Missing Link: Wem die Uhr schlägt
Wie baut man eine Uhr, die 10.000 Jahre lang läuft? Indem nur Jahrtausende Jahre altes Wissen vorausgesetzt wird, denn Wartung ist unerlässlich.
Als die protestantischen Bürger die Mathematiker Konrad Dasypodius und David Wolkenstein 1559 mit dem Bau einer astronomischen Uhr für das Straßburger Münster beauftragten, sollte sie für "alle Ewigkeiten" gehen. Die Uhr wurde 1571 in Betrieb genommen. Als sie im Jahre 1788 stehenblieb, gab es niemanden, der sie reparieren konnte. Das Wissen war verschwunden. 40 Jahre studierte der Feinmechaniker Jean-Baptiste Schwilgué die Konstruktion der Uhr, die er 1842 restauriert wieder zum Laufen brachte. 1996 startete ein ähnliches Projekt mit der Konstruktion einer mechanischen Uhr, die 10.000 Jahre lang laufen soll. Die Long Now Foundation will, dass wir die Zeitspanne von 20.000 Jahren begreifen, die der moderne Mensch auf der Erde leben könnte. Das "lange Jetzt" sind die 10.000 Jahre, die die Uhr begleiten soll.
Mit dem Ende der Eiszeit begann um 8000 Jahre v.Chr. der Aufstieg des modernen Menschen und damit die Zeitspanne des Aufstiegs und Zerfalls von Zivilisationen, an die die Long Now Foundation erinnern will. Seit 1996 arbeitet sie an einer Uhr, die, von Menschen gewartet, 10.000 Jahre im Betrieb überstehen kann. Bekannte Förderer des Projektes sind der Musiker Brian Eno, der Informatiker Danny Willis, und Stewart Brand, vielleicht bekannt als Herausgeber des Whole Earth-Kataloges oder als der Kameramann, der die Mutter aller Demos filmte. 1999 veröffentlichte Brand das Buch zum Projekt "Clock of the Long Now" (deutsch: Das Ticken des langen Jetzt) mit dem Untertitel "Time and responsibility". In ihm findet sich der Satz: "Unsere Zivilisation ist 10.000 Jahre alt und wenn wir annehmen, dass wir gerade in der Mitte angekommen sind, dann haben wir noch einmal 10.000 Jahre, um an der Zivilisation zu arbeiten. Denn die tiefen Probleme – Armut und Reichtum, Bevölkerungsexplosion, Hungersnöte und Kriege – sind lösbar, wenn man sich dafür nur Zeit nimmt."
Die Zivilisation geht immer weiter
Diese Ansicht formulierte Brand noch einmal in seinem letzten Essay Elements of a Durable Civilization: "Zivilisationen kommen und gehen. Die Zivilisation geht weiter." Brand verweist dabei auf die Ideen von Jonas Salk, dem Arzt und Immunologen, der den Impfstoff gegen Polio entwickelte und dessen Sohn Jonathan. In ihrem Buch "A New Reality: Human Evolution for a Sustainable Future" beschreiben sie die neue Realität einer schrumpfenden Zivilisation, die an die Grenzen ihres Wachstums stößt, ganz im Sinne der Warnungen des Club of Rome Anfang der Siebzigerjahre. Nur langfristiges Denken kann helfen, mit dieser sich ändernden Realität umzugehen. Das zeigt sich Brand zufolge in der Behandlung des Klimawandels. Mit dem Bezug auf Salk distanziert sich Brand von dem Longterminismus, der ab 2015 im Silicon Valley die Züge einer Ersatzreligion angenommen hat. Dieser Aspekt wird auf dem anstehenden Congress des Chaos Computer Clubs behandelt.
Die Idee der Langzeituhr wurzelte vielmehr in der Aufbruchstimmung im Internet vor dem ersten Dotcom-Crash. Mit dem vielen Geld von damals erfolgreichen Firmengründern wie Mitch Kapor (Lotus Software, später von IBM aufgekauft) oder Jay S. Walker (Priceline.com, heute Booking Holdings) konnte die Long Now Foundation ihr Hauptquartier in San Franciscos Fort Mason kaufen, wo das zweite große Langzeitunternehmen, das Rosetta Project zu Hause ist. Außerdem betreibt die Foundation hier das angesagte Restaurant The Interval. Weitere drei Areale wurden im Great Basin National Park gekauft, wo die Uhr auf dem Mount Washington zusammen mit einem einfacher zu erreichenden Besucherzentrum gebaut werden soll.
Die Sonne als Synchronisation
Dieser Nationalpark ist ein International Dark Sky Place, was für den Bau der Uhr ein wichtiger Faktor ist. Nach den Plänen von Danny Hilles, dem eigentlichen Konstrukteur der Uhr, soll die Uhr in einem Schacht sitzen, in dem zur Mittagszeit die Sonne das Signal zur Synchronisation der Uhr gibt, das von einem Pendel als Gangregler in Bewegung gehalten wird. Der Schacht sollte mit Kammern verbunden sein, in dem jeweils das Erreichen eines Jahrtausends von den dann Lebenden gefeiert werden kann. Die Installation sollte weit abseits von Städten oder Küsten erfolgen, die auf lange Sicht zerstört werden oder sich ändern könnten.
Hillis Pläne zum Bau einer Uhr kamen durch die Beobachtung Mitte der 90er Jahre in Gang, dass viele Menschen unfähig waren, sich ein Datum jenseits des Jahres 2000 vorzustellen. Sie lebten in dem, was die Anthropologin Margaret Mead als "tempozentrierte Kultur" bezeichnete. Hillis notierte auch, wie ein anderer großer Zeige-Mechanismus im Laufe der Zeit wahrgenommen wurde. Im Jahre 1599 beschrieb der Dichter Samuel David die Anlage von Stonehenge als "großer dummer Haufen von Steinen". Isaac Newton war einer der Ersten, der astronomische Zwecke in der Anordnung vermutete und die Funktion zur Sommersonnenwende erkannte und sie als Vorgänger von Salomons Tempel beschrieb.
Wie die Astronomische Uhr in der gerade protestantisch gewordenen Kathedrale von Straßburg anno 1571 ist die "Uhr des Langen Jetzt" eine Zeitskulptur. Deutlich wird dies an dem ersten von Projektleiter Alexander Rose beaufsichtigten Prototypen, der rechtzeitig zum Jahrhundertwechsel im verkleinerten Maßstab fertiggestellt wurde und nun im Londoner Science Museum steht. Der knapp 2,5 Meter hohe Prototyp ist aus Monelmetall gefertigt und wiegt eine halbe Tonne. Zum Jahreswechsel 01999 auf 02000 – in der Zählung der Long Now Foundation – ertönte ein Doppelgong, nur der Kuckuck, der bei solchen Jahrhundert-Anlässen erscheinen soll, fehlte.
Eine möglichst schlichte Konstruktion
Seine schlichte mechanische Konstruktion spielt auf die Rechenwerke an, die Charles Babbage ein Jahrhundert früher entworfen hatte. Das Ganze durchaus mit Absicht: Die Uhr ist so konstruiert, dass sie nur funktioniert, wenn sich Menschen im Laufe der Zeit um sie kümmern. "Alle Teile der Uhr können ersetzt werden und zwar mit Hilfe von Fähigkeiten, die seit Jahrtausenden bekannt sind", so Danny Hillis in einem Interview anlässlich der Vorstellung des ersten Prototypen. Glaubt man Stewart Brand (PDF), so sollte dieser Prototyp eigentlich im Januar 1999 auf dem World Economic Forum in Davos den Reichen und Superreichen vorgestellt werden, die sich alljährlich dort versammeln, um über "globale Lösungen" nachzudenken. Ein Blick auf eine Zeitspanne von 10.000 Jahren sollte auch sie anregen, über längere Zeiträume nachzudenken. Leider wurde der Prototyp nicht rechtzeitig fertig.
Einer der Superreichen, der sich dann doch für die Idee begeisterte, war Jeff Bezos. Er spendierte im Jahre 2011 rund 42 Millionen Dollar, damit die Uhr gebaut werden konnte, natürlich auf seinem Grund und Boden in Texas. Dort, wo seine Raketenfirma Blue Origin ihren Sitz hat, sind bereits die Schächte, Zugangstunnel und Jahrtausendräume fertiggestellt worden. Man spricht jedoch nicht von der Uhr des langen Jetzt, sondern nach einer Anweisung von Bezos von der 10.000-Jahre-Uhr. Die Überlegungen zu Zeit und Raum und zur Zivilisation der Menschheit sind zweitrangig, wie Bezos selbst bekannte: "Wenn Leute sich mit der Uhr beschäftigen, werden sie mehr Dinge wie Blue Origin in Angriff nehmen." Momentan gibt es keine Updates zum Stand der Dinge in Texas. Aber dafür ist ja noch Zeit genug. Oder ist die ganze Idee, wie das Magazin Wired nun meint, das zuvor Dutzende von enthusiastischen Berichten zur Uhr veröffentlicht hat, eine einzige Zeitverschwendung?
(nie)