Missing Link: Schuhe auf dem Kurfürstendamm - von erfolgreichen Revolten und technisch machbaren Utopien

Rudi Dutschke überlebte die Schüsse, die ein Rechtsradikaler vor 50 Jahren auf ihn abgab, starb aber an den Spätfolgen des Attentats im Jahre 1979. Schon damals spielten Kommunikationsströme und der Computer als Machbarkeitsmittel für Utopien eine Rolle.

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Zukunft, Utopie, Big Data

(Bild: Harri Vick, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Berlin Kurfürstendamm, am 11. April 2018: Schuhe stehen herum, ordentlich in Paaren und von einem Kreidekreis umzingelt, dazwischen Blumen. An einem Pfosten lehnt ein Plakat, #still loving the revolution, eine Gitarre klimpert. Passanten wundern sich. Es sieht aus, als sei hier eine Gruppe barfuß zu einem anderen Planeten aufgebrochen, witzelt ein junger Mann, bis er die eingelassene Bodenplatte gelesen hat. Andere suchen nach Kameras von "Verstehen Sie Spaß". Doch hier war es blutiger Ernst.

Am 11. April 1968, dem Mittwoch vor Ostern, schoss der Hilfsarbeiter Josef Bachmann drei Mal auf Rudi Dutschke, nachdem er diesen gefragt hatte, ob er besagter Dutschke sei. Der erste Schuss geht in die Wange, dann trifft Bachmann den Kopf und die Schulter. Bei sich hatte Bachmann einen Artikel aus der Deutschen National-Zeitung: "Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg!" Der am Boden liegende Dutsche zog sich die Schuhe aus, legte die Armbanduhr ab und taumelte über den Kurfürstendamm, bis ihn Passanten auf eine Bank legten. Eine filmische Rekonstruktion des Attentats ist auf Youtube zu sehen.

Drei Kugeln auf Rudi Dutschke
Ihm galten sie nicht allein
Wenn wir uns jetzt nicht wehren
Wirst du der Nächste sein.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

So sang Wolf Biermann in Drei Kugeln auf Rudi Dutschke. Noch in der Nacht zum Gründonnerstag gab es heftige Demonstrationen. Sie richteten sich vor allem gegen den Springer-Verlag, der monatelang gegen Dutschke als Symbolfigur der Bewegung gehetzt hatte. Schon am frühen Abend gab es ein Flugblatt, das in ganz Berlin verteilt wurde: "Heute Nachmittag wurde der Genosse Rudi Dutschke durch einen aufgehetzten Jugendlichen mit drei Pistolenschüssen lebensgefährlich verletzt. Nach den letzten Informationen befindet sich Rudi Dutschke in höchster Lebensgefahr. Ungeachtet der Frage, ob Rudi das Opfer einer politischen Verschwörung wurde: man kann jetzt schon sagen, dass dieses Verbrechen nur die Konsequenz der systematischen hetze ist, welche Springerkonzern und Senat in zunehmenden Maße gegen die demokratischen Kräfte dieser Stadt betrieben haben. Wir rufen die außerparlamentarische Opposition zur Demonstration."

In einem sehr eindringlichen Interview mit Günter Gaus (ca. in der 12. Minute) beschreibt Dutschke diesen Verblendungszusammenhang der Fake News, die Springer und vor allem die Bild-Zeitung produzierte. Das verband sich für ihn mit einer Hoffnung, dass sich die Verdummung im neuen, weltweiten Kommunikationsstrom auflösen wird. Wieder und wieder betont er im Gespräch mit Gaus die Rolle, die dem aktiven Menschen als Subjekt der Selbstorganisation zukommt, durch die er wiederum ein neues Selbstbewusstsein erhält und sich von etablierten Sichtweisen von Parteien und Presse in eigener Freiheit emanzipiert. Und nein, Angst habe er nicht, trotz vieler Drohungen und tätlicher Angriffe bei öffentlichen Auftritten.

Eines der letzten Fotos von Dutschke vor dem Attentat wurde von Michael Ruetz geschossen und zeigte den Revolutionär beim Wickeln seines ersten Sohnes Hosea-Che. Die Medien interessierten sich nicht für das Bild. Im Jahre 1980 kommentierte Ruetz das so: "Als könne jemand wie er ein Baby nur fressen, nicht aber wickeln."

Die nach dem Attentat ausbrechenden "Osterunruhen" in der gesamten Bundesrepublik, der Mai 1968 in Paris, als General de Gaulle kurzzeitig vor den Demonstranten nach Deutschland floh, die behandschuhten Fäuste von Tommie Smith und John Carlos bei den Olympischen Spielen in Mexiko, all das wurde zur großen Chiffre der "68er".

Zwar hatte die Studentenbewegung nach dem Mord an Benno Ohnesorg ihren Zenith erreicht. Der SDS zerfiel nach dem Attentat auf Dutschke ab 1969 in zahlreiche Kleingruppen, doch das nahm der Chiffre nicht ihre Berechtigung, weil sie eben mehr als die Außerparlamentarische Opposition (APO) war. Die "68er" waren eine Generation, die den Muff der Nachkriegszeit beenden und gleichzeitig den Nationalsozialismus aufarbeiten wollte, der im "Wirtschaftswunderland" nach Kräften verdrängt wurde.

Rolf-Dieter Brinkmann, dieser Dichter der 68er, schrieb in Rom, Blicke: "Das ist unsere Generation, eine Gerümpel-Generation, hastig und mit Angst vor dem Krieg oder in den ersten Kriegstagen zusammengefickt – ehe der Mann in den Krieg zieht, macht er der Frau noch ein Kind /.../ und was ist dann Kindheit und Jugend? Nichts als eine einzige Entschuldigung, dass man überhaupt da ist. 'Entschulidgen Sie, dass ich geboren bin.'"

Dutschke und seinen Mitstreitern war klar, dass sie eine Minderheit bildeten. Im Interview mit Günter Gaus spricht er davon, dass vielleicht 15 bis 20 Köpfe mit dem Planen von Aktionen beschäftigt sind. Auf 200 bis 1000 schätzt der die Zahl der aktiven Mitstreiter und Mitstreiterinnen für Sit-Ins und Go-Ins, noch einmal 5000 könnten für Teilnahme an Demonstrationen gewonnen werden.

Die APO war klein, in den Aktionen aber umso phantasievoller. Sie umfasste Provokationen wie die Kommune 1 (Springer: "Horror-Kommunarden"), die Einrichtung von antiautoritären Kinderläden, den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, aber eben auch die recht bürgerlich geführte Ehe von Rudi und Gretchen Dutschke. Man besetzte die leer stehenden Wohnungen von Hans Magnus Enzensberger und Uwe Johnson und überlegte, wie ein revolutionäres Berlin als Vorbote der Selbstbefreiung aussehen könnte.

Enzensberger (E) zeichnete das auf und publizierte das Gespräch von Rudi Dutschke (D), Bernd Rabehl (R) und Christian Semler (S). Arbeiterkollektive als Kommunen und Computer, so sah die launische Lösung aus:

D. In der Idee solcher Kollektive sehe ich einen Rückgriff auf die Pariser Kommune. Diese Assoziationsform bedeutet: Herrschaft der Produzenten über ihre Produktionsbedingungen, ihre Produkte, und ihre ganzen Lebensbedingungen. Die ganze Stadt wäre in solche dezentralisierten Kommunen aufzugliedern. Wie soll die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kommunen-Kollektiven in dieser Stadt aussehen? Wie verläuft der politische Lernprozeß? Wie soll die notwendige Verwaltung von Sachen über einzelne Kommune-Projekte organisiert werden?

R. Es wird einen obersten Städterat geben, in den die Vertreter der einzelnen Kommunen, die einzelnen Räte, jederzeit wählbar und abwählbar, ihre Vertreter hineinschicken. Sie werden den Wirtschaftsablauf kontrollieren, und zwar ohne disziplinierende Anweisungen zu geben. Sie werden dafür sorgen, daß Wirtschaftspläne und städtebauliche Projekte ausgearbeitet werden. Dabei wird die neue Technologie ihre positive Seite zeigen. Man nimmt Computer zu Hilfe, um zu berechnen, was gebaut werden muß, wie die Pläne aussehen müssen, welche Gefahren auftauchen.

E. Der Computer kann nicht entscheiden, er kann nur verschiedene Optionen ausarbeiten, die dann politisch entschieden, werden müssen. Es gibt keinen Sachzwang derart, daß uns ein Computer sagen könnte, was das Beste ist. Was das Beste ist, darüber müssen die Menschen selbst urteilen.

S. Wenn es die Computer nicht gäbe, müßten sie förmlich erfunden werden für die Räteverfassung. Nur sie ermöglichen es, Informationen zu sammeln, die die Sachentscheidungen der bisherigen Bürokratie ersetzen und zwar dergestalt, daß es überhaupt keine bürokratische Position mehr gibt, die nicht innerhalb von vierzehn Tagen umbesetzbar wäre.

Bürokratische Dummheit wird ersetzt durch Künstliche Intelligenz? Im Verlauf des Gespräches wird die Forderung erhoben, dass jede bürokratische Funktion durch jedermann in drei Wochen erlernbar sein soll. Den Rest erledigen Computer. Auch die Forderung nach Abschaffung des Justizsystems wird technologisch durchgedacht, wenn Christian Semler erläutert: "Zum Beispiel darf es nie mehr Richter geben, es darf nie mehr einen Justizapparat geben, und das ist meiner Ansicht nach durch Technologie erreichbar. Jetzt machen sich ja nur die Kapitalisten und Revisionisten Gedanken darüber, wie man Informationen speichert, um ein Rechtssystem zu formalisieren."

Rudi Dutschke 1967 im AudiMax der FU Berlin

(Bild: dpa)

Rudi Dutschke überlebte das Attentat nach einer fünfstündigen Operation, musste aber wie ein Kleinkind das Sprechen neu erlernen und wollte in Großbritannien ein neues Leben anfangen. Als er 1970 den Genesungsprozess halbwegs beenden konnte, begann er einen Briefwechsel mit Josef Bachmann. Dieser brachte sich 1970 im Gefängnis um, er war für Dutschke ein "Opfer der Klassengesellschaft" geworden.

Dutschke selbst nahm seine bereits 1967 abgebrochene Promotion wieder auf und konnte sie 1974 als "Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen" als Buch veröffentlichen. Seine Generalabrechnung mit Lenin enthält auch eine Passage, in der er sich mit Lenins bekannter Formel "Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes" auseinandersetzt, was Dutschke nun für unsinnig hielt. Er schrieb: "Die Einführung moderner Technik kann nur produktiv sein, wenn sie in der Struktur der überkommenen Produktionsweise integriert ist."

Eben mal ein Land elektrifizieren oder von Computern die Arbeit übernehmenzu lassen, ist nach der Entwicklungslogik vorkapitalistischer Gesellschaften für Dutschke nicht vorstellbar. Sein Werk über Lenin hatte jedoch, anders als von ihm erhofft, keinen Einfluss mehr, weil die Studentenbewegung sich aufgelöst hatte. Eine akademische Karriere in Berlin musste Dutschke aufgeben; am Ende stand ein Umzug der Familie Dutschke ins dänische Aarhus an.

Der deutschen Wirklichkeit näherte sich Dutschke langsam wieder, als er sich beim Komitee für die Freilassung Rudolf Bahros engagierte, das sich 1978 um das Schicksal des DDR-Dissidenten und späteren Grünen Rudolf Bahro kümmerte. Von dieser Sorge für den Ökosozialisten bis zur halben Hinwendung Dutschkes zu den Grünen war es nur ein kleiner Schritt. Dutschke ging ihn, doch im Dezember 1979 starb er. Epileptische Anfälle gehörten zu den negativen Seiten seiner Krankengeschichte und einer Genesung, über die die Ärzte staunten. Für eine dauerhafte Betreuung fehlten die Mittel. Der einst umwickelte Sohn Hosea-Che versuchte sich noch an einer Wierderbelebung seines Vaters.

50 Jahre nach dem Attentat erinnerten Schuhe und eine Gedenktafel neben der Bushaltestelle an das Jubiläum. 1968 blieb ein Schuh zusammen mit dem Fahrrad und der Aktentasche mit Materialien über den Vietnamkrieg dort liegen. Weil anno 2018 das Ordnungsamt prompt säubern wollte, kritzelte jemand noch hastig mit mit Kreide auf den Bürgersteig: Polit-Kunstwerk! Die Erinnerungs-Musik ist schon im Internet. (jk)