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Speed kills? – Verkehr, Geschwindigkeit und Energie

Detlef Grell
VW ID.3

(Bild: EuroNCAP)

"Weiß doch jeder, dass die Energie quadratisch mit der Geschwindigkeit ansteigt," erklĂ€ren Physiker wie Ingenieure unisono. Nur was bedeutet das ganz praktisch?

Geschwindigkeit erlegt uns ein Handlingproblem auf: Je schneller wir unterwegs sind, mit umso krĂ€ftiger wachsender Energie mĂŒssen wir bedachtsam umgehen. Denn die Energie ist es, die uns bei unsachgemĂ€ĂŸem Umgang gefĂ€hrlich werden kann.

Die ehemalige TopGear-Ikone Jeremy Clarkson liefert dazu einen ganz eigenen Diskussionsbeitrag: "Speed has never killed anybody. Suddenly becoming stationary, that's what gets you." Zu Deutsch ungefĂ€hr: Geschwindigkeit hat noch niemanden getötet. Es ist der plötzliche Stillstand, der dich erwischt. Da hat er recht, denn wie sollte man FlĂŒge mit 900 km/h ĂŒberleben, wenn die Geschwindigkeit per se tötet? Allerdings meinte Jeremy in diesem Zusammenhang durchaus was anderes: Er Ă€rgerte sich ĂŒber einige Tempolimits im Vereinigten Königreich, die er fĂŒr völlig ĂŒberzogen hielt.

Ich finde den Punkt mit dem plötzlichen Stillstand jedoch sehr ausfĂŒhrenswert. Er liefert Erkenntnisse, die fast noch mehr fĂŒr den boomenden Bereich FahrrĂ€der und E-Bikes als fĂŒr Autos bedeutsam sind. Laut Jeremy stellt man sich die kinetische Energie folglich am besten als Aufprallenergie vor. Also als die Energie, die wieder aufgezehrt werden muss, wenn ich frontal irgendwo gegenfahre. Die ich oder mein Gegenpart zu spĂŒren bekommen, wenn es mal so richtig kracht.

Aber selbst das bleibt noch reichlich diffus. Eine Tabelle indes, die die Aufprallwucht korrespondierend zur Geschwindigkeit anfĂŒhrt, macht es meines Erachtens deutlicher. Deren Inhalt errechnet sich sehr simpel nach der Formel

E = 1/2 mv2

E steht fĂŒr Energie, m fĂŒr die bewegte Masse und v fĂŒr die Geschwindigkeit. Weder die Konstante 1/2 noch die Masse ist relevant, wenn man nur die Energieunterschiede bei verschiedenen Geschwindigkeiten tabelliert, denn die Konstanten 1/2 und m kĂŒrzen sich dabei weg. Übrig bleiben ganz einfache ZahlenverhĂ€ltnisse. Die Tabelle zeigt die Geschwindigkeit in km/h und rechts das Ansteigen der Energie im Quadrat; ich habe dazu der Einfachheit halber den dimensionslosen Energiefaktor EF eingefĂŒhrt.

v [km/h] EF
10 15 20 25 30
100 225 400 625 900
40 45 50 60 70
1600 2025 2500 3600 4900
80 90 100 110 120
6400 8100 10 000 12 100 14 400
130 140 150 200 250
16.900 19 600 22 500 40 000 62 500

Nach meinen Beobachtungen ist heute allerdings 15 km/h schon eher das Durchschnittstempo, LeichtlaufrĂ€dern mit vielen GĂ€ngen sei es gedankt. Eine Erhöhung auf 20 km/h verdoppelt auch hier die Energie, bei 25 km/h ist sie bereits gegenĂŒber 15 km/h verdreifacht. (225 x 2 = 450, 225 x 3 = 675, wobei – zur Erinnerung – 225 der Energiefaktor EF bei 15 km/h ist).

Wer sich nun als E-Bike ein Speed-Pedelec gönnt, das den Fahrer bis 45 km/h unterstĂŒtzen darf, der ist mit der neunfachen Aufprallwucht gegenĂŒber dem gemĂ€chlichen Radfahrer mit 15 km/h unterwegs. Das gilt natĂŒrlich ebenso fĂŒr Hobby-Radrennfahrer, die in solchem Tempo auf höchst zierlichen GerĂ€tschaften unter ihrem Allerwertesten jonglieren.

Was meinen Sie, wie viele FahrradverkĂ€ufer den Senioren, die sich das Leben mit einem Pedelec (unterstĂŒtzt bis 25 km/h) oder gar E-Bike erleichtern wollen, eine adĂ€quate EinschĂ€tzung des Gefahrenpotenzials mit auf den Weg geben? Immerhin haben etliche Kommunen das Problem insoweit erkannt, dass sie geeignete Schulungen fĂŒr Radfahrer anbieten.

Inzwischen können StĂŒrze und Kollisionen mit schnellen FahrrĂ€dern fatale Folgen haben – und das durchaus auch ganz ohne die Mithilfe von Autofahrern. Die Unfallstatistik 2018 fĂŒr Niedersachsen [1] benennt bereits erkennbare Anstiege der UnfĂ€lle mit Todesfolge fĂŒr Senioren mit E-FahrrĂ€dern, schlĂŒsselt allerdings die Unfallbeteiligten nicht separat auf.

Tja, und wer sich beim Spazierengehen in WĂ€ldern die Wege mit Radfahrern teilen darf (so etwa in Hannovers schönem Stadtwald, der Eilenriede), fĂŒhlt sich nicht ganz zu Unrecht mehr und mehr von Fahrrad-Rasern bedroht: Die rauschen wirklich immer schneller an einem vorbei und man möchte ganz bestimmt nicht als FußgĂ€nger mit denen zusammenrasseln.

Dann sind da ja noch diese fĂŒr Autofahrer so nervigen 30er-Zonen, deren Verkehrszeichen in den StĂ€dten wie Pilze aus dem Boden schießen. Da hat man nun ein hochmodernes Auto, richtig gute Bremsen und viel Assistenz ... trotzdem erzĂ€hlt uns die Physik unliebsame Dinge, wenn wir ihr mal zuhören.

Wer zum Beispiel mit 50 km/h durch eine 30er-Zone rauscht, ist mit fast der dreifachen kinetischen Energie unterwegs. Viele dieser Zonen sind zwar erst 2018 nach einer Verkehrsrechtsreform flĂ€chendeckend vor Schulen, Kitas und Altenheimen angelegt worden, trotzdem sollte man das nicht als Ausrede benutzen und aus alter Gewohnheit wie frĂŒher dran vorbeibrettern. Sie prallen dann schließlich mit 2,8-facher Energie auf Hindernisse – die an dieser Stelle womöglich schutzbedĂŒrftige Menschen sind, die dann richtig schlechte Karten haben. Manche GĂ€ngelei hat womöglich Sinn.

In GroßstĂ€dten wie Hannover werden auf breiten Ausfallstraßen gern schon mal 70 km/h gefahren, wo eigentlich 50 vorgeschrieben sind. GefĂŒhlt geben das die großzĂŒgig ausgebauten Straßen sicherlich her, aber man sollte sich bewusst machen, dass man "mit nur 20 Sachen mehr" bereits mit dem doppelten Wumms unterwegs ist.

Die oben weggekĂŒrzte Masse in der Rechnung behĂ€lt natĂŒrlich ihre Bedeutung, wenn es um den absoluten Wert der Aufprallenergie geht. So ist es schon ein gewaltiger Unterschied, ob 100 Kilogramm Radfahrer samt Radl gegen eine Mauer fahren oder ein 2,5 Tonnen schweres SUV. Im ersten Fall leidet eher der Radfahrer, im zweiten eher die Mauer. Es lĂ€sst sich auch ausrechnen, dass ein 2,5-t-SUV mit 250 km/h etwa die Einschlagskraft eines 25 Tonnen schweren LKW mit 80 km/h entwickelt.

Man versteht nach einem Blick auf die Tabelle vielleicht auch besser, warum baumbestandene Straßen auf 70 km/h beschrĂ€nkt werden – mit den auf Landstraßen sonst ĂŒblichen 100 km/h schĂ€digt man Auto-Insassen und BĂ€ume bereits mit der doppelten Energie. 23 Prozent der Verkehrstoten in Niedersachsen gingen 2018 ĂŒbrigens immer noch auf UnfĂ€lle mit BĂ€umen zurĂŒck [2].

TatsÀchlich sind die Energieunterschiede in höheren Tempobereichen weniger dramatisch. Wer 140 km/h statt 130 fÀhrt, erhöht seine kinetische Energie gerade mal um 16 Prozent, wer 150 wagt, liegt bei 33 Prozent mehr. Hier verdoppelt und verdreifacht sich nichts dramatisch.

So gut man das Strafkonzept bei Tempo-Überschreitung im stĂ€dtischen Bereich also begrĂŒnden kann, auf der Autobahn (sofern man mal gerade nicht auf einer Baustelle mit 60 km/h unterwegs ist) sind die absoluten Grenzwerte als Strafmaß fĂŒr Überschreitungen nicht wirklich logisch. Eine prozentuale Staffelung oberhalb 100 km/h wĂŒrde einer physikalisch begrĂŒndeten Bemessungsgrundlage sicherlich eher gerecht – könnte man meinen.

Das sieht indes ganz anders aus, wenn man Bremswege und Reaktionszeiten zum Beispiel fĂŒr den scheinbar geringen Unterschied von 130 zu 150 km/h betrachtet, denn der Anhalteweg verlĂ€ngert sich enorm. Bei konstanter Reaktionszeit des Fahrers von zum Beispiel 1 Sekunde ergibt sich zunĂ€chst ein proportional zur Geschwindigkeit ansteigender Reaktionsweg (bei 130/150 km/h sind das 5,7 Meter mehr).

(Die im Folgenden benutzten Formeln sind etwas genauer als die ĂŒblichen Faustformeln, also nicht ĂŒber kleine Unterschiede wundern. Mit den Formeln fĂŒr den Senkrechten Fall respektive Wurf kommt man recht genau an die Ergebnisse heran).

Der Bremsweg erhöht sich unter idealen Bedingungen, also bei trockenem, griffigem Asphalt, mindestens quadratisch. Legt man eine (sehr gute) Bremsverzögerung von 10 m/s2 zugrunde, dann ergeben sich fĂŒr das Beispiel (150 km/h statt 130 km/h) Bremswege von 87 m zu 65 m, also 22 m Differenz. SchlĂ€gt man noch die knapp 6 m durch die Reaktionszeit auf, dann landet man bei einem fast 28 Meter lĂ€ngeren Anhalteweg.

Klingt erst mal nicht wirklich bedrohlich, aber: Wenn der Fahrer aus 130 km/h bereits steht, dann ist der andere Fahrer noch mit fast 85 km/h unterwegs. Den möchte man dann aber lieber vor als hinter sich haben. Jeremy hat schon recht: Das abrupte Stoppen, das ist das Problem!

(fpi [3])


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[1] https://www.mi.niedersachsen.de/download/142218/Polizeiliche_Verkehrsunfallstatistik_2018_Handout.pdf
[2] https://www.mi.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/verkehrsunfallstatistik-2018-in-niedersachsen-leichter-anstieg-bei-den-verkehrstoten-aber-insgesamt-weniger-unfaelle--175287.html
[3] mailto:fpi@heise.de