Post aus Japan: Stimme aus dem Grab

Virtuelle Realität wird der neue Trend. Dieses Mal wirklich. Aber es geht nicht nur ums Spielen, sondern auch um Ratschläge für den Nachwuchs und die eigene Unsterblichkeit, wie sich in Nippon zeigt.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Martin Kölling

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus – und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends.

Sie sind gerade Vater oder Mutter, Oma oder Opa geworden? Da habe ich genau das richtige Geschenk für Sie: einen IC-Recorder, besser noch ein Lifelog-Gerät, das neben Ton auch Bilder aufnehmen kann. Mein Vorschlag: Sie tragen ihn immer mit sich herum und nehmen jedes Gespräch auf, das Sie mit ihrem Kind oder Enkelkind führen. Am besten, Sie nehmen gleich jedes Ihrer Gespräche auf.

Auf die Geschenkidee brachte mich ein südkoreanischer Bekannter in einem japanischen Ramen-Nudel-Laden. Sammy Ahn ist Vorstandsmitglied bei AT Technology, einem mittelständischen Anbieter von Messgeräten und -diensten für Halbleiterhersteller. Und er ist Experte für Virtuelle Realität (VR).

Während wir so über seine noch virtuellen Pläne für reale digitale Kunstwelten sprachen, fragte er mich: "Wie wäre es, wenn wir nach dem Tod unserer Eltern mit ihnen sprechen und uns von ihnen Rat holen könnten?"

Er hatte dabei nicht an eine Séance mit einem Medium gedacht, das uns eine Gesprächsverbindung zum Jenseits öffnet. Auch nicht an die sprichwörtliche Stimme aus dem Grab. Vielmehr geht es um die Verbindung künstlicher Intelligenz (KI) inklusive Maschinenlernen und virtueller Realität.

Aus den aufgezeichneten Gesprächen können Maschinen vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft ein Persönlichkeitsprofil erstellen – und genau mit dem richtigen Duktus antworten. Schließlich hat das System dank Ihrer Aufnahmefreude tausende von Beispielsätzen parat, und ich weiß nicht, wie viele mehrfach. Wir Menschen wiederholen uns und unsere besten Anekdoten ja gerne.

VR kann dann dazu dienen, das virtuelle Ebenbild unseres Gesprächspartners mit Computergrafik vor unserem realen Auge auferstehen zu lassen, um so die Illusion noch perfekter zu machen. Und wer weiß, vielleicht brauchen wir bis dahin nicht einmal mehr irgendwelche VR-Brillen wie Facebook, HTC und Sony sie gerade auf den Markt bringen. Vielleicht gibt es bis dahin ja auch holografische Projektionen für den Hausgebrauch.

Der willkommene Nebeneffekt: Dies könnte die Lowtech-Variante immaterieller Unsterblichkeit werden. Immer wieder wird darüber nachgedacht, irgendwann einmal unseren Geist in den Computer, oder heutzutage wohl besser gesagt, die Cloud hochzuladen. Die Big-Data-Rundumerfassung unseres Lebens mitsamt unserer Gespräche ist da möglicherweise der billigere und schnellere Weg als das Hirn direkt anzuzapfen. Durch die Auswertung unserer Gespräche, Fotos und Erlebnisse, die wir künftig mit Lifelog-Geräten rund um die Uhr erfassen können, sichern wir unsere Erfahrungen in der Cloud ab. Dort werden die Erlebnisse ausgewertet und unser digitaler Doppelgänger lebt als Teil eines großen KI-Kollektivs weiter.

Stellen Sie sich mal die Möglichkeiten vor: Wir können uns und andere Menschen ein- und ausblenden wie die holografischen Figuren bei Star Trek, die ja manchmal sogar den Sprung zurück ins reale Leben schaffen. Wir können dann sogar Selbstgespräche mit uns in den verschiedenen Altersstufen führen und auf Zeitreise gehen.

Auch neue Jobs werden geboren: VR-Juristen werden sich um die Rechte unseres zweiten Ichs kümmern. Digitaldoktoren werden sich bemühen, aus Versehen verschmolzene virtuelle Ichs wieder zu trennen oder korrumpierte Kopien zu heilen.

Neue Spiele wird es geben können, in denen wir unsere virtuelle Kopie gegen und mit anderen Abbildern und Erfindungen der Rechner spielen lassen können. Matrix lässt grüßen. Oder Sie halten sich selbst für zu feige? Gegen Bezahlung eines Obulus können Sie eine Portion Mut in Ihre Kopie laden, die es Ihrem virtuellen Chef in virtuellen Gehaltsverhandlungen aber mal so richtig zeigt.

Wir können uns digitalen Rat von berühmten Menschen oder besonders fähigen Psychiatern kaufen oder mieten. Ja, Genialität bekommt Skaleneffekte, und geniale Menschen werden durch ihre grenzenlose Vervielfältigung und grenzenlosen Vertrieb grenzenlos reich.

Und über allem wachen KI-Anbieter, denen das kollektive Wissen der Menschheit zur Verfügung steht. Wenigstens jenem Teil der Menschheit, der sich diese Dienste leisten kann. In dieser Welt verwandelt sich Armut vielleicht in einen Segen: Denn nur wer außerhalb des Systems steht, hat noch so etwas wie Privatsphäre und Gedankenfreiheit wie wir sie kennen. ()