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Reboot für Verlage

Hans Dorsch

Self-Publishing boomt in Deutschland. Pro Jahr erscheinen 40000 Titel ohne Verlag. Die ersten Dienstleister reagieren darauf und entwickeln neue Techniken und Geschäftsmodelle, von denen sowohl Autoren als auch Leser profitieren können.

Self-Publishing boomt in Deutschland. Pro Jahr erscheinen 40000 Titel ohne Verlag. Die ersten Dienstleister reagieren darauf und entwickeln neue Techniken und Geschäftsmodelle, von denen sowohl Autoren als auch Leser profitieren können.

Marah Woolf hat in den letzten drei Jahren fünf Bücher mit einer Gesamtauflage von über 300.000 Exemplaren verkauft. Zum Vergleich: Dave Eggers' "Der Circle", die aktuelle Nummer eins der "Spiegel"-Bestsellerliste für Hardcover, kam in den ersten drei Wochen auf 115.000 Verkäufe. Woolfs Erfolge sollten also locker für einen der vorderen Ränge auf den Beststellerlisten und eine prominente Platzierung in den Buchläden reichen. Doch dort ist Woolf nicht zu finden, denn sie veröffentlicht ihre Fantasy-Romane erstens nur als E-Book und zweitens ohne Verlag.

Mit seinem "Kindle Direct Publishing"-Portal macht Amazon es Autoren denkbar einfach, selbst zum Verleger zu werden: Textdatei und Covergrafik hochladen, Preis festlegen, fertig. Vom Verkaufspreis bekommen die Autoren 70 Prozent Tantiemen – mit Verlag sind es in der Regel gerade mal 10 Prozent. Kein Wunder, dass mittlerweile rund 40.000 Titel jährlich ohne Hilfe eines Verlages erscheinen. Doch langsam löst sich die Buchbranche aus ihrer Schockstarre und entwickelt neue Produktionsmethoden und alternative Vertriebsformen. Diese sind auch für Selbstverleger attraktiv.

Das Kindle-Autorenportal und den dazugehörigen E-Book-Shop gibt es seit 2011. Im gleichen Jahr veröffentlichte Marah Woolf ihren Erstling "MondSilberLicht". Drei Jahre und fünf Bücher später ist sie Autorin, Verlegerin und Unternehmerin in eigener Sache. Sie arbeitet jetzt mit einer freien Lektorin zusammen, die ihre Texte inhaltlich und strukturell überprüft und korrigiert. Das Coverdesign kommt von einer selbstständigen Illustratorin. Alle werden fair bezahlt. Auch um das Marketing kümmert sich die Unternehmerin selbst: "Ich bin auf den Buchplattformen Goodreads und LovelyBooks unterwegs und bei Amazon im Self-Publisher-Forum, habe eine Autorenseite bei Facebook, und auf Twitter teile ich Links und poste Buchzitate."

Welche Rolle Amazon dabei spielt, ist weit weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Einerseits hat der Konzern mit seinem Publishing-Portal die klassischen Verlage gezielt frontal angegriffen und die Selbstverlagsbewegung damit erst ins Rollen gebracht. Andererseits ist Amazon im E-Book-Geschäft weit weniger dominant als im Bücherversand.

Matthias Matting, Journalist und erfolgreicher Selbstverleger, erstellte für sein Online-Portal "Die Self-Publisher-Bibel" 2014 eine Studie über die Szene. Ein Ergebnis: Weniger als die Hälfte der Autoren veröffentlichen auf nur einer einzigen Plattform. Und kaum noch jemand setzt exklusiv auf Amazon: von 39 Prozent im Vorjahr ging die Quote auf 29 Prozent zurück. Auch Marah Woolf setzt nicht mehr nur auf Amazon, sondern auch auf andere E-Book-Plattformen wie iBooks von Apple und Tolino, die E-Book-Allianz der großen Buchhändler Thalia, Hugendubel und Weltbild. Sie kommen zusammen auf etwa 40 Prozent der Verkäufe.

Damit sie ihre Bücher nicht bei allen Anbietern von Hand hochladen muss, nutzt Woolf sogenannte Self-Publishing-Distributoren – Digitalplattformen, die sich immer mehr zu Rundum-Dienstleistern entwickeln und den Autoren eine Menge Arbeit abnehmen. Dafür bekommen sie einen kleinen Teil der Einnahmen. Die wichtigsten Distributoren in Deutschland sind Xinxii, Neobooks, Bookrix, BoD und ePubli. Sie wandeln unter anderem Bücher in die gängigen E-Book-Formate um, besorgen eine ISBN-Nummer, liefern die Pflichtexemplare bei der Deutschen Nationalbibliothek ab, kümmern sich um die Abrechnung, vermitteln Lektoren oder Grafiker. Bookrix bietet sogar ein Korrektorat zum Festpreis an: 250 Wörter für 3,79 Euro. BoD und ePubli drucken auf Bestellung auch Bücher auf Papier ("Print on Demand").

Das Manuskript selbst entsteht trotz all dieser technischen Aufrüstung meist immer noch so wie in der Frühphase der Computerisierung: Die Beteiligten schicken eine Textdatei hin und her, bearbeiten und korrigieren sie. Ständig müssen sie sich dabei fragen, welche Version des Dokuments die aktuelle ist, ständig wartet jemand auf die Anmerkungen von jemand anderem. Gerade bei Fachbüchern ist das hinderlich. Der IT-Verlag O'Reilly, bei dem auch der Autor dieses Artikels Fachbücher veröffentlicht, hat deshalb eine Online-Plattform namens Atlas geschaffen, die alle Schritte vom Konzept bis zum fertigen Buch abdeckt. 75 Prozent seiner amerikanischen Bücher produziert der Verlag bereits mit Atlas.

Atlas überträgt die Techniken der Software- und Webseitenentwicklung auf die Buchproduktion: Die verschiedenen Versionen werden – wie bei den meisten Programmierprojekten – von der Software "Git" verwaltet; gestaltet und gespeichert werden die Bücher in den Websprachen HTML5 und CSS. Auf dieser Grundlage lassen sich Werke per Klick als Webseite, als gedrucktes Buch oder in allen gängigen E-Book-Formaten publizieren.

Damit sind auch große Projekte zu bewältigen, wie das Buch "Data + Design" von Trina Chiasson beweist. Sie hat als Forschungsmitarbeiterin des Reynolds Journalism Institute in Columbia ein Handbuch zum Datendesign herausgegeben – mit 54 Beteiligten in 14 Ländern. Über Atlas konnten alle gleichzeitig am Projekt arbeiten. Mit einem Klick sahen die Autoren jederzeit, wie ihre Texte und Grafiken im fertigen Buch aussehen würden. Alle Änderungen und Anmerkungen wurden immer genau einer Person und einem Zeitpunkt zugeordnet. Wie in der Softwareentwicklung konnte die Lektorin auf jede vorherige Version zugreifen.

Bis jetzt bietet O'Reilly sein System nur anderen Verlagen und Unternehmen zur Nutzung an. Selbstpublizisten wie Marah Woolf können von solchen Möglichkeiten nur träumen. Sie schreibt mit Word, weil sie sich daran gewöhnt hat. "Aber es kommt immer wieder vor, dass das Programm abstürzt und die Arbeit eines Tages verloren ist", klagt sie. Dann wünscht sie sich ein funktionierendes Backup und eine Versionsverwaltung, um alte Textvarianten zurückzuholen. "Immer wieder spreche ich auch mit anderen Autorinnen über die Möglichkeit, gemeinsam Bücher zu schreiben. Da stellt sich sehr schnell die Frage: Wie arbeiten wir am besten zusammen?"

Aber auch für unabhängige Schreiber gibt es Lösungen: LeanPub etwa ist eine Online-Plattform, die ähnlich wie Atlas funktioniert, aber offen ist für alle Autoren. Der Programmierer Peter Armstrong hat die Plattform aufgebaut, nachdem er auf klassischem Weg zwei Bücher über Programmiersprachen veröffentlicht hatte, die bei ihrem Erscheinen schon veraltet waren. Er wollte ein Werkzeug, mit dem er schneller arbeiten und flexibler auf Veränderungen reagieren konnte.

Bei LeanPub lassen sich Mitarbeiter einfach per E-Mail einladen. Diese können Texte kommentieren und bearbeiten. Im LeanPub-Shop lassen sich Bücher noch während der Produktion als "Book in Progress" veröffentlichen. Bei Sachbüchern kommen Leser auf diese Weise früher an die Informationen, bei der Belletristik erlebt der Fortsetzungsroman seine Wiedergeburt. Und der Autor verdient schon während der Arbeit Geld – mit 90 Prozent des Buchpreises sogar mehr als in allen anderen Shops.

Auch beim Vertrieb experimentieren Verlage und Self-Publisher mit neuen Wegen. Der O'Reilly-Verlag etwa hat einen digitalen Buchverleih gegründet: Bei "Safari Books Online" erhält der Leser für einen monatlichen Mitgliedsbeitrag Zugriff auf Bücher und Videos von O'Reilly und vielen anderen Verlagen. Er wählt allerdings nicht einzelne Bücher aus, sondern Themen, die ihn interessieren. Dann erhält er einen auf ihn zugeschnittenen Informationsstream mit Leselisten, Notiz- und Markierungsfunktionen, den er im Webbrowser auf jedem Endgerät nutzen kann. Wer Web-Apps wie Evernote, Instapaper oder Pocket zum Sammeln von Informationen verwendet, wird das Prinzip sofort wiedererkennen.

Autoren werden bei Safari nach Seitenaufrufen bezahlt. Dabei wird die Abogebühr jedes Lesers prozentual auf dessen gelesene Bücher verteilt. Liest ein Abonnent ein einziges Buch in einem Monat komplett durch, erhalten Autor und Verlag den ganzen Teil des Erlöses. Verteilt sich das Lesen über mehrere Monate und mehrere Bücher, verteilen sich die Tantiemen entsprechend. "Bei einem Portal mit klar profilierten Zielgruppen funktioniert das sehr gut für den Autor und den Verlag", sagt Ariane Hesse von O'Reilly Deutschland. Bücher-Flatrates wie "Kindle Unlimited" funktionieren ähnlich.

Dort kann der Abonnent für zehn Dollar im Monat so viele Bücher lesen, wie er möchte. Für jedes Buch, das zu mindestens zehn Prozent gelesen wurde, erhält der Autor einen prozentualen Anteil an den Gesamteinnahmen. Wer davon profitieren möchte, muss sich allerdings exklusiv an Amazon binden. Das deutsche Buchportal Skoobe bietet Self-Publishern ein ähnliches Angebot ohne diesen Knebel. Über die beiden Distributoren ePubli und BoD können sie ihre Bücher mit einem Klick zum Verleih freigeben. Laut Skoobe kaufen die Nutzer des Leihangebots weiterhin viele Bücher auf Papier.

Tatsächlich machen E-Books in Deutschland nur zehn Prozent am Bücherabsatz aus. Den Rest verkauft der Buchhandel auf Papier. Ganz klar, dass Indie-Autoren dort gern vertreten wären. Für einen Platz im Regal würde Marah Woolf sogar einen Verlagsvertrag unterschreiben – und geringere Tantiemen in Kauf nehmen. Ihre Gespräche mit Verlagen scheiterten aber an deren Langsamkeit. "Wenn mein Buch 2014 fertig ist, möchte ich es auch in diesem Jahr veröffentlichen und nicht erst ein Jahr später."

Hier könnte der Buchhandel mit eigenen Angeboten einsteigen. Im letzten Jahr schon machte Matthias Matting einen Vorschlag, wie die Buchhändler das Self-Publishing für sich nutzen könnten: "Wäre ich Thalia- oder Hugendubel-Chef, würde ich ein Self-Publisher-Programm gründen und den Top 20 ein Regal in all meinen Läden anbieten", sagt er. "Amazon zeigt ja, dass man mit denen gutes Geld verdienen kann." (bsc [1])


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