Peptidspritze fürs Gehirn

Amerikanische und chinesische Forscher finden ein Verfahren, das Nervenverbindungen in bislang nicht gekanntem Ausmaß nachwachsen lässt. Damit könnten Hirnverletzungen etwa durch einen Schlaganfall ohne bleibende Folgeschäden geheilt werden.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Kevin Bullis

Patienten mit Schlaganfällen und traumatischen Hirn- oder Rückenmarksverletzungen erholen sich zwar mitunter von ihren Verletzungen durch ein Reha-Programm. Aber oft bleiben dauernde Behinderungen zurück. Das liegt zum Teil daran, dass vernarbtes Gewebe und chemische Regulationsprozesse im Hirn das Wachstum der Nervenzellen verlangsamen und damit eine Regeneration der Nervengewebes behindern. Doch eine vom Massachussetts Institute of Technology (MIT) mitentwickelte Behandlungsmethode gibt neue Hoffnung: Den Forschern gelang es, bei Versuchstieren eine verloren gegangene Sehtüchtigkeit wiederherzustellen. Damit könnten Nervenverbindungen nach einer Verletzung in großer Zahl wieder nachwachsen.

"Wir glauben, dass dies die Grundlage für eine wiederherstellende Hirnchirurgie ist - eine Therapie, von der bislang noch niemand gehört hat", sagt der Neuroforscher Rutledge Ellis-Behnke, der an dem MIT-Projekt beteiligt ist.

Die Behandlung, die in dieser Woche auf der Webseite der Proceedings of the National Academy of Sciences vorgestellt worden ist, wurde gemeinsam am MIT, der Universität Hongkong und der Vierten Militärmedizin-Universität von China entwickelt. Sie könnte schon in drei Jahren in klinischen Versuchen an Menschen getestet werden, wenn die Experimente mit größeren Versuchstieren erfolgreich verlaufen, sagen die beteiligten Forscher.

In ihren Laborversuchen schnitten sie zunächst in ein Hirnareal, das Sehsignale weiterleitet. Dadurch wurden Versuchstiere auf einem Auge blind. Anschließend injizierten sie in die verletzte Stelle eine transparente Flüssigkeit, die Ketten aus Aminosäuren - so genannte Peptide - enthielt. In der Hirnumgebung verbanden sich die Peptide dann miteinander zu nanoskaligen Fasern, die die durch den Schnitt entstandene Lücke überbrückten. Das Fasernetz verhinderte dann die Bildung von Narbengewebe und könnte sogar zum Zellwachstum beigetragen haben. Derzeit untersuchen die Forscher noch die Mechanismen, die diesen Effekt hervorrufen.

Bei drei Vierteln der Versuchstiere entwickelten sich daraufhin neue Verbindungen aus Nervenzellen, so dass sie wieder gut genug sehen konnten, um Nahrung zu erkennen und sich ihr zuzuwenden. Durch die Behandlung wurden etwa 30.000 Nervenverbindungen wiederhergestellt. Zum Vergleich: Andere Therapieansätze hätten nur 25 bis 30 Verbindungen geschaffen, sagt Ellis-Behnke.

Weil die Behandlung so entscheidende Hindernisse bei der Heilung von Nervengewebe, das durch Schlaganfälle oder Hirnverletzungen zerstört wird, überwindet, halten auch Experten auf dem Gebiet den neuen Ansatz für vielversprechend.

"Die vorliegenden Daten sind fast zu schön, um wahr zu sein", urteilt Wolfram Tetzlaff von der International Collaboration on Repair Discoveries (ICORD) an der Universität von British Columbia. "Schon für sich genommen sind die Ergebnisse spektakulär und könnten sich mit anderen Regenerationsstrategien kombinieren lassen", sagt Tetzlaff. "Die nächsten Studien müssen nun zeigen, ob die Daten Bestand haben." Sie sollten so angelegt sein, dass man sehen könne, ob die Behandlung auch mit anderen Hirnverletzungen, nicht nur bei Schnitten, funktioniere.

Der jetzige Erfolg ist insofern überraschend, als hierbei keine Chemikalien, wie sie bislang zur Stimulierung von Nervenwachstum oder Stammzellen verwendet werden, eingesetzt wurden. "Sie haben nur Peptide genommen. Dass die Nervenzellen sich wieder mit dem Ziel verbinden und die Sehfunktion in den Versuchstieren wieder herstellen - das finde ich unglaublich", sagt Tat Fong Ng vom Bostoner Schepens Eye Research Institute, dass mit der Universität Harvard assoziiert ist.

Die entscheidende Frage für Ng ist nun, ob die Zugabe solcher Chemikalien und Zellen zur Behandlungsmethoden das Wachstum noch beschleunigen könnte. Auf diese Weise könnten sogar entfernt liegende Hirnregionen, deren Verbindung durch eine Verletzung wie einen Schlaganfall unterbrochen wurde, miteinander verbunden werden. Den beteiligten Forschern zufolge könnte dies gelingen, wenn mit Hilfe von minimalinvasiver Chirurgie ein Pfad zwischen den beschädigten Regionen angelegt wird, in den dann Peptide injiziert werden und Fasern ausbilden. Der Pfad würde gleichzeitig das Wachstum von Nervenzellen ermöglichen und diesem die Richtung vorgeben.

Bislang sind bei dem Ansatz in den Versuchstieren keine Komplikationen beobachtet worden, wie Entzündungen oder Verklumpungen der Fasern. Die zerfallen im Laufe einiger Wochen und werden über den Urin ausgeschieden. Da Aminosäureketten die Bausteine von Proteinen sind, könnten sie womöglich auch für das Wachstum neuer Zellen eingesetzt werden. Weil es sich um natürliche Aminosäuren handelt, sind die Forscher optimistisch, dass auch bei größeren Versuchstieren oder Menschen keine Abwehrreaktionen auftreten werden.

Ed Tehovnik, einen Neuroforscher am MIT, der an der Arbeit nicht beteiligt war, findet das Verfahren "ziemlich vielversprechend". Es könnte der Ausgangspunkt für weitere Entdeckungen sein: "Möglicherweise gibt es weitere Nanomaterialien, die das Wachstum noch besser stimulieren. Für mich ist das ein Anfang, kein Endpunkt. Eine gute Sache."

Übersetzung: Niels Boeing.

H. Yokoi et al., Dynamic reassembly of peptide RADA16 nanofiber scaffold, Proceedings of the National Academy of Sciences, Online-Version März 2006 (nbo)