eine Notiz im Börsenblatt des deutschen Buchhandels, dass ein Buch namens "Das Kapital" erschienen ist. Daraus schlussfolgern die Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), "dass der erste Band des ‚Kapitals’ etwa am 11. September 1867 herauskam." Ein sonderlicher Verkaufsschlager war das Buch zunächst nicht, das gleichzeitig bei Meissner erschienene Buch "Die Käfer von Hamburg" von einem Dr. C.H. Preller verkaufte sich besser.

Heute wird diese Erstausgabe in einer Ausstellung in Hamburg [11] gezeigt und steht für 1,5 Millionen Euro zum Verkauf, ein Hinweis auf den Fetischcharakter der Ware. Friedrich Engels schrieb etliche Verisse und schickte sie an bürgerliche Zeitungen, damit Ökonomen auf die "Parodie der Ökonomie" aufmerksam wurden.

Die berühmten blauen Bände aus dem damaligen Ostberliner Dietz-Verlag: Marx-Engels-Werke (MEW), "Das Kapital" fand sich in Band 23 bis 25.

Die berühmten blauen Bände aus dem damaligen Ostberliner Dietz-Verlag: Marx-Engels-Werke (MEW), "Das Kapital" fand sich in Band 23 bis 25.

Erst mit der zweiten deutschen Ausgabe von 1873 änderte sich das Bild und "Das Kapital" wurde zum meistzitierten Buch seiner Zeit. Besonders angetan war man von wissenschaftlichen Beweis, dass der Kapitalismus zusammenbrechen [12] wird. Aktuell steht das Buch im Schatten der großen Termine und vor allem der Mega-Ausstellung, die 2018 zum 200. Geburtstag von Karl Marx in Trier stattfinden wird. Dort ist im ehemaligen Wohnhaus von Karl Marx ein "Ein-Euro-Shop" untergebracht, die andere Seite der Warenform.

In Zeiten, in denen die Gesellschaft Technologien wie die öffentliche Gesichtserkennung zur Verfolgung von Personen diskutiert, sei als Missing Link die großartige Prosa der "Abschweifung über produktive Arbeit" zitiert:

"Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als »Ware« auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein. Ganz abgesehn von dem Privatgenuß, den, wie uns ein kompetenter Zeuge, Prof. Roscher, [sagt,] das Manuskript des Kompendiums seinem Urheber selbst gewährt.

Das Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels auf dem ehemaligen Marx-Engels-Forum in Berlin. So versteinert dürfte einem die Lektüre von Marx' Werken eigentlich nicht hinterlassen, man mag es aber als Sinnbild für die Marx-Exegese in der ehemaligen DDR betrachten.

Das Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels auf dem ehemaligen Marx-Engels-Forum in Berlin. So versteinert dürfte einem die Lektüre von Marx' Werken eigentlich nicht hinterlassen, man mag es aber als Sinnbild für die Marx-Exegese in der ehemaligen DDR betrachten.

Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schafffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.

Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen »Dienst«. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht nur Müllners »Schuld« und Schillers »Räuber«, sondern selbst »Ödipus« und »Richard der Dritte« beweisen. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen »Ausgleichungen« ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eien ganze Perspektive »nützlicher« Beschäftigungszweige auftun.

Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung der Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden (siehe Babbage) ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie strikes auf die Erfindung von Maschinen. Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationele Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden?" (jk [13])


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https://www.heise.de/-3825823

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Mario_Tronti_-_Arbeiter_und_Kapital.pdf
[2] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[3] https://www.wildcat-www.de/dossiers/operaismus/operaismus_dossier.htm
[4] https://www.wildcat-www.de/thekla/09/t09vorwo.htm
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Kapital._Band_I
[6] https://savageminds.org/2012/10/29/graebers-marxism-thoughts-on-debt/
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Empire_%E2%80%93_die_neue_Weltordnung
[8] http://www.chbeck.de/fachbuch/leseprobe/Leseprobe_das-Kapital-im-21-Jahrhundert.pdf
[9] http://blog.schockwellenreiter.de/2017/07/2017072503.html
[10] https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5428839/
[11] http://www.sueddeutsche.de/kultur/ausstellung-karl-marx-1.3659084
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Zusammenbruchstheorie
[13] mailto:jk@heise.de