OSINT: Wie Online-Freiwillige Kriegsverbrechen in der Ukraine aufdecken

Internetnutzer schließen sich zu Gruppen zusammen, die die Brutalität der russischen Invasoren zu dokumentieren versuchen – mit digitalen Mitteln.

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(Bild: Tomas Ragina/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Tanya Basu
Inhaltsverzeichnis

Als Russland Ende Februar in der Ukraine einmarschierte, fühlte sich Aedon wie viele Menschen einfach nur hilflos. Der 23jähriger Brite hat zwar keine direkte Verbindung zum Krieg, ist aber gut im Sammeln von Open-Source-Informationen, also im Durchforsten des Netzes, um dabei öffentlich zugängliche, aber dennoch interessante Daten zu sammeln. Also meldete er sich als Freiwilliger beim Rechercheportal Bellingcat, um bei der Authentifizierung von Bildern und Videos möglicher Kriegsverbrechen in der Ukraine zu helfen. Nun hofft er, dass seine Arbeit im Bereich der Open Source Intelligence (OSINT) zu einer Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof führt.

"Wenn wir auch nur die geringste Hoffnung haben möchten, die Täter für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen, müssen wir sicherstellen, dass die dafür notwendige Vorarbeit geleistet wurde. Das tun wir jetzt", sagt Aeden, der seinen richtigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht in den Medien lesen will.

Seit Beginn der Invasion versuchen Menschen auf der ganzen Welt, Kriegsflüchtlingen zu helfen und Kriegsfolgen abzumildern. Für Leute mit investigativen Fähigkeiten wie Aeden, der schon früher als OSINT-Freiwilliger für Bellingcat gearbeitet hat, heißt das, dass sie Zeit und Mühe darauf verwenden, von Ukrainern ins Internet gestelltes Material zu analysieren, um mögliche Kriegsverbrechen wie die Bombardierung ziviler Gebäude oder nach Kriegsrecht eigentlich geschützter Ort wie Krankenhäuser zu dokumentieren und deren genauen Standort zu ermitteln.

Schon beim Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar 2021 hatten Aktivisten versucht, die Randalierer im Internet ausfindig zu machen. Solche Fähigkeiten machen sich Online-Detektive nun im Ukraine-Krieg zunutze. Doch ob und wie diese Bemühungen tatsächlich zu zulässigen Beweisen für eine mögliche Verfolgung von Kriegsverbrechen führen werden, ist unklar – vor allem fehlt ein universelles System zur Katalogisierung der Flut der eingehenden Beweise.

Menschenrechtsorganisationen haben bereits professionelle Ermittler in die Ukraine entsandt, um Daten über mögliche Kriegsverbrechen zu sammeln. Rich Weir, Ermittler von Human Rights Watch, landete am 23. Februar in Kiew und wurde am nächsten Morgen von der Nachricht über die Invasion aufgeweckt. "Eigentlich sollte ein Kollege in Kiew zu mir stoßen, aber der Luftraum dort wurde gesperrt", erzählte er, während er in Lemberg sitzt, von wo er jetzt arbeitet. "Ich war allein dort."

Weirs Arbeit in den ersten Tagen des Krieges war durchaus turbulent. Er erfuhr von Luftangriffen und Attacken gegen Zivilisten. Er besuchte die Schauplätze, um Schäden und Opfer, seien es Verletzte oder Tote, zu zählen.

In einem Informationskrieg, in dem Gerüchte und Desinformationen um sich greifen, ist eine Verifizierung von entscheidender Bedeutung. Es reicht nicht aus, nur ein Video von einem Angriff oder ein Foto von einer Leiche zu sehen. Da das Internet in vielen Teilen der Ukraine unterbrochen ist, musste Weir auf analoge Methoden zurückgreifen, die Vorfälle zu bestätigen. Er ging also vor Ort und sprach mit Flüchtlingen, um aus erster Hand zu erfahren, was passiert ist.

Eine solche Archivierungsarbeit ist mit jedem Konflikt anspruchsvoller geworden, sagt Weir, der in Syrien und Myanmar ähnliche Arbeit geleistet hat. Es gibt zwar mehr Inhalte, die untersucht werden müssen, doch das macht den Job nicht leichter. Er führt dies auf die sozialen Medien und den verbesserten Zugang zu Mobiltelefonen mit Kameras zurück.

"Syrien ist ein sehr gutes Beispiel, wo es eine Flut von Fotos und Videos gab, die dokumentierten, was bei möglichen Missbräuchen und Verstößen gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte geschah", betont er. Doch trotz all dieser Daten hat die Justiz nur langsam gehandelt. Der syrische Diktator Bashar al-Assad wurde bislang vor internationaler Strafverfolgung bewahrt.

Das ist das Risiko in diesem Krieg. Selbst wenn er morgen zu Ende wäre, würde die strafrechtliche Verfolgung von Wladimir Putin oder den anderen russischen Befehlshabern, die in Kriegsverbrechen verwickelt sein könnten, Jahre dauern – wenn sie überhaupt stattfindet. Um ihnen den Prozess zu machen, müssten die Ermittler möglichst alle digitalen Beweise geografisch lokalisieren und überprüfen.

Was die dafür notwendige Zeit beschleunigen könnte, sind die vielen Menschen auf der ganzen Welt, die bereit dazu sind, solche OSINT-Arbeit zu leisten. Und sie haben bereits Erfahrung damit.

"Wir haben unseren Prozess seit dem Sturm auf das US-Kapitol gestrafft", sagt Giancarlo Fiorella, Untersucher bei Bellingcat. "Die Erfahrungen aus der Arbeit an einem Ereignis, das eine riesige Menge an Daten produzierte, helfen uns." Entsprechend bearbeite man heute mehr Daten und Beweise als je zuvor, wenn es um Kriegsverbrechen in der Ukraine geht. Das ist zu einem nicht geringen Teil Freiwilligen wie Aeden zu verdanken.

Der Open-Source-Forschende hat seine Zeit damit verbracht, Beweise für zivile Opfer und Schäden an der zivilen Infrastruktur in der Ukraine zu lokalisieren. Praktisch heißt das: Er erhält ein Foto oder ein Video aus dem Internet, das ihm zugewiesen wird, und hat dann die Aufgabe, den Standort mithilfe von Tools wie Satellitenbildern aus der Luft und der Straßenansicht von Google Maps zu lokalisieren. Sobald sich Aeden und ein anderer Freiwilliger auf einen Ort geeinigt haben – Aeden sagt, dass es nützlich ist, wenn jemand anderes bei der Überprüfung der Beweise hilft, um den Tunnelblick zu vermeiden –, überprüft ein Bellingcat-Offizieller die Informationen unabhängig. Dann beginnt der Zyklus erneut.

Das wäre für sich genommen eine beeindruckende Leistung, doch Lindsay Freeman, Direktorin für die Bereiche Recht und Politik am Human Rights Center der University of California, Berkeley, sagt, dass die schiere Anzahl und Vielfalt der Maßnahmen eine Herausforderung darstellt. Trotz ihrer guten Absichten könnten einige der Aktivisten einfach zu weit hinter der notwendigen Beweislast zurückbleiben, die für die Verfolgung von Kriegsverbrechen erforderlich ist.

Bemerkenswerterweise gab es bis vor kurzem kein einziges Dokument oder eine Gruppierung, die Regeln für das ordnungsgemäße Sammeln, Archivieren und Präsentieren von Daten aus Konfliktgebieten für eine mögliche strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen aufstellte. Dieses Problem spiegelt die sich teilweise widersprechenden Ansprüche internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen, des Internationalen Strafgerichtshofs und einer Reihe von Menschenrechts- und Hilfsorganisationen mit unterschiedlichen Befugnissen und Zuständigkeiten wider. Das spielt Kriegsverbrechern in die Hände, die wissen, dass sie vielleicht nie wirklich vor Gericht gestellt werden.

Im Jahr 2020 war Freeman Mitbegründer des sogenannten Berkeley-Protokolls, mit dem die ethische Nutzung von Open-Source-Informationen in Form gebracht werden soll. Das Protokoll, das von den Vereinten Nationen unterstützt wird, bietet ein Regelwerk für den Umgang mit digitalen Daten und deren Speicherung. Ein großer Teil des Dokuments wurde vom Syrien-Konflikt inspiriert, sagt Freeman, und von der Tatsache, dass unterschiedliche Formate die Datenerfassung dort zu einer sehr schwierigen Aufgabe machten.

Das Protokoll ist ein erster Schritt zur Schaffung eines Systems für die Flut von Daten, die aus der Ukraine kommen. Freeman räumt ein, dass es noch nicht ausreicht. Während viele Hilfsorganisationen das Protokoll übernommen hätten, sind viele andere Gruppen ihren Gewohnheiten verhaftet und haben ihre eigenen internen Systeme für die Archivierung von Informationen.

Laut Freeman geht das Berkeley-Protokoll auch nicht wirklich auf Crowdsourcing ein, das nicht nur im Ukraine-Krieg, sondern auch bei anderen Konflikten in den letzten Jahren eine große Rolle spielt. Durch den verbesserten Zugang der Bürger zu Technologie und sozialen Medien war es noch nie so einfach, Informationen direkt von den Betroffenen zu erhalten.

Laut Freeman liegt das Problem zum Teil darin, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) sehr selektiv darin ist, welche Art von Beweisen er zulässt – und oft offiziell wirkende Quellen wie Überwachungsaufnahmen mit Zeitstempeln bevorzugt, statt sich verwackelte Handyaufnahmen von Bürgern anzusehen.

(bsc)