Missing Link: Vom Großen Gesetz des Friedens und der zweitältesten Demokratie

Vor 880 Jahren entstand die zweitälteste noch bestehende Demokratie – in Amerika. Die Europäer hätten sie fast zerstört. Was wir heute davon lernen können.

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(Bild: TORWAISTUDIO/Shutterstock)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hans-Arthur Marsiske
Inhaltsverzeichnis

Verstehen, würdigen, respektieren! Angesichts neuer Kriege in Europa – inklusive dem Rückfall in die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges – und neuer Bedrohungen durch Cyberkriege, sich beschleunigendem Klimawandel und globaler Spannungen ... Der Auflösung der bislang für unzerstörbar gehaltener Gewissheiten hilft es möglicherweise, auf eine andere Geschichte zurückzublicken. Und es mag die Debatte über postkoloniale Positionen und Dekolonialisierung aller gesellschaftlichen Bereiche (auch der IT) vom Kopf auf die Füße stellen – sowie die albernen Debatten über aufgewärmten "Winnetou"-Kitsch ad absurdum führen. Die zweitälteste heute noch bestehende Demokratie entstand vor 880 Jahren – in Amerika.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Er kam aus dem Norden. In einem steinernen, weißen Kanu überquerte er den Oniatarí:io, der heute Ontariosee genannt wird. Als er das südliche Ufer erreichte, wurde er sogleich gewarnt: Es gebe in dieser Gegend viele Leute, die sich gegenseitig umbrachten und das Fleisch ihrer Gegner verspeisten. Sie würden ihn sofort töten, wenn er sich ihnen näherte. Doch der Mann im Kanu blieb gelassen. "Deswegen bin ich hier", antwortete er. "Das sind genau die Leute, die ich treffen will."

Denn er war der Große Friedensstifter – gekommen, um das Töten zu beenden und die hier lebenden Nationen der Seneca, Cayuga, Onondaga, Oneida und Mohawk von einem friedlichen Bündnis zu überzeugen. Sein Name wird aus Respekt nur selten ausgesprochen und soll daher auch in diesem Artikel nur einmal genannt werden: Er hieß Deganawidah – Zwei Flüsse strömen zusammen.

Wann genau er den Fuß an Land setzte und sein großes Werk begann, ist ungewiss. Dagegen lässt sich nahezu auf den Tag genau bestimmen, wann er es vollendete: Nach dem heute allgemein gültigen Gregorianischen Kalender war es der 31. August 1142, an dem die fünf Nationen feierlich erklärten, sich zum Bund der Haudenosaunee – Leute vom Langhaus – zusammenzuschließen und künftig den Regeln zu folgen, die ihnen der Friedensstifter im Kayeneren:kowa – dem Großen Gesetz des Friedens – vorgeschlagen hatte. Darin war genau vorgegeben, wie kollektive Entscheidungen unter Beteiligung aller getroffen, Häuptlinge gewählt und abgesetzt und die Macht zwischen Männern und Frauen ausbalanciert werden sollte.

Die Föderation der Haudenosaunee ist damit die zweitälteste noch bestehende Demokratie der Welt. Nur das um das Jahr 930 gegründete isländische Parlament Althing ist noch älter. Allerdings ist das Gründungsdatum umstritten, da es nicht durch schriftliche Dokumente belegt werden kann. Das Große Gesetz des Friedens wurde über viele Jahrhunderte nicht aufgeschrieben, sondern immer wieder mündlich rezitiert.

In den mündlich überlieferten Erzählungen von der Entstehung des Bundes gibt es aber einen Hinweis, der es erlaubt, dennoch ein genaues Datum zu benennen. Demnach hatten einige weit im Westen lebende Angehörige der Seneca bis zuletzt gezögert, dem Bund beizutreten – bis eine plötzliche Verdunkelung der Sonne sie schließlich doch überzeugte. In einer 1997 erschienenen Studie sind Barbara A. Mann und Jerry L. Fields (University of Toledo) diesen und anderen Hinweisen nachgegangen. Die Sonnenfinsternis, deren Verlauf am besten zu dieser Erzählung passt, ereignete sich demnach am 22. August 1142.

Zudem wurde Jacques Cartier, der "Entdecker" Kanadas, der im Jahr 1534 erstmals mit den Haudenosaunee in Kontakt trat, um das Gebiet um den Sankt-Lorenz-Strom für den französischen König in Besitz zu nehmen, von einem Sachem – Häuptling – der Mohawk scharf zurechtgewiesen: Das Land gehöre in allen vier Himmelsrichtungen den Haudenosaunee, die seit ihrer Gründung ihren mittlerweile dreiunddreißigsten Tadodaho – den obersten Bundeshäuptling – an ihrer Spitze zählten.

Mann und Fields schauten sich an, wie lange andere auf Lebenszeit ernannte Würdenträger – Päpste, Könige, oberste Richter – durchschnittlich ihre Ämter ausübten, und fanden, dass auch diese Zahl sich gut mit einem Gründungsdatum in der Mitte des 12. Jahrhunderts verträgt. Archäologische Befunde stützen die Datierung zusätzlich.

Als im 16. Jahrhundert die ersten Europäer – damals selbst noch monarchisch regiert – im Nordosten Amerikas auftauchten, konnten die Haudenosaunee demnach bereits auf eine Jahrhunderte alte Tradition demokratischer Meinungsbildung zurückblicken. Die Franzosen zeigten sich davon indessen wenig beeindruckt, sondern machten sie sich sogleich zu Feinden und gaben ihnen den Namen, unter dem sie in der westlichen Welt heute noch am bekanntesten sind: Iroquois – Irokesen.

Der Ursprung dieses Wortes ist unklar, scheint aber auf einen abfälligen Ausdruck aus der Sprache der mit den Franzosen verbündeten Algonkin zurückzugehen, der so etwas wie "Giftschlangen" bedeuten könnte. Darin mag zwar ein gewisser Respekt für ihre Kampfkraft mitschwingen. Der feindselige Blick der Franzosen auf die Föderation dürfte aber auch dazu beigetragen haben, dass Frieden und Diplomatie als die eigentlichen Leidenschaften und Stärken der Leute vom Langhaus lange Zeit übersehen wurden.

Mittlerweile jedoch wird dies sogar von ihren einstigen indigenen Feinden anerkannt. So findet Robin Wall Kimmerer, selbst Angehörige der einst mit den Haudenosaunee verfeindeten Potawatomi, in ihrem bemerkenswerten Buch Geflochtenes Süßgras lobende und geradezu bewundernde Worte für das diplomatische Geschick der Langhausleute.

Deren Name bezieht sich übrigens nicht in erster Linie darauf, dass sie lange Häuser bauten, in denen die Abkömmlinge einer Clan-Mutter zusammenlebten. Vielmehr diente das Langhaus dem Friedensstifter als Modell für das Zusammenleben der fünf Nationen, mit den Seneca und Mohawk als Wächtern der Eingänge im Westen und Osten, den Onondaga in der Mitte als Hüter des zentralen Feuers und den Oneida und Cayuga als "jüngeren Brüdern" dazwischen. Um die Nationen nach und nach von dieser Vision vom großen Langhaus zu überzeugen, brauchte der Friedensstifter Unterstützung. Zu seinen wichtigsten Verbündeten bei der Durchsetzung dieser Vision vom großen Langhaus wurden der Onondaga-Häuptling Hiawatha und Jigonhsasee, eine Frau, die an der Kreuzung der Kriegspfade lebte und in deren Hütte die vorbeiziehenden Krieger friedlich speisen und sich ausruhen konnten.

Die drei lebten zu einer Zeit, die von extremer Gewalt geprägt war. Oren Lyons, Faithkeeper der Onondaga Nation, verglich im Jahr 2015 die damaligen Verhältnisse mit denen im Kosovo, den er kurz zuvor besucht hatte. Bis in die Familien hinein hätte der Hass die Menschen gespalten. Blutige Fehden führten zu immer wieder neuen Vergeltungsfeldzügen, deren ursprünglichen Grund bald niemand mehr kannte. Der Hass nährte sich selbst.

Mann und Fields deuten die Gewalt als Folge des Übergangs von einer Jäger-und-Sammler-Kultur zur Landwirtschaft. Archäologische Funde zeigen, dass zur fraglichen Zeit vermehrt Mais angebaut wurde und zugleich die Dörfer durch Palisaden geschützt wurden. Daneben finden sich aber auch Hinweise auf Kannibalismus – der ebenfalls in den mündlichen Überlieferungen eine wichtige Rolle spielt.

Diese Übergangszeit, so Mann und Fields, in der Jäger und Farmer nebeneinander existierten, dürfte von gegenseitigem Misstrauen und Konflikten geprägt gewesen sein, schließlich sei der Wechsel zur Landwirtschaft mit sozialen Verschiebungen zwischen Männern und Frauen verbunden gewesen. Die Bedeutung der winterlichen Jagd ging zurück und damit auch die der Männer. In dieser Situation, schreiben die Forscher, erwuchs "der Kult des Kannibalismus als Reaktion auf die Landwirtschaft und stellte ihr eine extreme Vision entgegen, denn Kannibalismus ist eine symbolische Variation der Jagd".

Tadodaho, Häuptling der Onondaga. Er war die Verkörperung des Kannibalenkults, ein mächtiger Krieger, dessen magische Kräfte von allen gefürchtet wurden. Sein Haar soll mit Schlangen verflochten gewesen sein.

(Bild: By Seth Eastman - Public Domain)

Der Überlieferung zufolge war auch Hiawatha bei seiner ersten Begegnung noch Kannibale, um dessen Hütte herum sich menschliche Gebeine stapelten. Er ließ sich vom Friedensstifter jedoch rasch überzeugen, statt Menschenfleisch künftig Mais und Hirschfleisch zu essen. Sehr viel schwieriger war es dagegen, Tadodaho, den damaligen Häuptling der Onondaga, zu gewinnen. Er war die Verkörperung des Kannibalenkults, ein mächtiger Krieger, dessen magische Kräfte von allen gefürchtet wurden. Sein Haar soll mit Schlangen verflochten gewesen sein.

Der Friedensstifter, Jigonhsasee und Hiawatha besänftigten ihn mit einem Lied, das der Friedensstifter einst von einem Vogel gelernt haben soll. Nachdem sie seinen verspannten Körper massiert und die Schlangen aus seinem Haar gekämmt hatten, willigte auch er schließlich ein. Als Dank dafür wurde er zum obersten Häuptling des Bundes erklärt, der für alle Zeiten den Namen Tadodaho tragen sollte. Eine große Kiefer wurde gepflanzt, unter der alle Kriegswaffen vergraben wurden, und die Onondaga wurden die Hüter des zentralen Feuers, das seitdem nicht mehr erloschen ist.

50 Bundeshäuptlinge beraten seitdem auf höchster Ebene über die Angelegenheiten der Föderation. Gewählt werden sie von den Clan-Müttern, können von ihnen aber auch wieder abgesetzt werden. Ohnehin stützen sie sich stets auf die vorangegangenen Beratungen in den Langhäusern, bei denen jeder angehört wird und so lange reden kann, wie er oder sie will, ohne unterbrochen zu werden. Ziel ist es, einen Konsens zu finden, den alle teilen können. Daher haben die Häuptlinge auch keinerlei Macht, etwas anzuordnen oder durchzusetzen. Es ist nicht nötig, wenn sich ohnehin alle einig sind.

Von Anfang an haben die Haudenosaunee alle anderen Nationen eingeladen, sich ihrem Bund anzuschließen und dem Großen Gesetz des Friedens zu folgen. Als die Europäer Amerika "entdeckten", waren die Leute vom Langhaus dort die stärkste politische Kraft. Sie könnten auf dem Weg gewesen sein, den gesamten Kontinent zu kontrollieren, vermuten Michael Bastine und Mason Winfield in ihrem Buch Iroquois Supernatural. Nach und nach hätten sie womöglich ganz Amerika demokratisiert.

Die europäische Expansion verhinderte das jedoch, indem sie durch die Nachfrage nach Biberpelzen die einheimischen Nationen in Kriege um die ergiebigsten Jagdgebiete stürzte. Später brachte der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg, bei dem einzelne Nationen der Haudenosaunee auf unterschiedlichen Seiten kämpften, das Bündnis an den Rand der Auflösung.

Die Haudenosaunee Confederacy existiert weiterhin.

(Bild: Haudenosaunee Confederacy)

Doch sie haben überlebt. Die Haudenosaunee Confederacy existiert weiterhin. Könnte von ihr erneut die Heilung einer von Hass und Missgunst zerrütteten Welt ausgehen? Es ist umstritten, inwieweit die Haudenosaunee ihr Wissen an Nicht-Indigene weitergeben sollten. So wurde Jake Thomas, Bundeshäuptling der Cayuga, der das Great Law of Peace in allen fünf Bundessprachen rezitieren konnte, dafür kritisiert, es auch auf Englisch vor nicht-indigenen Zuhörern vorgetragen (und damit die beeindruckende Schriftfassung The Rotinonshonni von Brian Rice ermöglicht) zu haben.

"Was haben wir zu befürchten?", entgegnete er. "Wenn sie es lernen wollen, haben sie das Recht dazu. Das hätte schon vor 500 Jahren geschehen sollen. Vielleicht hätten wir unsere heutigen Probleme nicht, wenn sie unser Volk studiert hätten und uns heute verstehen, würdigen und respektieren würden."

(bme)