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Schlafforschung: Wie das Klarträumen für jeden Menschen möglich ist

Neel V. Patel

(Bild: Bruce Christianson / Unsplash)

Sogenannte luzide Träume erlauben den Menschen, Träume bewusst wahrzunehmen. Neue Erkenntnisse darüber haben Auswirkungen auf die Hirnforschung.

Als ich 19 Jahre alt war – lange bevor ich daran dachte, eine Karriere als Autor für Weltraumthemen anzustreben – träumte ich, ich stünde auf der Marsoberfläche und blickte über eine rostige, mit Felsen übersäte Wüste, die in einer ewigen Dämmerung feststeckte und von deren Trostlosigkeit ich fasziniert war. Nachdem ich scheinbar stundenlang alles in mich aufgesogen hatte, blickte ich nach oben und sah eine Raumstation am Himmel hängen. Ich beschloss, mit Iron-Man-artigen Düsenstiefeln einfach mal dorthin zu fliegen. Dann bin ich leider aufgewacht.

Ich war nicht zufällig in meinem Traum über den Mars gestolpert. Und ich wusste dabei, dass ich die ganze Zeit geschlafen hatte. Im Rahmen eines Klartraums, auch luzides Träumen genannt, entschied ich mich, auf dem roten Planeten vorbeizusehen. Ich beschloss willentlich, mich in der außerirdischen Einsamkeit zu sonnen. Ich beschloss willentlich, herumzufliegen. Und da ich zu dieser Zeit fast jede Nacht luzide Träume hatte, erlebte ich mehrere Variationen dieses Traums – jede seltsamer und besser als die vorherige.

Luzides Träumen ist nicht leicht zu beschreiben, und die Art und Weise, wie es funktioniert, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Aber im Kern bedeutet es, dass man sich des Traumzustands bewusst ist und im Traum eine aktivere Rolle übernehmen kann. Einige meiner eigenen luziden Träume sind wie Leinwände gewesen, auf denen ich mir eine wilde neue Umgebung zurechtzimmerte oder sie mir nach und nach ausdachte.

Andere Klarträume erlaubten es mir, stressige Situationen zu verarbeiten, wie zum Beispiel öffentliche Reden zu halten. In einem anderen Traum, an den ich mich gerne zurückerinnere, spielte ich Karten mit meiner Großmutter, die Jahre zuvor gestorben war. Diese Erfahrung half mir, meine Gefühle ihr gegenüber auf eine Art und Weise zu verstehen, wie ich es früher als 13-Jähriger nie hätte tun können.

Selbst wenn es sich so anfühlt, als wären sie völlig zufällig, haben Träume Macht über die Menschen. Abgesehen davon, dass sie uns eine Pause von den manchmal lästigen physischen und sozialen Grenzen der realen Welt verschaffen, können sie uns helfen, Trauer zu verarbeiten und uns kreativer zu machen. Und wenn ich luzide träumte – ein Zustand, den ich heutzutage leider nur noch selten erreiche –, habe ich festgestellt, dass ich sogar mehr vom Schlaf hatte. Menschen, die in Online-Foren über ihre Erfahrungen mit den Klarträumen berichten, schreiben oft, dass sie dadurch zu neuen musikalischen oder belletristischen Werken inspiriert wurden, dass sie Lösungen für Probleme in der realen Welt gefunden haben oder dass sie einfach unglaublich unterhaltsame Momente erlebten.

"Man kann argumentieren, dass der REM-Schlaf eine Art vernachlässigte Ressource der Menschen ist", sagt Benjamin Baird, Forscher an der University of Wisconsin-Madison, der sich mit der menschlichen Kognition beschäftigt. "Was wäre, wenn wir diesen Zustand nutzen könnten, indem Menschen tatsächlich die Kontrolle über ihre Gedanken und Handlungen haben und entscheiden können, was sie tun wollen? Dieser Zustand könnte nicht nur zur Unterhaltung dienen, sondern zum kreativen Lösen von Problemen genutzt werden." Auch um zu lernen, wie das Gedächtnis funktioniert, könne luzides Träumen wichtig sein – "und für alle möglichen anderen [neurowissenschaftlichen] Fragestellungen".

Baird glaubt, dass eine weitere faszinierende Anwendung für luzides Träumen in der Kunst liegen könnte. "Eine Technik der bildenden Künstler, die ich kennengelernt habe, ist, dass sie in ihrem luziden Traum eine 'Kunstgalerie' erfinden und sich Gemälde ansehen, die in dieser Galerie hängen", sagt er. "Sie wachen dann auf und malen, was sie gesehen haben. Das Gleiche gilt für das Hören neuer Partituren durch Musiker. Es ist, als ob jemand anderes sie erschafft, aber es ist der eigene Verstand."

Eine kleine, aber wachsende Zahl von Wissenschaftlern unter der Leitung von Baird und anderen Schlaflabors in der ganzen Welt hofft, mehr über das luzide Träumen zu erfahren: Wie funktioniert es? Wie wird es ausgelöst wird? Und: Kann man einem Durchschnittsmenschen beibringen, es regelmäßig zu praktizieren? Durch die Untersuchung von Personen, die in der Lage sind, sich an das zu erinnern, was ihnen in ihren Träumen widerfahren ist, wollen diese Forscher ermitteln, welche kognitiven Prozesse im Kopf ablaufen, während die Gehirnaktivität und die physiologischen Vorgänge gemessen und beobachtet werden. Wie nimmt das Gehirn zum Beispiel bestimmte Objekte oder physische Vorgänge wahr, die ausschließlich im Kopf stattfinden? Wie reagiert es auf visuelle Eindrücke, die nicht wirklich vorhanden sind? Wie ahmt es Teile des Bewusstseinszustands nach, ohne dass der Mensch wach ist?

Einige Forscher wie Martin Dresler [1], kognitiver Neurowissenschaftler an der Radboud-Universität in den Niederlanden, vermuten, dass luzides Träumen sogar zur Bekämpfung klinischer Störungen wie wiederkehrender Alpträume oder bei posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt werden könnte. "Ich denke, es ist ziemlich intuitiv und plausibel, dass, wenn man während eines Alptraums erkennt, dass er nicht real ist, dies dem Alptraum einen großen Teil seiner Gefahr nimmt", sagt er. Man kann sich vielleicht einfach antrainieren, aufzuwachen und den Traum zu beenden – oder die sehr lebendigen Gefühle von Angst und Schrecken überwinden, indem man sich sagt, dass es ein Traum ist.

Warum träumen wir? Das wissen die Wissenschaftler noch immer nicht genau. Freud glaubte, dass Träume unser Unterbewusstsein sind, das uns unsere unterdrückten Wünsche zeigt. Einige Evolutionsbiologen glauben, dass sich das Träumen entwickelt hat, damit wir bedrohliche Szenarien aus dem wirklichen Leben durchspielen und herausfinden können, wie wir angemessen reagieren. Viele Neurowissenschaftler, die das Feuern der Neuronen während des Schlafs untersucht haben, glauben, dass Träume eine Rolle dabei spielen, wie wir Erinnerungen im Hirn kodieren und konsolidieren. Der Harvard-Psychiater Allan Hobson war der Ansicht, dass das Gehirn beim Träumen die verschiedenen Bewusstseinsschichten, die es im Laufe des Tages aufgenommen hat, miteinander in Einklang bringt.

Doch während das Träumen an sich bei den Forschern auf reges Interesse stößt, wurde das luzide Träumen in der Vergangenheit eher an den Rand gedrängt. Die erste dokumentierte Erwähnung des luziden Träumens in der westlichen Zivilisation stammt möglicherweise aus dem vierten Jahrhundert vor Christus – von Aristoteles in einer Abhandlung mit dem Titel "Über Träume" [2], in der er feststellte, dass "oft, wenn man schläft, etwas im Bewusstsein ist, das erklärt, dass das, was sich dann zeigt, nur ein Traum ist".

Vereinzelte anekdotische Belege für luzides Träumen tauchten in den nächsten zwei Jahrtausenden nur selten in der wissenschaftlichen Literatur auf, aber eher als Kuriosität denn als echte wissenschaftliche Untersuchung. Im Jahr 1913 prägte der niederländische Psychiater Frederik van Eeden den Begriff "luzider Traum" in einem Artikel, in dem er einen Traumzustand beschrieb, in dem man "Einsicht hat". Das Phänomen wurde erstmals in den späten 1970er und 1980er Jahren wissenschaftlich bestätigt, vor allem dank des Psychologen Stephen LaBerge [3] von der Stanford University.

Wissenschaftler wussten schon seit Jahren, dass sich die Augen von Schläfern im Traum in dieselbe Richtung bewegen wie ihr Blick – und in einer Studie von 1981 gab LaBerge luziden Träumern spezifische Anweisungen, wohin sie während ihres Traums schauen sollten, z. B. zehnmal hintereinander nach oben und unten oder sechsmal von links nach rechts – und beobachtete dann ihre Augenbewegungen während des Schlafs. Die Ergebnisse zeigten, dass luzide Träumer nicht nur die Kontrolle über ihre Traumwelt hatten, sondern auch in der Lage waren, Entscheidungen auszuführen, die sie im Wachzustand getroffen hatten. Augenbewegungen sind heute das Standardverfahren, das Forscher einsetzen, um einen luziden Traumzustand im Labor objektiv zu überprüfen.

Der vielleicht größte Durchbruch der letzten Jahre war eine Studie, die erst im Februar 2021 fertiggestellt wurde. In dieser wurde nachgewiesen, dass luzide Träumer mit wachen Menschen in beide Richtungen kommunizieren können. In einer in der Zeitschrift Current Biology veröffentlichten Arbeit erklärten die Forscher, wie sie in vier verschiedenen Labors auf der ganzen Welt den luziden Träumern Fragen (z. B. "Was ist 8 minus 6?") stellten, indem sie gesprochene Nachrichten, Pieptöne, blinkende Lichter oder taktile Stimulationen verwendeten. Die Teilnehmer antworteten mit bestimmten Augenbewegungen. Die Forscher führten sozusagen ein Gespräch mit einer schlafenden Person.

Eine Analyse von 34 Studien, die über ein halbes Jahrhundert hinweg durchgeführt wurden, legt nahe, dass etwa 55 Prozent aller Menschen berichten, mindestens einmal in ihrem Leben einen luziden Traum gehabt zu haben – und fast ein Viertel hat mindestens einmal im Monat solche Träume. Allerdings gibt es zwischen den einzelnen Studien extrem große Unterschiede – und die allermeisten Studien beziehen sich auf Menschen aus der westlichen Welt.

Die schmerzliche Wahrheit ist, dass das luzide Träumen nur wenig erforscht ist, was zum Teil daran liegt, dass konsequente luzide Träumer recht selten sind und es noch schwieriger ist, sie für eine Laborstudie zu gewinnen. LaBerge, der so etwas wie der Pate des Fachgebiets ist, hat einige der gemeinsamen biologischen Merkmale herausgearbeitet – zum Beispiel, dass es in den späteren Phasen des REM-Schlafs auftritt, wenn die schnelle Augenbewegung ihren Höhepunkt erreicht. Auch die Atmung und die Herzfrequenz waren beim luziden Träumen höher als beim normalen Träumen, was darauf hindeutet, dass sich die Träumer in einem aktiveren Zustand befanden.

Der niederländische Neurowissenschaftler Dresler leitete 2012 die bisher einzige fMRT-Studie zum luziden Träumen mit einer einzelnen Person. Aufgrund dieser Beobachtungen geht er davon aus, dass das Phänomen mit einer verstärkten Aktivierung des frontopolaren Kortex zusammenhängt, der eine Rolle bei der Metakognition – der Wahrnehmung der eigenen Gedankenprozesse – spielt. Er arbeitete auch an einer Studie aus dem Jahr 2015 mit, die zeigte, dass Menschen, die häufig luzide Träume haben, mehr graue Substanz in den frontalen polaren Kortizes aufweisen.

Wissenschaftler und Enthusiasten haben einige der folgenden Tricks erfolgreich angewandt, um einen luziden Traum auszulösen:

Bevor Sie einen luziden Traum haben können, müssen Sie sich Ihrer Träume generell bewusster werden. Führen Sie ein Traumtagebuch und füllen Sie es stets aus, sobald Sie aufwachen. Schreiben Sie alles, woran Sie sich erinnern, detailliert auf.

Baird und andere Forscher weisen darauf hin, dass Achtsamkeit – ein erhöhtes Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment – der Schlüssel zum luziden Träumen ist. Es kann hilfreich sein, sich beim Einschlafen den Wunsch nach einem luziden Traum immer wieder vor Augen zu führen.

Der Film "Inception" hat die Idee eines "Totems" populär gemacht, mit dem man überprüfen kann, ob man träumt. LaBerge und andere haben anekdotisch festgestellt, dass dieser Ansatz durchaus nützlich ist. Führen Sie einige Realitätstests durch, wenn Sie wach sind, z. B. ob das Licht funktioniert, wenn Sie es an- oder ausschalten – das könnte dann auch zu einer Traumgewohnheit werden.

Mein eigenes luzides Träumen begann, als ich im Alter von 15 Jahren begann, jeden Tag ein paar Minuten zu meditieren. Mehrere Studien haben einen Zusammenhang zwischen Meditation und luzidem Träumen festgestellt, auch wenn noch unklar ist, worin dieser Zusammenhang besteht.

Ein gemeinsames Merkmal von Klarträumern ist ihre Offenheit für neue Erfahrungen. Das bedeutet, dass eine der besten Veränderungen, die Sie in Ihrem Leben vornehmen können, wenig mit dem Schlafen selbst zu tun hat, sondern mit Ihrem Alltag. Probieren Sie neue Dinge aus; pushen Sie sich selbst dazu, neugierig auf Ihre Umgebung zu sein. Versuchen Sie dann, diese Offenheit für Neues auch auf Ihre Träume zu übertragen.

Für das Auslösen eines luziden Traums gibt es kein wissenschaftlich anerkanntes Rezept, aber einige Maßnahmen haben sich als vielversprechender erwiesen als andere. Acetylcholin ist der wichtigste Neurotransmitter, der für die Auslösung des REM-Schlafs verantwortlich ist. Medikamente, die diesen Booster verstärken – wie Galantamin, das zur Therapie von leichten bis mittelschweren Alzheimer-Erkrankungen eingesetzt wird – haben in Laborstudien sehr erfolgreich dazu beigetragen, dass Menschen luzide Träume haben.

Ein Team von deutschen und schweizerischen Forschern ist weiterhin daran interessiert, nicht-invasive Hirnstimulationstechniken einzusetzen, um luzides Träumen hervorzurufen, obwohl sie nach fast einem Jahrzehnt noch nicht viel Erfolg dabei hatten. Eine von LaBerge durchgeführte informelle Studie deutet darauf hin, dass der Versuch, im Traum die Lichtverhältnisse zu verändern (z. B. einen Lichtschalter ein- und auszuschalten) und die Betrachtung des eigenen Spiegelbildes manchmal zeigen, dass man träumt, da diese Handlungen im Traumzustand nicht so funktionieren wie im wirklichen Leben.

Forscher wie Baird und Dresler sehen ihre Arbeit durch die Tatsache beschränkt, dass die meisten Fakultäten es bislang nicht als lohnende Investition ansehen, 500 Dollar pro Stunde für fMRT-Geräte auszugeben, um luzide Träumer zu beobachten. Ermutigt werden sie jedoch durch die Tatsache, dass es ein größeres Interesse an Traum-Studien im Allgemeinen gibt. Das gilt insbesondere, nachdem Berichte aus dem Jahr 2020 – darunter eine Studie über Trauminhalte aus der ganzen Welt, die in der Zeitschrift Frontiers of Psychology veröffentlicht wurde – nahelegten, dass Corona-Lockdowns seltsame Dinge mit unseren Träumen anstellen. Manche Menschen verspüren ein verstärktes Verlangen, mehr Kontrolle über ihr Leben zu haben – und dazu gehört auch das Träumen. Also probieren Sie es einfach aus.

(bsc [4])


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[1] https://www.ru.nl/english/people/dresler-m/
[2] http://classics.mit.edu/Aristotle/dreams.html
[3] https://dreslerlab.org/laberge/
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