Papier, was wird aus dir?

E-Books, E-Mails, Zeitungs-Apps: Mit der digitalen Revolution sinkt der Papierbedarf. Nun entdeckt die Branche: Sie kann mit dem Material weit interessantere Dinge anstellen, als nur Farbe aufzudrucken.

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Von
  • Wolfgang Richter
Inhaltsverzeichnis

Bevor Sie diese E-Mail ausdrucken, denken Sie an die Umwelt!" Wann haben Sie das zum letzten Mal gelesen? Vermutlich ist es schon eine Weile her. Mails drucken wir nur noch selten aus, die Steuererklärung wandert elektronisch ins Finanzamt, die Auflage von Magazinen und Zeitungen sinkt stetig, elektronische Ausgaben verbreiten sich zusehends. Die digitale Revolution fordert ein Gewerbe heraus, das die letzten 570 Jahre durch die Erfindung des Buchdrucks ein gesichertes Auskommen hatte. "Der Rückgang bei der Produktion von Papier für Zeitungen und Magazine hat bereits dazu geführt, dass ein Viertel der dafür benötigten Maschinen in Europa verschrottet werden mussten", sagt Frank Miletzky, Vorstandsvorsitzender der Papiertechnischen Stiftung (PTS), einem Forschungsinstitut der Papierindustrie. "Der Rückgang bei den Büropapieren ist noch nicht so ausgeprägt, aber das ändert sich gerade."

Insgesamt sank der Anteil der sogenannten grafischen Papiere an der Gesamtproduktion von 49 Prozent im Jahr 2005 auf 38 Prozent im Jahr 2014. Noch macht der gestiegene Bedarf an Verpackungskarton den Rückgang wett, weil der Internethandel boomt. Doch die Sorge ist groß, dass der Abschwung nicht aufzuhalten sein wird, wenn der Absatzmarkt für bedruckbares Papier irgendwann ganz zusammenbricht.

Die Branche ist deshalb dabei, einen zwei Jahrtausende alten Stoff neu zu erfinden. Genügend Ansatzpunkte bietet das Material: Seine Zellulosefasern sind fest und gleichzeitig flexibel. Beim Herstellungsprozess lassen sie sich zudem in eine Vorzugsrichtung bringen, was die Zugfestigkeit noch mal erhöht. Gleichzeitig besitzt Papier genügend Hohlräume, um Zusatzstoffe aufzunehmen – wie heute etwa Calciumcarbonat, damit es glatter wird. Es dehnt sich bei Erwärmung nicht aus und widersteht vielen Lösungsmitteln. Zudem ist Papier durch die Massenproduktion extrem billig und lässt sich einfach bearbeiten.

Mittlerweile dient es als Rohstoff für 3D-Drucker, als Material für Gebäude und beherbergt sogar Mikrolabore. Skandinavische Firmen gehen noch einen Schritt weiter: Sie erschaffen aus dem Grundstoff Zellulose Materialien mit völlig neuartigen Eigenschaften.

Wenn Samuel Schabel, Professor für Papiertechnik an der Technischen Universität Darmstadt, die Tür zu seinem Labor öffnet, wehen einem angenehme 50 Prozent Luftfeuchtigkeit und 23 Grad Celsius entgegen. "Weil Papier je nach Umgebungsbedingungen unterschiedlich viel Wasser enthält, müssen wir für vergleichende Untersuchungen ein Standardklima schaffen", erklärt er. Etwa einen Tag brauche es, bis sich die selbstgemachten, tellergroßen Papiere akklimatisiert haben.

Sie tun dies an Wäscheleinen geklammert, die sich quer durch den Raum spannen. Auf Tischen an der Wand stapeln sich Dutzende Küchen- und Klopapierrollen sowie Taschentücher, die auf einen Produkttest warten. Ein Student ist gerade dabei, dünne Papierstreifen in ein Prüfgerät einzuspannen. Es wird anschließend so lange an ihnen ziehen, bis sie zerreißen. Die wuchtige Apparatur sieht aus, als könne sie es auch mit Stahlproben aufnehmen.

Schabel zeigt einen Eierkarton der finnischen Firma Huhtamaki. Er ist nicht nur grasgrün, sondern duftet auch nach Wiese. "Da sind 40 Prozent Heu drin", erklärt er. Heute werden solche Verpackungen noch aus Faserbrei gegossen und lange getrocknet. Schabel dagegen will die Pappe genauso formbar machen wie Blech. Damit ließe sich nicht nur der Eierkarton zehnmal schneller produzieren. Es wären zudem völlig neue Formen möglich. Pappe könnte Kunststoffe oder andere Produkte aus Mineralöl ersetzen – und so die Umwelt schonen.

Papier, was wird aus dir? (6 Bilder)

Papierobjekte aus dem 3D-Drucker: Die Firma May+Spies in Düren besitzt seit Kurzem ein Exemplar des weltweit ersten papierbasierten 3D-Farbdruckers. Das Gerät stammt von Mcor Technologies.
(Bild: Mcor Technologies)

Bis das klappt, ist allerdings einiges an Forschung nötig: Wie feucht sollte das Papier beim Verformen sein? Wie muss man die Fasern vor der Papierherstellung kneten, damit sie gerade richtig zusammengestaucht sind? Diese Ziehharmonikaform wirkt als Puffer und verhindert, dass das Papier reißt. Wenn die Fasern aber zu elastisch sind, klappt die Umformung nicht. Schließlich können die Forscher noch mit den Füllstoffen spielen, etwa Calciumcarbonat, die die Wasserstoff-Brückenbindungen zwischen den Fasern unterbrechen und so als Gleitmittel wirken. Schabel hat es immerhin schon zu einer Papier-Frisbee gebracht. Seine Konkurrenten an der Technischen Universität Dresden ziehen Trinkbecher bis zu sechs Zentimeter tief. Und eine Zellulosemischung der schwedischen Firma Billerud ermöglicht schlauchförmige Papierverpackungen in beliebiger Länge, die auch schon verkauft werden.

Die Papierforscher wollen aber nicht nur bekannte Anwendungen verbessern, sondern völlig neue erschließen. Ein Beispiel sind Mikrolabore, an denen Schabels Kollege Markus Biesalski an der TU Darmstadt arbeitet. Auf Papiermischungen von Schabel trägt der Chemiker Kunststoffe auf, die UV-lichtempfindliche Moleküle tragen. Ähnlich wie bei der Chipherstellung können die Forscher nun komplexe Muster mithilfe einer Maske auf das Papier belichten. Nur an den mit UV-Licht aktivierten Stellen verbinden sich die Polymere mit den Zellulosefasern, der Rest wird einfach abgewaschen.

"So können wir wasserabweisende Barrieren im Papier herstellen", erklärt Biesalski. "Stehen diese nahe genug zusammen, werden Flüssigkeiten im Spalt dazwischen durch starke Kapillarkräfte nach oben gesaugt." Fertig ist eine Art Pumpe – ohne Motor und äußere Energiezufuhr. Mit ihr ließen sich "Lab-on-a-paper"-Systeme verwirklichen, etwa für Nachweisreaktionen in der Medizin oder beim Umweltschutz. Im Gegensatz zu Lab-on-a-Chip-Anwendungen aus Glas und Metall wären sie sehr preiswert und in Massen zu produzieren.

Um die Machbarkeit des Papierlabors zu demonstrieren, haben Schabel und Biesalski einen Glukosetest entwickelt. Die Flüssigkeiten reagieren zeitversetzt miteinander und leuchten bei positivem Ergebnis unter UV-Einstrahlung violett auf. Einfache Glukose-Teststäbchen aus Papier seien zwar bereits Standard in jeder Hausarztpraxis, gibt Biesalski zu. Aber sein Ziel sind deutlich komplexere Nachweise, und dafür gebe es nichts Vergleichbares. Momentan arbeitet sein Team an einem entsprechenden Test, der später in Massenproduktion hergestellt werden soll. Die Details seien aber noch geheim.

Bereits im Massenmarkt angekommen ist eine dritte Idee zur Zukunft des Papiers: mit ihm 3D-Objekte zu drucken. Die Firma May+Spies in Düren etwa besitzt seit Kurzem ein Exemplar des weltweit ersten papierbasierten 3D-Farbdruckers. Das Gerät der irischen Firma Mcor verwendet DIN-A4-Papierblätter und leimt diese schichtweise zusammen. Nach jedem neuen Blatt schneiden Präzisionsmesser die Kontur des gewünschten Objekts aus, am Schluss lässt es sich dann leicht aus dem umgebenden Papierstapel lösen.

"Dreidimensionales Papier ist so fest und schwer wie Holz", sagt Geschäftsführer Heinrich Spies. Noch interessanter aber ist, dass sich mit dem Verfahren erstmals nahezu fotorealistische Modelle im 3D-Druck herstellen lassen. Dann wird jede Papierschicht vor dem Verleimen von dem Tintenstrahl des Geräts fast vollständig durchgefärbt. Über eine Million Farben stehen zur Verfügung. Mit buntem Kunststoffgranulat in herkömmlichen 3D-Druckern sind die Farbabstufungen wesentlich schlechter.

Preiswert ist es obendrein: Während sich die Druckkosten für Objekte aus Kunststoff oder Metall zwischen 30 Cent und mehreren Euro pro Kubikzentimeter bewegen, liegen sie Spies zufolge beim Papier zwischen 8 Cent ohne und 16 Cent mit Farbe. Eine Porzellanmanufaktur lässt sich bei Spies auf diese Weise bereits Prototypen produzieren. Hersteller Mcor gibt an, von seinem Drucker schon mehrere Hundert Stück zum Preis von etwa 40.000 Euro verkauft zu haben. Ein ähnliches Verfahren wie Mcor nutzt die Papiertechnische Stiftung in Heidenau in Sachsen.

Die aufeinandergeklebten Papiere werden dabei aber nicht mit Messern, sondern mit einem Laser beschnitten – aus gutem Grund. "Bei der Herstellung mischen wir nämlich zu den Zellulosefasern im Papierbrei Metall- oder Keramikpartikel sowie Bindemittel", sagt Tiemo Arndt von der PTS. Der wässrige Brei wird dann wie bei der Papierherstellung üblich über Siebe entwässert, wobei sich seine Struktur innerhalb von Sekunden bildet. "Wir schaffen es, den Anteil des Metalls oder der Keramik auf 80 bis 90 Prozent einzustellen", sagt Arndt. "Ein DIN-A4-Blatt mit Kupferfüllung wiegt dann nicht 80, sondern 800 Gramm. Und fühlt sich an wie Metall."

Dennoch behält das Produkt seine papiertypische Struktur und lässt sich leicht falzen, rollen, rillen und wellen. Oder eben im 3D-Drucker schichtweise aufbauen und per Laser in Form schneiden. Anschließend werden die Werkstücke unter hohen Temperaturen gesintert. Die Zellulose zersetzt sich, ein fester Metall- oder Keramikkörper bleibt übrig. Aufgrund der Papierstruktur des Ausgangsmaterials ist dieser aber porös und damit 20 bis 60 Prozent leichter als ein massiver Körper gleicher Form. Erste Anwendungen sind etwa keramische Stapelhilfen für die Porzellanproduktion. Sie halten die Teller im Brennofen auf Distanz und sparen Energie, weil nicht so viel Masse zusätzlich erhitzt werden muss. Die metallische Variante eignet sich unter anderem für Rußpartikelfilter, weil die poröse Struktur eine große Oberfläche mit sich bringt. Ein Autohersteller produziert derartige Filter bereits in Serie.

Was im fertigen Produkt zurückbleibt, ist nur noch eine Erinnerung an Papier. Doch die Neuerfindung des Papiers geht noch weiter: Bei einigen Produkten verschwindet sogar diese Erinnerung. Bearbeitet man die Zellulose mechanisch so, dass die Faserstruktur aufbricht und lediglich winzige Wollfäden aus langen Zuckermolekülen übrig bleiben, entsteht mikro- und nanofibrillierte Zellulose. Das Ergebnis sind völlig veränderte Eigenschaften, die für Samuel Schabel einen "ganz neuen Kosmos öffnen". Diese Wollfäden haben ähnliche Eigenschaften wie Kristalle, je nach Mahlgrad eine bestimmte Länge und sie klumpen nicht zusammen.

Man kann aus ihnen ein Gel oder einen Festkörper mit ebenfalls kristallinen Eigenschaften herstellen. Letzterer ist fast genauso fest wie Stahl und stark wasserabweisend. Das schwedisch-finnische Unternehmen Stora Enso mischt diese neue Zelluloseform bereits Karton bei, um ihn stabiler zu machen. Zudem halten andere skandinavische Firmen Patente für durchsichtige und wasserdichte Verpackungen sowie Beimischungen zu Beton und Autoreifen. "Für mich", sagt Samuel Schabel und verzieht dabei fast unmerklich sein Gesicht, "ist das dann allerdings kein Papier mehr." (bsc)