Missing Link: Eine Medienrevolution, 500 Jahre später, oder: Der Medien Werk und Martin Luthers Beitrag

(Bild: Ernst Zeeh, Gemeinfrei (Creative Commons CC0))
95 Thesen, verfasst vom Theologie-Professor Martin Luther, schnell gedruckt und vom Pedell an die Wittenberger Kirchen genagelt: Am 31. Oktober vor 500 Jahren begann die größte Medienrevolution der menschlichen Geschichte.
Vor 500 Jahren ärgerte sich der Wittenberger Theologe und Augustiner-Mönch Martin Luther über den Handel mit Ablässen. Die gerade aus dem Mittelalter entlassenen Menschen sorgten sich um ihren Seelenfrieden am jüngsten Tag und sollten ihn mit Ablassbriefen erkaufen. Das hielt der sture deutsche Mönch für Unsinn, denn Gottes Gnade ist, in bibeltreuer Lektüre gewonnen, von all den Schachereien unabhängig. Die 95 Thesen, die er in Wittenberg an Kirchentüren anschlagen ließ, sind die "erste Extraausgabe der Weltgeschichte", wie Egon Friedell [1] es in Anlehnung an die Zeitungsausgaben seiner Zeit formulierte: Eine Medienrevolution veränderte die Welt.
"Der Buchdruck ist das letzte Geschenk (Gottes). Durch den Buchdruck nämlich sollte nach Gottes Wille der ganzen Erde die Sache der wahren Religion im Vergehen der Welt bekannt und in alle Sprachen ausgegossen werden. Er ist gewiss die letzte, unauslöschliche Flamme der Welt." (Martin Luther)
Informationsversorgung
Gott bedient sich der gedruckten Bibel, um seine Botschaft zu verkünden. Profaner gesagt: Durch den Buchdruck, durch die Fähigkeit zum selbständigen Lesen und Studieren der Bibel als Wissenschaft der Religion wurden die Menschen vor 500 Jahren erstmals von der göttlichen Informationsversorgung unabhängig. Jedes Mitglied der Kirchengemeinde konnte und sollte in der gedruckten und jederzeit verfügbaren Bibel lesen und mit dieser Hilfe zur Selbsthilfe seinen Gott, seinen eigenen Zugang zum christlichen Glauben finden.
Die von Luther nach den damals modernsten wissenschaftlichen Kriterien ins Deutsche übersetzte Bibel [3] sollte zu einem Medium werden, aus dem jeder Christ authentische Informationen von Gott erhalten konnte. Priester nach alter Art sollte es nicht geben, stattdessen heiratsfähige Prediger und vor allem Schulen, die die Menschen im Umgang mit den Informationen lehrten. Konsequent forderte Luther Bibliotheken für alle. Medienkompetenz 1.0 war es, Gott selbst zu erkennen und seine Lehre als freier Mensch anzunehmen.
Medienkompetenz 1.0
Welch grundlegende Veränderung bei der von Luther angestoßenen Reformation den Menschen veränderte, beschrieb der Linguist Michael Giesecke so: "Gott hat den Menschen als letztes Geschenk eine typografische Datenverarbeitungsanlage vermacht und sie zugleich mit seiner göttlichen Weisheit gespeichert. Alle notwendigen Informationen und Lehren können aus dieser Maschine abgerufen werden."
Doch wie kam es zur Revolution in der Informationstechnik? Im Jahr 1517 zog der Dominikaner-Mönch Johann Tetzel [4] wieder einmal durch die deutsche Provinz und verkaufte Ablässe, streng nach Tarif. Sodomie (homosexuelle Handlungen) kostete 12 Dukaten (was heutzutage rund 900 Euro entspräche), Kirchenraub 9, Hexerei 6 und Elternmord vergleichsweise günstige 4 Dukaten in einer Zeit, in der es noch keine Pflegeversicherung und Rente gab. Bei Tetzel konnte man sogar ein Ablassdepot für künftige Schandtaten anlegen, außerdem gab es Preissausschreiben und so etwas wie die Vorläufer der heutigen Rubbellose.
Nerv der Zeit
Die Merkantilisierung des Christenglaubens störte viele Theologen, nicht nur Luther. Auch die Landesfürsten ärgerten sich, wie viel Geld nach Abzug ihrer (stattlichen) Tantiemen zum Bau des Petersdoms in Rom über das Netzwerk der ersten Großbanken von Fugger und Bertolini geschickt wurde.
Der Augustiner Martin Luther traf durchaus den Nerv seiner Zeit, als er vor 500 Jahren in Wittenberg die 95 Thesen [5] veröffentlichte. "Der Ablass ist das Netz, mit dem man jetzt den Reichtum von Besitzenden fängt." Die Veröffentlichung solcher Thesen für den gelehrten Disput war an den Universitäten eine alltägliche Praxis und kaum ein Weltereignis.
Luther schickte seine Thesen an seine Vorgesetzten und gab sie in der deutschen und lateinischen Fassung an befreundete Drucker. Sie machten mit den Thesen und Stellungnahmen der Reformatoren wie ihrer Gegner ein großes Geschäft. Belegt ist der Fall des Druckers Johannes Froben aus Basel, der sich auf der Frankfurter Buchmesse Luthers Thesen besorgte und jeweils 600 Expemplare nach Spanien, Frankreich und Italien verkaufte. Der Historiker Heinz Schilling spricht deshalb vom "ersten großen Medienereignis" der Weltgeschichte, das dem Druck- und Verlagsgewerbe einen nahezu unerschöpflichen Absatzmarkt eröffnete.

(Bild: Peter H [6], Gemeinfrei (Creative Commons CC0 [7]))
"Das Buch"
Für Martin Luther waren die Thesen Teil seiner reformatorischen Arbeit, die 1520 mit den drei Schriften "An den christlichen Adel deutscher Nation", "Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche" und "Von der Freiheit eines Christenmenschen" ihren Höhepunkt erreichte. Mit ihnen wuchs das randständige Wittenberg zu Deutschlands größtem Buchdruckzentrum, wie Andrew Pettigree es in der "Marke Luther" nachweist.
Im Mittelpunkt aller Bemühungen von Luther aber stand "das Buch", die Bibel, deren authoritative Übersetzung Luther mit einem Holzschnitt als "Schutzmarke" dokumentierte und so das Urheberrecht entscheidend prägte: Das Monogramm "ML" mit Lamm, Kreuzfahne und Lutherwappen bezeugte die Urheberschaft: "Dies Zeichen sei Zeuge, daß solche Bücher durch meine Hand gangen sind; denn des falschen Druckens und Bücherverderbens [be]fleißigen sich itzt viel."
Der Glaube, im "Buch der Bücher" wissenschaftlich dokumentiert, löst die Autorität des Papstes ab. Mit dem "Buch der Bücher" "erfüllt sich der Sieg des schreibenden, druckenden, lesenden szientifischen Menschen, der die Neuzeit regiert" schrieb Egon Friedell.
Befruchtete Wissenschaft
Reformation und Wissenschaft befruchteten sich fortan gegenseitig. Im Gegensatz zu der von katholischer Seite kolportierten Geschichte vom Wissenschaftsfeind Luther [8] stand dieser der Wissenschaft nicht feindlich gegenüber. So lobte er die Medizin als Wissenschaft, die Lebens-Not des kranken Menschen zu lindern. Die Wissenschaft, "das Buch" zu lesen, beflügelte Wissenschaftler wie Johannes Kepler [9], das Buch der planetarischen Gesetze zu suchen oder Ärzte wie Andreas Vesalius [10], das Buch des Menschen aufzuzeichnen.
Letzterer hatte sein Studium nach der Universitätsreform von Luthers Mitstreiter Philip Melanchton begonnen, der die Anatomie für alle Studenten zum Pflichtfach machte. Spätere Wissenschaftler, die sich intensiv mit der Bibel beschäftigten, waren Blaise Pascal [11], ein Jansenist und vor allem Isaac Newton, ein Unitarier. (jk [12])
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[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Egon_Friedell
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[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Lutherbibel
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Tetzel
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/95_Thesen
[6] https://pixabay.com/de/users/Tama66-1032521/
[7] https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.de
[8] http://www.deutschlandfunk.de/luther-copernicus-narren.732.de.html?dram:article_id=222447
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Kepler
[10] https://en.wikipedia.org/wiki/Andreas_Vesalius
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Blaise_Pascal
[12] mailto:jk@heise.de
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