Missing Link: Ist das Ende der Killerspiel-Debatte erreicht?
Gamer der ersten Stunde kennen ihn seit Jahrzehnten: Den Streit ĂĽber Gewalt in Computerspielen. Die Forschung ist heute weiter. Zeit, die Debatte zu beenden.
Jemand hat sie um die Ecke gebracht, vom Bildschirm geputzt, bäm: Die Killerspieldebatte ist plötzlich weg. Wie ein Haufen Pixel, nachdem der Strom abgeschaltet wurde. Dabei gehört sie zum Kern des kulturellen und sozialen Erbes der Digitalisierung. Jahrelang tobte der Streit, zwischen Spielern und Forschern, Forschern und anderen Forschern, Politikern und Spielern: Macht Gaming aggressiv? Das war eine Debatte, die mindestens zwei Generationen geprägt hat.
Wer seit den 1980ern mit Computerspielen in Berührung kam, kennt das von besorgten Eltern und noch besorgteren Politikern. Stumpft das Zocken von Computerspielen wie "Doom", "Quake", "Duke Nukem", "Counter Strike" oder "Call of Duty" gerade junge Menschen ab? Führt es zu einer Normalisierung von Gewalt? An Glaubensbekenntnissen dazu war kein Mangel – und geforscht wurde emsig.
Ab auf den Index
Drei bekannte Buchstaben der frühen Computerspielezeit hießen: BPS. Denn wie sich das für Deutschland gehört, wacht eine Behörde über das Wohl der zarten Kinderseelen: die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften" (heute "Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz"). Die hatte von jeher einen umstrittenen Ruf, als Sittenwächter der Bundesrepublik setzte sie verschiedenste Medien auf den "Index".
Was auf diesem Index der jugendgefährdenden Medien landete, durfte je nach Entscheidung der BPS-Prüfer Jugendlichen nicht zugänglich gemacht, beworben oder überhaupt verbreitet werden. Das betraf neben Computerspielen vor allem Filme (vor den "Killerspielen" sorgten vor allem "Horror-Videos" für deutschlandweite Entrüstung).
1987 veröffentlichten etwa die Spaßband "Die Ärzte" ihr Album "Ab 18", aus Protest gegen die Indizierung zweier vorangegangener Alben. Das Indizierungsschreiben zierte die Rückseite Plattenhülle. Bis heute steht das Album aufgrund eines einzelnen darauf enthaltenen Titels auf dem Index, das Cover jedoch nicht mehr.
Die Praxis der BPS, später BPjS, dann BPjM – das M stand für Medien – war seit der Gründung 1954 oft umstritten. Ist die Indizierungspraxis überhaupt sinnvoll? Macht sie, wie manch anderes Verbot, langweilige Produkte erst spannend? "Zuschlagen, bevor die BPS es tut", rezensierte ein Computermagazin 1994 ein klassisches Prügelspiel mit zu vielen roten Pixeln unzweideutig.
Das Spiel – "Mortal Kombat II" – wurde auf Antrag des Jugendamts Bochum von der BPS indiziert. Und dann von einem bayerischen Staatsanwalt beschlagnahmt, genau wie das Computerspielemagazin "Amiga Joker". Der Gewaltfaktor des Spiels würde heute kaum jemanden schockieren.
Die Killerspiele-Debatte
Am 1. November 1999 erschüttert ein Amoklauf die Bundesrepublik. Ein 16-jähriger bayerischer Schlosserlehrling erschießt in Bad Reichenhall mehrere Menschen und verletzt weitere. Nur wenige Monate vorher erschießen zwei Schüler in Littleton an der Columbine High School in Littleton, US-Bundesstaat Colorado, 15 Menschen. In beiden Fällen spielen leicht zugängliche Waffen eine Rolle – und eine soziale Sonderstellung der Amokläufer in ihrem Umfeld. Und Computerspiele.
Der Amoklauf an einer Schule in Erfurt 2001 facht die Debatte weiter an. Im Jahr zuvor war "Counter Strike" erschienen. In deutschen Medien wird vor allem diskutiert: Gewalt in Computerspielen. Für einen Teil der Öffentlichkeit lag die Sache auf der Hand. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung behauptete 2002 gar: "Ein Computerprogramm der Firma Sierra Entertainment hat den Amokläufer von Erfurt trainiert". Die Zeitung bekam Leserpost entsetzter Gamer.
Auch für einige Akteure in der Politik schien die Lage eindeutig. Vor allem Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) machte sich mit flammenden Plädoyers einen Namen, genau wie Bayerns Innenminister Günter Beckstein (CSU). Im Folgejahr brachte der Freistaat Bayern im Bundesrat einen Verbotsantrag für Killerspiele ein. Der versandete, nachdem die Aufregung etwas abgeklungen war. Rechtssetzungstechnisch heißt das: "Für erledigt erklärt."
Gewalterfahrung: Was prägt wen und wie?
Dass kein massenhaftes Phänomen entstanden ist, liegt bald 20 Jahre später auf der Hand. Doch die Debatte lebte noch lang. Ein Name fiel dabei häufiger als jeder andere: Christian Pfeiffer, ehemalige Justizminister, der mit seinem privaten "Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen" (KFN) medienwirksam in die Schlacht zog.
Pfeiffers Ansichten waren teilweise differenzierter, als es sich im Wortgefecht der Zeit anhörte. Denn Pfeiffer war zwar ein starker Vertreter der These, dass gewalthaltige Computerspiele abstumpfen könnten und deshalb nicht in Kinderzimmer gehörten. Zugleich war er aber kein Fürsprecher monokausaler Erklärungen, wie sie der politische Raum bevorzugte. Nicht die Computerspiele allein würden aus Jungen Gewalttäter machen, so Pfeiffer. Sondern eine Mischung von Faktoren wie Gewalterfahrungen im sozialen Umfeld, etwa der Familie, als Gewaltnormalisierung, Zurücksetzungserfahrungen und weitere, andere Faktoren – und eben wohl auch Ballerspiele.
Pfeiffer nannte das eine "Krise der Jungen". In jedem Fall ging es um mehr als nur um Konsolen- oder Computerspiele – doch wie das alles zusammenhängt, blieb lange fraglich. Die Debatten veränderten sich mit der Realität. Die Hauptgruppe der Gewalttäter deckt sich auch weiterhin stark mit der Hauptnutzergruppe von Spielen – jüngeren Männern. Und deren Gewaltausübung ließ sich – etwa in der Debatte um die Silvestervorkommnisse in Köln 2015 – oft nicht aus Computerspielen ableiten.
Der Informatik-Professor Tobias Breiner, Spezialist für Game-Engineering, führt einen Teil der früheren Debatte heute ebenfalls auf die Sozialisation zurück – jedoch nicht die der Spieler, sondern die der Diskutanten. "In den Redaktionen und in der Politik war damals noch eine Generation vorherrschend, die mit Computerspielen nicht selbst aufgewachsen war und daher ihren Einfluss auf die Psyche nicht aus eigener Erfahrung einschätzen konnte", sagt er. "Egoshooter waren ein einfacher populistischer Sündenbock für komplexere Missstände, die zu Amokläufen führen: Über- oder Unterforderung in der Bildung, zerfallende Familienstrukturen, demografischer Wandel, zu schnelle Verschreibung von Psychopharmaka et cetera."