Smarte Kopfhörer: Ganz Ohr

Kopfhörer können längst viel mehr als nur den Schall übertragen. Sie eignen sich als Fitnesstracker, Übersetzer, Coach oder Navi.

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Von
  • Hans Dorsch

Vieles spricht dagegen, dass Wearables irgendwann Smartphones ablösen werden. Und doch auch einiges dafür – zum Beispiel zwei kleine Ohrstöpsel des Münchner Start-ups Bragi. Sie sind der prominenteste Beleg dafür, dass intelligente Digitaltechnik nicht unbedingt einen Bildschirm braucht.

Der "Dash" sieht aus wie ein normaler Ohrhörer – mit der Besonderheit, dass die beiden Stöpsel weder untereinander noch mit anderen Geräten per Kabel verbunden sind. Mehr noch: Der Dash ist ein kompletter Computer im Ohr, mit 23 Sensoren und vollständigem Betriebssystem.

Entsprechend vielfältig sind die Einsatzmöglichkeiten: Ganz ohne Smartphone spielt der Ohrhörer nicht nur Musik ab, sondern dient auch als Fitnesstracker mit Audio-Feedback beim Laufen, Radfahren und sogar – weil wasserdicht – Schwimmen. Steuern lässt er sich dabei durch Tipp- und Wischgesten auf einem im Ohrhörer integrierten Touchfeld. Um allerdings Telefonate zu führen oder Sprachsteuerung wie Siri oder Google Now zu nutzen, ist die Verbindung mit einem Smartphone bislang noch notwendig.

Die ersten 16000 Exemplare gingen an die Unterstützer, die Bragi mit 3,4 Millionen Dollar zu einer der erfolgreichsten Kickstarter-Kampagnen aller Zeiten gemacht haben – noch weit vor der Oculus Rift. Richtig glücklich wurden allerdings nicht alle mit ihrem Gerät. Software-Updates für einige Funktionen fehlen. Nutzer und Testredaktionen wie die "c't" monierten zudem eine unbefriedigende Audioqualität oder die schlechte Anzeige der Fitnessdaten. Beides haben die Entwickler mittlerweile verbessert. Mit der Qualität der Funkverbindung zum Mobilgerät hapert es allerdings noch – ein entscheidender Kritikpunkt.

Dennoch hat Bragi seit Januar mehr als 70000 Paar zum stolzen Preis von je 299 Euro verkauft. Der Dash besetzt damit ganz diskret den Platz, der sich für Wearables am besten eignet: den Kopf. Zusammen können die zwei Ohrhörer beispielsweise genau ermitteln, in welche Richtung der Nutzer schaut – und entsprechend darauf reagieren.

Beim Blick in den Himmel etwa erklingt die Wettervorhersage. Weil sie durch die Wirbelsäule stoßgedämpft sind, liefern Bewegungssensoren am Kopf zudem wesentlich bessere Daten als am Handgelenk. Und durch das dünne Gewebe im Ohr kann der Dash mit LEDs und Fotodioden die Herzfrequenz und sogar die Sauerstoffsättigung im Blut messen.

Ein weiterer Vorteil: Die Ohrstöpsel sind vergleichsweise unauffällig. "Ich habe das Produkt gemacht, weil ich wahnsinnig genervt davon bin, wie oft ich dieses blöde Handy anschaue", sagt Nikolaj Hviid, Gründer und CEO von Bragi. "Ich wollte etwas, mit dem man diskreter umgehen kann."

Eine Studie der Lancaster University zeigte Ende 2015, dass er kein Einzelfall ist: Bis zu 85-mal am Tag sahen Nutzer auf ihr Smartphone und nutzten es täglich insgesamt mehr als fünf Stunden. Und zwar exklusiv, denn ein visuelles Interface zieht immer die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Mit einem auditiven Interface hingegen, so Hviid, könne man Dinge parallel erledigen. Man ist weiterhin für die Umwelt offen.

Solche akustischen Schnittstellen stehen und fallen allerdings mit der Qualität der Sprachverarbeitung. Je besser sie funktioniert und je intelligenter digitale Assistenten werden, desto mehr alltägliche Bedürfnisse lassen sich über smarte Kopfhörer abwickeln. "Warum brauche ich eine App für die Deutsche Bahn?", fragt sich Hviid. "Ich muss sagen: ,Ich hätte jetzt gern ein Ticket nach Köln.' Und ich bekomme dann eines. Starre Systeme, bei denen ich eine App habe, die genau eine Sache macht, werden aussterben." Chat-Dienste wie WeChat, Telegram oder der Facebook Messenger erlauben schon heute den Austausch mit Bots. So lassen sich immer mehr Aufgaben ausführen, ohne den Chat zu verlassen.

Die Interaktionen müssen nicht einmal mehr bewusst geschehen. Mit Sensordaten kann die Technik lernen, Wünsche vorauszusehen. "Das Touch-Interface des Dash ist eigentlich nur ein Hack für die erste Generation", sagt Friedrich Förstner, bei Bragi für Sensoren und Datenverarbeitung verantwortlich. "Wir wollen Schritt für Schritt davon wegkommen und möglichst generell verstehen, was die User haben möchten." Eine solche Anwendung könnte etwa der Laufcoach sein, der sich automatisch meldet, wenn der Nutzer zu schnell läuft und die Herzfrequenz zu stark steigt. Beim Schwimmen könnte ein virtueller Lehrer beispielsweise die Atmung und – mit zusätzlichen Sensoren – die Armhaltung überwachen und schon während des Trainings Verbesserungsvorschläge machen.

Auch bei der Navigation bieten die Ohrhörer Vorteile gegenüber dem Bildschirm. Statt ständig auf ein Display starren zu müssen, könnte sich der Nutzer von Tönen den Weg weisen lassen. Förstner und seine Kollegen arbeiten bereits an einer solchen Technik: "Der Ton der Navigation käme immer aus der richtigen Richtung, und ich kann mich zum Ton drehen und weiß: Ah, da muss ich hin", sagt der Bioinformatiker.

Allerdings ließen sich mit einem visuellen Medium deutlich komplexere Informationen vermitteln, räumt Förstner ein. "Wenn ich jemandem nacheinander fünf Werte sage, hat er den ersten anschließend vergessen. Das müssen wir akzeptieren." So wird das Smartphone für unterstützende visuelle Informationen weiterhin gezückt werden müssen – etwa für Fotos, Videos, Grafiken oder Karten.

Andere Anbieter haben ebenfalls das Ohr entdeckt. Das TCAPS (Tactical Communication and Protective System) des schwedischen Herstellers Invisio vereint etwa den Schutz des Gehörs mit selektiver Wahrnehmung bestimmter Informationen. Nach intensiven Tests rüstet die US-Armee in diesem Jahr 20000 Soldaten ihrer Bodentruppen mit den Hightech-Ohrstöpsel für rund 2000 Dollar aus. Sie schließen den Gehörgang ab und bieten passive Lärmunterdrückung. Eingebaute Mikrofone spielen die Umgebungsgeräusche ein, die sich über das am Gürtel getragene Steuergerät noch verstärken lassen. Lärm wie Gewehrschüsse oder Explosionen dagegen erkennt die Elektronik und reduziert ihn automatisch auf gesundheitsverträgliche 85 Dezibel. Die Mikrofone greifen die Sprache unabhängig von der Umgebungslautstärke direkt vom Schädelknochen ab. So kann der Träger gleichzeitig Kontakt zu seiner Truppe halten und Kommandos hören.

Eine ähnliche Technik, eher für den Alltag gedacht, bieten die "Here Active Listening"-Kopfhörer, wie der Dash über Kickstarter finanziert. Seit Februar gingen knapp 3000 Geräte für 199 Dollar pro Stück auf den Markt. Auch sie nehmen Umgebungsgeräusche über Mikrofone auf und geben sie erst dann ans Ohr weiter, nachdem ein eingebauter Signalprozessor sie bearbeitet hat.

Per Smartphone-App können Benutzer etwa Flugzeuggeräusche oder Bürolärm unterdrücken und erwünschte Frequenzen – etwa Gespräche – verstärken. Das funktioniert ersten Tests zufolge gut: Ein Live-Konzert in einem kleinen Club klingt mit dem Hallfilter wie in einer Konzerthalle, im Sprachmodus verstehen Träger selbst im lauten Restaurant ihre Gesprächspartner und bekommen sogar ungewollt mit, was am Nachbartisch gesprochen wird. Das neue Modell Here One, zum Jahresende angekündigt, soll auch Musik vom Smartphone streamen und Sprachfunktionen steuern können.

Ein Gespräch auf ganz andere Weise beflügeln will das New Yorker Start-up Waverly Labs. Seine "Pilot"-Ohrstöpsel sollen in Echtzeit dolmetschen. Dabei trägt jeder Gesprächsteilnehmer ein Ohrstück, dessen eingebauter Minicomputer das von anderen Gesprochene übersetzt und in der Sprache des Trägers ausgibt. Interessierte finanzierten das Crowdfunding-Projekt mit mehr als 2,5 Millionen Dollar und damit über 30-mal mehr, als die Initiatoren als Ziel angegeben hatten. Die ersten Nutzer sollen das Produkt 2017 geliefert bekommen, sind dann aber noch auf ein gekoppeltes Smartphone und eine Internetverbindung angewiesen, um die Übersetzung an Rechner in der Cloud zu delegieren. Ein halbes Jahr später soll die Live-Übersetzung direkt im Kopfhörer funktionieren, versprechen die Entwickler.

Auch der Dash will bei Bedarf noch auf externe Rechenleistung zugreifen – zunächst auf die des Smartphones, später dann, wenn die Mobilfunktechnik kleiner und sparsamer wird, auf die der Cloud. Dann würde das Smartphone wirklich überflüssig. Nikolaj Hviid erwartet jedenfalls für Bragis Dash ein riesiges Weihnachtsgeschäft. Und damit eine weite Verbreitung seines Hearables – dem Wearable-Computer fürs Ohr. (bsc)