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Neuer Blick auf den Patienten

Nike Heinen

Die Medizin der Zukunft orientiert sich ganz an ihrer Kundschaft: Firmen entwickeln auf den individuellen Stoffwechsel abgestimmte Medikamente, neue Geräte bieten Diagnose und schonende Therapie zugleich oder ermöglichen die Laborkontrolle vom Sofa aus. Behandlungen werden so genau wie nie.

Die Medizin der Zukunft orientiert sich ganz an ihrer Kundschaft: Firmen entwickeln auf den individuellen Stoffwechsel abgestimmte Medikamente, neue Geräte bieten Diagnose und schonende Therapie zugleich oder ermöglichen die Laborkontrolle vom Sofa aus. Behandlungen werden so genau wie nie.

Michael Kuhn hat eine Vision. Der Ingenieur möchte, dass sich der Krankenhausalltag dem Patienten anpasst wie ein Maßanzug. Kuhn ist Healthcare-Stratege beim Elektronikkonzern Philips in Hamburg. Die deutsche Niederlassung des niederländischen Unternehmens stattet Krankenhäuser mit einer Vielzahl von Produkten aus, von der Verwaltungssoftware über Techniken zur medizinischen Überwachung von Patienten bis hin zu Riesenmaschinen wie Computer- oder Kernspintomografen, die Bilder aus dem Körper-inneren einfangen. Philips Healthcare will die Medizintechnik so nah wie noch nie an die Kundschaft bringen – und das sind nicht die Ärzte.

"Ein Stichwort", sagt Kuhn, "heißt Patienten-Workflow – das Kranksein so bequem wie möglich machen." Um beispielsweise Kranken belastende Mehrfachuntersuchungen zu ersparen, stattet Philips – wie seine großen Konkurrenten Siemens Healthcare oder GE Healthcare – Krankenhäuser mit IT-Netzwerken aus, über die Untersuchungs- und Behandlungsergebnisse für alle Ärzte online zur Verfügung stehen. Mit ihrem Produkt "IntelliSpace" liefert das Unternehmen die Software zu einer solchen Plattform, mit der auch Termine in der Klinik oder mit anderen Einrichtungen koordiniert und Untersuchungen besser aufeinander abgestimmt werden können.

So müssen sich Patienten künftig nicht mehr selbst durch die verschiedenen Sprechstunden telefonieren. Und da die Netzwerke gekoppelt sind mit schnellen Datenleitungen, die auch großvolumige Bilddateien übertragen können, müssen sie auch keine Röntgenbilder und DVDs mit Aufnahmen von Com- puter- oder Magnetresonanztomografen (MRT) mehr hin und her tragen.

Die diagnostische Bildgebung wird immer unentbehrlicher, hier findet derzeit die zweite große Revolution in der Medizintechnik statt. Die Geräte, die Bilder aus dem Körper-inneren einfangen, zeigen inzwischen feinste Details. Diese Riesenbildmaschinen übernehmen heute schon Analysen, für die man bisher Gewebeschnitte selektiv färbte und sie dann unter dem Mikroskop betrachtete. Darüber hinaus können Mediziner mit Techniken, die einzelne Molekül- oder Zellsorten hervorheben, Therapieerfolge am Bildschirm überwachen. Die sogenannte molekulare Bildgebung ermöglicht es ihnen sogar, die Wirksamkeit neuer Medikamente in klinischen und präklinischen Versuchen direkt am Probanden und dem vermuteten pharmakologischen Angriffspunkt zu überprüfen.

Der Fortschritt geht aber noch einen Schritt weiter: Diagnose und Therapie sind längst zu einer einzigen Instanz verschmolzen, die von neuen ärztlichen Spezialisten betreut wird: den interventionellen Radiologen. Die modernen Bildgebungsverfahren ermöglichen es ihnen, eine Therapie in Echtzeit mit derselben Millimeter-Präzision zu überwachen, mit der sie die aufgespürten Anomalien darstellen können. Dieser Qualitätssprung in der Diagnostik provoziert auf vielen Teilgebieten drastische Umbrüche: Etwa die Rund-um-die-Uhr-Überwa-chung chronisch Kranker mittels spezieller Smartphone-Anwendungen – sogenannter Apps – oder die Früherkennung komplexer Krankheitsbilder dank der mathematischen Mustererkennung von großen Internet-Suchmaschinen.

Derzeit müssen sich die Patienten noch an den medizinischen Arbeitsablauf der Krankenhäuser anpassen, anstatt dass sich die Kliniken an den Bedürfnissen ihrer Kundschaft orientieren. Überkommene Organisationskorsetts stehlen Patienten mit einer lebensbedrohlichen Krankheit oft wertvolle, rar werdende Lebenszeit. Laut einer aktuellen Studie müsse ein durchschnittlicher Leukämiepatient in der Hochphase seiner Erkrankung 110 Arztbesuche binnen zwölf Monaten absolvieren – bei unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen, kritisiert Kuhn.

Um das zu ändern, setzt Philips auf die konsequente Vernetzung der verschiedenen Behandlungspartner. "Die unterschiedlichen Ärzte greifen alle über unsere Schnittstelle auf dieselbe aktualisierte Patientenakte zu und organisieren gemeinsam die nächsten Therapieschritte", erläutert der Healthcare-Stra-tege. IntelliSpace sei "die erste Plattform für medizinisches Networking". Beschließt etwa das Ärztekonsortium, eine MRT-Aufnahme sei nötig, dann reserviert das Computerprogramm gleich von sich aus den nächsten freien Termin. Steht eine Operation an, wird auch dieser Termin automatisch generiert. Kann der Patient schließlich nach Hause entlassen werden, können von dort aus auch die Werte der wöchentlichen Blutkontrolle ins Netzwerk einfließen. Ermittelt werden sie mittels eines mobilen Flüssigkeiten-Scanners, der in Blutstropfen so leicht neue Krebszellen findet wie das Kontrollgerät eines Diabetikers die Glukose.

Das System unterstützt zudem ein sogenanntes multimodales Tumor-Tracking: Alle Befunde zu einer Krebserkrankung werden in der elektronischen Patientenakte zusammengeführt – und statistisch ausgewertet. Wenn etwa das Wachstum eines Tumors wieder zunimmt, weil die Chemo nicht mehr hilft, dann fällt das sofort auf – und die Behandlung kann umgestellt werden. Zu den Patientendaten, die über die Philips-Plattform austauscht werden können, gehört erstmals auch diagnostisches Bildmaterial. Bisher benutzten meist nur radiologische Stationen und Praxen solche Bildbetrachtungsprogramme. Wollte sich der Chirurg oder sein onkologischer Kollege noch etwas an einer Aufnahme anschauen, musste er sich dorthin auf den Weg machen.

Bei fächerübergreifenden Behandlungskonzepten spielen die Bilder eine immer wichtigere Rolle. Denn die Geräte, die das Körperinnere sichtbar machen, übernehmen mehr und mehr die Therapie gleich mit. Zu den neuen Möglichkeiten therapeutischer Diagnostik gehören Ultraschallgeräte, die eine pathologische Veränderung nicht nur zeigen, sondern auch behandeln. Beispielsweise kann der Arzt nach der Diagnose von Gebärmutter-Myomen diese schmerzhaften Wucherungen mithilfe von hochintensiv fokussiertem Ultraschall – kurz HIFU – ohne einen einzigen Schnitt gleich entfernen. Der HIFU-Schallgeber bündelt die Schallwellen wie mit einem Parabolspiegel so stark, dass der Strahl an einer definierten Stelle eine Energiedichte von bis zu 10.000 Watt pro Quadratzentimeter erreicht – diese Energie ist 100.000-mal größer als die von herkömmlichem Ultraschall, der nur Bilder macht.

Das Verfahren verringert die Gefahr, dass Frauen bei der Beseitigung der Myome ihre Zeugungsfähigkeit verlieren. Bisher hatten die Betroffenen die fatale Wahl zwischen Schmerzen und Kinderlosigkeit. HIFU ist so schonend, dass niedergelassene Ärzte damit inzwischen sogar auch Schönheitsoperationen durchführen: Mit dem energiereichen Ultraschall kann man Fettpölsterchen einfach "wegschmelzen".

In der HIFU-Anfangszeit musste der Arzt mit den hochfokussierten Schallwellen das kranke oder überflüssiges Gewebe mühsam Punkt für Punkt wegbrennen, während er an einem Bildschirm via Ultraschall überprüfte, was er tat. An Kliniken, die sich Magnetresonanztomografen leisten können, geht der Trend jetzt dahin, die HIF-Ultraschallgeräte mit dieser hochpräzisen Bildtechnologie zur sogenannten MR-HIFU zu verknüpfen. Mit den Bilddaten des MRTs lässt sich der Zielbereich für den Ultraschallstrahl nicht nur ungleich genauer berechnen. Die Operateure können zudem in Echtzeit verfolgen, wie sich die Temperatur im Gewebe während der Behandlung verändert. "Der MRT dient als 3D-Thermometer", sagt Philips-Stratege Kuhn, der diese Entwicklung mit vorangebracht hat. Die Rückkopplung von dieser dreidimensionalen Temperaturmessung zum Ultraschallgerät macht es auch möglich, im gesamten Zielvolumen eine konstante Temperatur zu erzeugen und das wuchernde Gewebe in einem Schritt zu entfernen.

Eine ganze Struktur, etwa eine bösartige Wucherung, gezielt und gleichmäßig erhitzen zu können, ist wesentliche Voraussetzung, um eine weiteres Heilverfahrenen für die Ultraschallwellen zu erschließen: Die Chemotherapie mit sogenannten Sonodrugs. Dabei setzen die Ultraschallimpulse im Blut zirkulierende Medikamente frei – ganz gezielt nur in den Bereichen, in denen sie angreifen sollen. Damit kommen alte Chemotherapien zu neuen Ehren.

Es gibt eine ganze Reihe von Antitumorsubstanzen aus den 1980er-Jahren, die als Breitband-Zellgifte sehr stark auf die Tumorzellen wirken, aber heute in den Giftschränken der Onkologen verstauben, weil sie ebenso verheerend gesunde Zellen angreifen. Mit der Möglichkeit, sie ausschließlich am Tumor einzusetzen, könnten sich diese Stoffe ganz plötzlich wieder zum Goldstandard mausern. Sie sind nämlich viel wirksamer als die aktuellen Chemotherapien. Wenn man ihre Potenz mit MR-HIFU auf den Tumor konzentriert, könnte man sie nutzen, ohne dadurch das Leben der Patienten aufs Spiel zu setzen.

Die Wissenschaftler packen die Zellgifte dazu in winzige Kugeln, die mit einer Phospholipidhülle umgeben sind. "Diese Lipidtröpfchen gibt man ins Blut", sagt Kuhn. Um die Gifte gezielt an den Krebszellen freizusetzen, genügt es, den vom MRT definierten Tumorbereich mit dem hochintensiven fokussierten Ultraschallstrahl so zu erwärmen, dass die künstlichen Membranen schmelzen und die Zellgifte aus dem Inneren der Mikrokugeln direkt auf die Tumorzellen fluten. Schon wenige Millimeter neben dem Tumor wird die Konzentration der Chemotherapeutika durch Verdünnung so gering, dass typische Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Blutbildungsstörungen ausbleiben.

Auch bei der Gentherapie war das gezielte Überbringen des Agens bisher die größte Hürde. Hier könnte das HIFU-Verfahren ebenfalls helfen – als Türöffner für die therapeutischen Gene. In vielen Versuchen setzte man bis dato auf gezähmte Viren, denen das jeweilige Ersatzgen ins Erbgut geschmuggelt wird. Sie schienen für die Aufgabe ideal, weil ihr einziger Lebenszweck darin besteht, Zellen eines bestimmten Typs zu kapern und deren Erbsubstanz mit ihrem eigenen Genset zu unterwandern.

Allerdings ist die Menge, die man von diesen viralen Genfähren ins Blut geben muss, um am Zielpunkt eine wirksame Konzentration des einzuschleusenden Gens zu erreichen, für Menschen lebensgefährlich – eine Virenflut, die das Immunsystem völlig aus dem Konzept bringt. Hier kommt wieder der hochintensive Ultraschall ins Spiel, durch den die therapeutischen Gene auch ohne Viren – sozusagen nackt – angewendet werden können: Bei der sogenannten Sonoporation ist die Intensität der Schallwellen so gewählt, dass die Membranen der Zielzellen nicht schmelzen, sondern nur ein wenig porös werden. Nackte Nukleinsäuren, die unbemerkt vom Immunsystem im Blut zirkulieren, könnten auf diese Weise das Zielgewebe penetrieren – etwa bei Leukämie das Knochenmark. Es würde reichen, die therapeutischen Gene pur ins Blut zu geben und dann das Zielorgan zu beschallen.

Zu den Firmen, die an ultraschallgestützten Gentherapien arbeiten, gehört GlyGenix Therapeutics in Connecticut/USA. Die Wissenschaftler dort suchen nach einer Behandlung für die Glykogen-Speicherkrankheit. Bei diesem Leiden ist wegen eines Genfehlers das Enzym defekt, das den letzten Schritt der Glukose-Neubildung katalysiert. Anormale Variationen in dem Gen spielen auch als Risikofaktor für Diabetes eine Rolle. Glygenix verpackt das gesunde Gen in Mikrogasbläschen ("microbubbles"). Sie sind deutlich kleiner als rote Blutkörperchen und bestehen aus einem Gas, das von einer stabilisierenden Hülle umgeben ist.

Da Ultraschall von Gasen reflektiert wird, können die Ärzte den Weg der Minibläschen genau verfolgen. Sind sie an dem Zielort angekommen, werden sie so in Schwingung versetzt, dass sie platzen und sich gleichzeitig die Membranen der Zielzellen öffnen, damit die freigesetzten Gene hineinschlüpfen können. Microbubbles spielen ebenfalls eine zentrale Rolle bei einem weiteren diagnostischen Innovationsfeld, der sogenannten molekularen Bildgebung ("Molecular Imaging"). Findige Bioingenieure bringen in den Hüllen der Bläschen Ankermoleküle unter, die sich nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip ganz spezifisch an ein bestimmtes Molekül aus dem riesigen Substanzkatalog des Körpers binden.

Im Ultraschall wird so sichtbar, was man bislang nur unter dem Mikroskop sehen konnte: Wo im Körper welche chemischen Bausteine verwendet werden. Diese molekulare Diagnostik hat einen zusätzlichen indirekten Nutzen für künftige Therapien: Mit ihr kann nicht nur der Erfolg einer Arzneibehandlung – sowohl bei der Entwicklung neuer Medikamente im Tierversuch als auch später direkt am Patienten – überprüft werden. Mit bildgebenden Verfahren direkt nach möglichen Zielmolekülen für neue Pharmaka suchen zu können – nachzusehen, ob und wie schnell ein neuer Stoff dort bindet, wo er soll, und auf welche Weise die Substanz den Stoffwechsel vor Ort wirklich verändert –, kann die Entwicklung von Arzneimitteln erheblich beschleunigen.

Für etablierte Medikamente bedeutet diese Technologie, dass sich individuelle Unterschiede zwischen einzelnen Kranken im Ansprechen auf ein bestimmtes Medikament sofort nach Therapiebeginn verfolgen lassen. Und wenn die Bilder kundtun, dass diese Substanz bei diesem speziellen Menschen nichts ausrichtet, kann sich der behandelnde Arzt sofort nach Alternativen umsehen. Eine naheliegende Imaging-Methode, um sich einem Sachverhalt auf Molekülebene zu nähern, ist die Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Denn anders als bei Magnetresonanztomografen, die aufzeichnen, wie die verschiedenen Gewebestrukturen auf ein Magnetfeld reagieren, besteht das Prinzip dieser Technik darin, die Spuren einzelner Moleküle durch den Körper zu verfolgen. Dazu wird zum Beispiel an biologische Allerweltsstoffe wie Glukose ein schwach radioaktiver Baustein gekoppelt. Die PET-Bilder zeigen den Weg dieser sogenannten Tracer durch die verschiedenen Stoffwechselpfade im Körper – und damit im Falle der Glukose, wie hoch der Energieverbrauch unterschiedlicher Zellgruppen ist.

Radioaktiv markierte Glukose ist der Klassiker für Hirnforscher, die sich die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn ansehen möchten. Am "Molecular Imaging Biomarker Research Center", das Siemens im kalifornischen Culver City unterhält, sucht Entwickler Hartmuth Kolb nach einem Weg, die Veränderungen im Gehirn von Alzheimerpatienten durch PET sichtbar zu machen. Dazu entwickeln er und seine Kollegen spezifisch bindende Detektormoleküle für zwei Proteine, die im Verdacht stehen, an der Entstehung der Demenz beteiligt zu sein. Diese Alzheimerfahnder enthalten Fluor-18, das radioaktive Isotop, mit dem auch Glukose für Hirnaktivitätsmessungen im PET markiert wird. Besonders Pharmafirmen haben Interesse an dem Siemens-Projekt – sie möchten damit die Wirksamkeit neuer Substanzen vorführen. "Sobald wir die beiden Alzheimerproteine im PET sehen, können wir auch verfolgen, ob ihnen ein Medikament überhaupt etwas anhaben kann", sagt Kolb.

Einen anderen Weg, um Therapieerfolge – und Hypothesen über mögliche Therapien – in Zukunft an Patientenbildern schnell und in einem sehr feinen Maßstab über- prüfen zu können, eröffnet die Magnetpartikeltomografie (MPT). 2001 erfanden Wissenschaftler von Philips Geräte, mit denen magnetische Nanopartikel im Körper geortet werden können. Der Tomograf verfolgt die magnetischen Tracer auf dem Weg durch den Körper, indem er Veränderungen in einem Hochfrequenz-Magnetfeld einfängt. Auch das Bundesforschungsministerium setzt auf diese junge Technologie. Das Haus Schavan fördert mit rund 10,6 Millionen Euro den Forschungsverbund, den Philips initiiert hat.

Viele Forscher hoffen, dass ihnen die MPT bald so feine Bilder liefert, dass sie damit den Weg von Stammzellen durch den Körper verfolgen und auf diese Weise Nebenwirkungen einer Stammzelltherapie frühzeitig erkennen können: Denn die Magnetpartikeltomografen zeichnen nicht nur ein räumliches Bild der Eisenoxidverteilung. Sie geben auch über die jeweilige Menge an einem bestimmten Ort präzise Auskunft.

Healthcare-Stratege Kuhn berichtet von der Idee, Nanopartikel, die heute schon als MPT-Tracer dienen, in einer späteren Ausbaustufe so zu konstruieren, dass man auch an ihrer Oberfläche spezifische Ankermoleküle unterbringen kann. Je nach Fragestellung könnte so ein hochspezifischer Zeiger entstehen, der es ermöglicht, bestimmte Biomoleküle im Körper sichtbar zu machen. So würde man bei Stoffwechselprozessen wie dem Abbau von Giftstoffen live dabei sein können – oder einzelne Zellsorten anhand charakteristischer Oberflächen-moleküle aufspüren und auf ihrem Weg durch den Körper verfolgen können.

In Zürich hat sich die Firma Turbobeads auf magnetische Biomoleküle spezialisiert – derzeit noch für andere Anwendungen als die Bildgebung. Ein Katalog zeigt, wie vielfältig die magnetischen Partikel bereits jetzt sind. Als besonders vielversprechend gelten jene Magnetpartikel, die mit Ankern aus Biotin gespickt sind. Das ist die Eintrittskarte für großes Zellkernkino: Denn dieses Vitamin hilft dabei, wenn aktive Gene plötzlich abgeschaltet werden.

Ob die Kalorien von Nutella eher weggeatmet werden oder auf der Hüfte landen, ob Nervenzellen im Gehirn ein schizophrenes Eigenleben beginnen, ob sportliches Talent in der Wiege liegt oder das fatale Ereignis, in dem sich eine normale Zelle in eine Krebszelle verwandelt – immer stecken hinter menschlichen Eigenschaften und körperlichen Zuständen auch Gene, die schlafen gelegt wurden. So wirken auch die meisten Medikamente letzten Endes über das An- und Abschalten bestimmter krankheitsrelevanter Gene. Eine Magnetpartikeltomografie, die magnetisches Biotin als Tracer einsetzt, könnte Licht in die Ursachen vieler Krankheiten bringen – und überprüfen helfen, ob ein Medikament bei einem bestimmten Patienten an den richtigen Genen ansetzt.

Das Magnetpartikel-Verfahren erscheint jetzt schon, im experimentellen Miniformat bei Mäusen, 100-fach sensitiver zu sein als die herkömmliche Magnetresonanztomografie: Bilder vom schlagenden Mausherzen zeigen sogar noch Strukturen unterhalb der Millimetergrenze. Herzuntersuchungen gilt auch die erste Anwendung beim Menschen. Wissenschaftler des Pharmakonzerns Bayer arbeiten derzeit an Tracern, die man bedenkenlos intravenös verabreichen kann.

Philips-Entwickler dagegen entwerfen ein Verfahren, mit dem Forscher bald auch therapeutische Stammzellen auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsgewebe verfolgen – und so der umstrittenen Therapie einen neuen Impuls verleihen können. In der Theorie sollten diese Zellen zwar aufgrund ihrer genetischen Programmierung ihr Zielgewebe von allein finden – also Herzmuskelstammzellen etwa sich nur direkt am Herzen ansiedeln, dort zu neuem Gewebe heranwachsen und damit die Schäden eines Herzinfarkts wieder ausbalancieren. Aber bevor so eine Behandlung mit einer bestimmten Zelllinie praktiziert werden kann, muss zuverlässig ausgeschlossen worden sein, dass nicht doch einzelne Zellen fremde Areale besiedeln. Denn in diesem Fall würden sie wahrscheinlich ein neues Dasein als Krebszellen beginnen. Bei Zelllinien, die mit Magnetpartikeln markiert sind, würden die vagabundierenden Stammzellen bereits als kleine Zellverbände auffallen, bevor sie einen Schaden anrichten können.

Mit der Mikrofluidik steht sogar eine Technologie zur Verfügung, mit der demnächst jeder von zu Hause mit magnetischen Nanopartikeln im eigenen Blut nach Krebszellen suchen könnte. Philips arbeitet an so einer Lösung, bei der ein Biochip die entarteten Zellen aus dem Blut fischt.

Magnetpartikel werden inzwischen auch eingesetzt, um DNA auf die Sequenzanalyse vorzubereiten. Bisher war die Trennung der Nukleinsäuren vom Rest der Zellen aufwendig, zeitraubend und teuer. Wenn man zum Beispiel den genetischen Finger- abdruck eines Menschen bestimmen wollte – biochemische Handarbeit eben. Könnte ein Labor dagegen magnetische Nanopartikel einsetzen, die so konstruiert sind, dass sie nur an Nukleinsäuren binden können, dann müssen die Laboranten Probe und Reagenzien nur in einen Topf geben und ein Magnetfeld anlegen – und schon kann die ganze Abteilung zur Mittagspause gehen.

Der Entwicklungsdruck in Richtung noch schnellerer, billigerer Genanalysen kommt vor allem aus der Medizin selbst: Patient 08/15 verschwindet. An seine Stellen treten Individuen, bei denen der Arzt erst die Erbanlagen kennen möchte, bevor er sich für dieses oder jenes Medikament entscheidet. Eines von Dutzenden aktuellen Beispielen ist der Antikörper Cetuximab, der sich gegen einen Wachstumsmechanismus von Krebszellen richtet. Verabreicht man ihn nach dem Gießkannenprinzip, verlängert er das Leben der Behandelten im statistischen Mittel um einige Wochen. Manche Tumorzellen haben ein mutiertes Gen, mit dem sie die Cetuximab-Wirkung unterlaufen können. Wählen die Onkologen nur diejenigen Patienten aus, die diese Mutation nicht haben, dann steigt der Lebenszeitgewinn auf mehrere Jahre. (bsc [1])


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