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Soziale Schrumpfung

Michael Fitzgerald

Die Wirtschaftskrise und zweifelhafte Businesspläne sorgen für Unsicherheit auch bei den großen Social-Networking-Anbietern.

Wenn man derzeit einen Blick ins Silicon Valley wirft, stellt man schnell fest, dass die Luft aus der Blase, die in den letzten Jahren unter dem Label "Web 2.0" lief, langsam zu entweichen scheint. Abgelassen wird sie nicht nur durch die aktuell schwere wirtschaftliche Lage. Von größerer Tragweite ist, dass sich immer mehr Geschäftsmodelle als nur schwerlich umsetzbar erweisen.

Nahezu alle Start-ups aus dem einst so heißen Bereich der Social Networks schrumpfen derzeit. Im Oktober meldete die immerhin drittgrößte Plattform der USA, Hi5 [1], eine Personalreduktion von 10 bis 15 Prozent. Im November verkündeten wiederum die auf geschäftliche Nutzer konzentrierten Plattformen LinkedIn (10 Prozent) und Jive (40 Prozent) Entlassungswellen.

Die dominierenden sozialen Netzwerke sind etwas besser gerüstet, den Sturm zu überstehen. MySpace und Facebook haben jeweils Umsätze von 750 beziehungsweise 300 Millionen Dollar, während LinkedIn 2008 immerhin zwischen 75 und 100 Millionen einfahren konnte. Die Gesamtbewertung dieser Firmen hängt jedoch noch immer von ihrem einst gigantischen Wachstumspotenzial ab – und genau das gilt inzwischen als übertrieben positiv eingeschätzt.

Microsoft investierte 2007 in Facebook, als die Firma noch mit riesigen 15 Milliarden Dollar bewertet wurde. Erst im November lehnte der populäre Kurznachrichtendienst Twitter es dagegen ab, sich bei einer ähnlich hohen Bewertung für 500 Millionen Dollar in Aktien des Unternehmens übernehmen zu lassen. Stattdessen wollte man mehr Bargeld sehen.

In den letzten Wochen verabschiedeten sich außerdem zwei prominente und als viel versprechend geltende Start-ups aus dem Sektor: Pownce [2] sowie Values of n [3]. Pownce, das selbst eine Kombination aus Microblogging-Plattform und Filesharing anbot, wurde von der Blog-Software-Firma Six Apart übernommen, während Values of n, das Werkzeuge aus den Bereichen Social Networking und Web-Organisation vermarktete (darunter "Stikkit" und "I Want Sandy"), an Twitter verkauft wurde. Beide neuen Besitzer teilten sofort mit, sie würden die Originaldienste einstellen. Das legt nahe, dass es ihnen mehr um die Übernahme talentierter Mitarbeiter und deren Technologie als um die angebotenen Services ging. Die erschienen ihnen offenbar nicht als gangbare Geschäfte.

Chris Alden, Chef von Six Apart, meint, dass derzeit einfach nicht genügend Kapital im Markt sei, um die viele Social Network-Anbieter zu erhalten. "Wir werden in den nächsten ein, zwei Jahren noch eine Konsolidierungswelle sehen."

Die aktuelle Situation mag besonders düster wirken, doch erste Anzeichen des Niedergangs gab es schon seit längerer Zeit. Im August stellten das Social-News-Angebot Thoof und der Social Music-Anbieter Social.fm ihre Dienste ein. Und erste Bedenken zu unvernünftigen Geschäftsmodellen gab es bei den Geldgebern schon deutlich vor der aktuellen Finanzkrise.

"Die Leute wissen einfach bis heute nicht, wie das funktionieren soll", sagt Nicholas Economides, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Stern School of Business der New York University. Die Firmen probierten viele verschiedene Ansätze aus, doch ein solides Modell, gutes Geld zu verdienen, habe sich im Social Networking-Bereich noch nicht herauskristallisiert. "Es gibt noch keine Formel für den Erfolg", sagt er. Selbst Twitter, obwohl enorm beliebt, hat bislang keine nennenswerten Umsätze.

Charlene Li, Gründerin der auf soziale Netzwerke spezialisierten Beratungsfirma Altimeter Group aus dem kalifornischen San Mateo, meint, dass es sinnvoll für kleinere Firmen wie Pownce oder Values of n sei, sich von größeren Mitspielern übernehmen zu lassen. "Die Firmen hatten durchaus interessante Funktionen und Dienste. Doch die dürften letztlich wesentlich stärker sein, wenn sie Teil eines bestehenden Angebotes sind, das auch von vielen Menschen genutzt wird", sagt sie.

Alden wollte nicht sagen, welche Aspekte der Pownce-Technologie für Six Apart besonders interessant waren, gibt Li aber grundsätzlich recht, dass viele Web-Start-ups sich auf eine einzige gute Idee konzentrieren. "Es ist nicht immer einfach, das zu einer lebendigen, sich selbst erhaltenden Firma umzuwandeln." In wirtschaftlich guten Zeiten funktioniere das besser, weil man dann eine längere Startbahn habe. "Wenn es wirtschaftlich schwieriger wird, verkleinert die sich aber dramatisch."

Es ist schwer, den aktuellen Niedergang nicht mit dem Dotcom-Crash des Jahres 2001 zu vergleichen. Industrievertreter lehnen das allerdings weitgehend ab. "Damals war das wie ein Donnerschlag, heute platzt die Blase leise", sagt der Social Media-Stratege Paul Gillin. Er glaubt, dass die Kontraktion diesmal schwächer ausfallen werde – weniger intensiv als das, was beispielsweise die PC-Industrie in den Achtzigerjahren durchmachen musste.

Immerhin gab es diesmal nicht derart viele Privatinvestoren wie während der Dotcom-Krise – und auch nicht so viel verbranntes Geld. Es gab außerdem kein Äquivalent zu den damaligen Exzess-Firmen wie Webvan (840 Millionen Dollar Minus) oder Kozmo.com (280 Millionen).

Six Apart-Chef Alden meint, dass die Konsolidierung in der Natur des Start-up-Geschäftes liege. Er selbst kennt sich damit aus: Sein eigenes Start-up Rojo wurde 2006 von Six Apart übernommen. Man dürfe die Einstellung oder den Aufkauf von Firmen nicht mit einem Ende des Interesses an Social Media-Anwendungen verwechseln. "Innerhalb des Web 2.0-Trends sehen wir immer noch sehr, sehr starke Aktivitäten auch beim Nutzerverhalten." (bsc [4])


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[1] http://hi5.com/
[2] http://pownce.com/
[3] http://www.raelity.org/
[4] mailto:bsc@heise.de