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Stimmung aus der Retorte

Nike Heinen

Eine Flut neuer synthetischer Drogen überschwemmt Europa. Der Handel mit diesen noch nicht verbotenen Substanzen hat sich von zugigen Schmuddelecken ins Internet verlagert. Und die Fahnder müssen dem Treiben oft machtlos zusehen.

Eine Flut neuer synthetischer Drogen überschwemmt Europa. Der Handel mit diesen noch nicht verbotenen Substanzen hat sich von zugigen Schmuddelecken ins Internet verlagert. Und die Fahnder müssen dem Treiben oft machtlos zusehen.

Eine Partynacht in London. In irgendeinem Kellerclub im angesagten Soho wird gefeiert, getrunken und getanzt. Und immer wieder wandern kleine bunte Pillen von Hand zu Hand, schneeweiß, hellblau oder rosa, verziert mit Smileys, Teufelsfratzen oder Herzchen. Aufputschende Designerdrogen, für die Londons Partyszene bei Fahndern berüchtigt ist. Wahrscheinlich enthalten die meisten Pillen alte Bekannte, Amphetamin oder die Ecstasy-Substanz MDMA. Aber sicher kann man nie sein, was die Dealer alles in Pillenform unters Volk bringen. Immer häufiger tauchen unerwartet ganz neue Rauschmittel auf. Und auf solche Kreationen haben es ein paar Wissenschaftler heute Abend und in diesem speziellen Club abgesehen. Dafür haben sie die Toilette mit einer ganz besonderen Schüssel ausgestattet: Statt die Hinterlassenschaft ihrer Benutzer diskret in die Kanalisation der Millionenmetropole zu entsorgen, sammelt sie Proben fürs Hightechlabor.

Als alle Teströhrchen die Gaschromatografen und Massenspektrometer passiert und die enthaltenen Moleküle ihre Gestalt preisgegeben haben, sind die Toxikologen doch ziemlich erstaunt. Sie hatten zwar mit reichlich Beute für ihre Rauschsubstanzbibliothek gerechnet. Aber an die zwei Dutzend bis dato unbekannte Designerdrogen in einer einzigen Nacht?

"Die Zahl neuer Drogen steigt rasant", sagt Ana Gallegos, Chemikerin beim Europäischen Drogenüberwachungszentrum EMCDDA, als sie diese Episode aus dem Vereinigten Königreich berichtet. Publiziert ist die Soho-Geschichte noch nicht. Gallegos hat sie gerade erst bei einem Stelldichein der Drogenjäger gehört. Sie selbst arbeitet für das EU-Frühwarnsystem, das neue psychoaktive Stoffe so schnell wie möglich aufspüren und verbieten lassen soll – und ist in letzter Zeit eine viel beschäftigte Frau.

Seit 1997 erfasste das System insgesamt 200 neue Stoffe aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie der Türkei, Kroatien und Norwegen. Aber über ein Drittel, nämlich 65, stammen aus den vergangenen drei Jahren. Im Jahr 2009 setzten die Wächter 24 neue Substanzen auf den Index, 2010 schon 41, 2011 wurden 50 erfasst. Drei Rekorde in Folge. Pharmakologische Fachfirmen, die neue Drogen als Nachweissubstanzen für die Gerichtsmedizin und Fahndungsbehörden nachbauen, haben sogar zehnmal so viel Designerdrogen erfasst.

Das Sortiment wechselt mit schwindelerregendem Tempo. Im Monatstakt, manchmal sogar von Woche zu Woche tauchen neue Stoffe auf, andere verschwinden wieder. Zurzeit gehören die meisten Designerdrogen zu den sogenannten Cathinonen: Sie stammen alle von einer Substanz ab, die im Kathstrauch vorkommt. Dessen Blätter sind eine Alltagsdroge in Ostafrika und im Nahen Osten. Gekaut pushen sie ähnlich auf wie eine Tasse starker Kaffee. Außerdem machen sie gesellig: Kenianer, die Kath kauen, sitzen beisammen und reden über Gott und die Welt. Leider hat Kath auch eine dunkle Seite, schon die Blätter kann man überdosieren: lebensbedrohliche Krämpfe sind die Folge. Und die extrahierten und optimierten Cathinone sind um ein Vielfaches stärker – und gefährlicher.

Genau wie Amphetamin und Ecstasy gehören Cathinone zur chemischen Gruppe der Phenylethylamine, die insgesamt sehr stark bei den neuen Drogen vertreten ist. Die Stoffe wirken alle anregend – und zusätzlich oft noch "entaktogen": Ganz plötzlich keimt eine nie gekannte Liebe zu den Mitmenschen. Deswegen machten die Phenylethylamine schon als Freizeitpillen der Hippiegeneration Karriere. In damals gegründeten psychedelischen Forschungsgruppen entstanden Hunderte dieser Substanzen. Die meisten "neuen" Drogen sind daher nicht wirklich neu, sondern ein Stück wiedererweckte Drogengeschichte.

Verglichen mit den etablierten Vertretern der illegalen Räusche – Heroin und Kokain, Amphetamin und Marihuana – bilden die neuen Dröhnstoffe in den Akten von Polizei und Zoll noch nicht mehr als eine statistische Randnotiz. Aber was sagt das schon? "Drogen zu finden ist eben auch Glückssache", sagt Axel Hirth von der Hamburger Zollfahndung. "Für die neuen Stoffe gibt es auch ganz neue Verteilungswege."

Für diese Recherche muss man sich nur ins Internet begeben. Vergesst den Großstadtdschungel. Im Netz ist das Dickicht, das die neuen Dealer für ihre Geschäfte nutzen. Die meisten Händler machen nach Hirths Meinung den Postboten zu ihrem Komplizen – sie verkaufen ihre Substanzen ganz legal über einen Onlineshop.

In Gallegos Abteilung bei der EMCDDA gibt es einige Kollegen, die das Internet zu ihrem Revier gemacht haben. Sie zählen die virtuellen Läden für psychoaktive Produkte. Im vergangenen Sommer kamen sie auf 631, die meisten davon wahrscheinlich in den USA und in England angesiedelt. Ein Jahr zuvor waren es noch 170.

Da formiert sich eine hochprofessionelle Handelsmacht: Die Produktpalette reicht von psychoaktiven Naturprodukten – das südostasiatische Kratom, Aztekensalbei und halluzinogene Pilze waren die Online-Verkaufsschlager 2011 – bis hin zu chemischen Reinstoffen. Zurzeit am häufigsten feilgeboten: die im Moment noch nicht überwachte Mitgefühlsdroge MDAI, eine pharmakologische Weiterentwicklung des illegalen Psychedelikums MDA alias "Mandy", ursprünglich entwickelt für die Hirnforschung an Mäusen.

Das Internet ist nicht nur Vertriebsweg, sondern auch die Inspirationsquelle der neuen Dealer sowie eine gut gefüllte Bibliothek für alle, die nach bisher ungekannten Seelenflügen suchen. So kann sich jeder nach ein paar Klicks bei Wikipedia zusammenreimen, wie man sich einen schizophrenen Schub nach Art der Droge "Angel Dust" selber brauen kann. Man nehme die Allerwelts-Chemikalie Cyclohexanon und reichlich schwarzen Pfeffer...

Eine der geistigen Inspirationsstätten für begeisterte Seelenflieger ist eine Ranch im kalifornischen Contra Costa County nahe bei Lafayette. Hier lebt zwischen Glaskolben, Kühlern und Substanzfläschchen der 86-jährige Psychopharmakologe Alexander Shulgin. Er machte einen ausgewählten Kreis von Medizinern Ende der siebziger Jahre mit der Substanz 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin bekannt – heute berühmt-berüchtigt als MDMA oder Ecstasy. Auch die meisten anderen psychedelischen Stoffe aus der Amphetamin- und Mescalinverwandtschaft, die derzeit weltweit missbraucht werden, erblickten hier zum ersten Mal das Licht der Welt.

Dabei sucht der geniale Molekülzauberer vor allem die Antwort auf eine Frage: Wie kann es sein, dass eine kleine Veränderung, etwa das Entfernen eines C-Atoms, aus einem stark anregenden Mittel ein halluzinogenes macht? "Und knipst man noch etwas ab, entsteht etwas, das dein Hirn zu Brei schießt", sagt Shulgin. "Bis heute kann das keiner erklären."

Shulgin arbeitet mit den US-Drogenbehörden zusammen. Der Deal: Er darf synthetisieren, was er möchte, darf es einmal persönlich ausprobieren – und dann kommt es in den Giftschrank. Allerdings kann niemand den alten Herrn daran hindern, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Und das tut der überzeugte Substanzdemokrat nicht nur in Fachblättern – seine beiden online verfügbaren Bücher zum Nachkochen heißen: "Pihkal" und "Tihkal" – "Phenylethylamines I have known and loved" und "Tryptamines I have known and loved".

Auch Shulgins Tryptamine, Verwandte des Schlafhormons Melatonin, tauchen nun immer öfter wieder in der EU auf. Der alte Meister scheint viele Leser zu haben. Vielleicht machen sie es genau wie er? 2004 war im "Playboy" nachzulesen, dass Shulgin sich als Ausgangsstoff den Hirnbotenstoff Serotonin kommen lässt, von einem japanischen Chemikalienhandel, "für acht Dollar pro Gramm". Dann brauche er Trockeneis, Säuren, Basen "und eine Myriade verzwickter Techniken".

Im Internet tummeln sich nicht nur gut ausgebildete Chemiker, die diese Techniken ebenfalls beherrschen. Dort scheinen auch Geister ähnlich kreativ wie der alte kalifornische Meister unterwegs zu sein, die nicht nur nachkochen, sondern selbst neu erfinden: So interviewte das Online-Szene-Magazin "Vice" einen Biochemiker namens "M.", der neben seinem regulären Unijob für eine ganz neue Klasse von Angel-Dust-Abkömmlingen aus seinem Heimlabor verantwortlich zeichnen soll. Die Substanzen gibt es wirklich: Die neuen Ketaminderivate stammen nicht aus der offiziellen, publizierten Wissenschaft. Und sie sind ganz offensichtlich auf die Bedürfnisse künftiger Junkies zugeschnitten. Stärker und zugleich nebenwirkungsärmer als ihre Vorgänger – und mit derzeitigen Standardtests nicht nachzuweisen.

Drogenwächter sind weltweit alarmiert. Besondere Besorgnis erregt für Ingo Kipke von der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, wie flexibel die Drogen-Community schon auf die bloße Ahnung eines Störfeuers von Seiten der Justiz reagieren kann. Etwa die Nachricht von einem neuen Nachweis für dieses oder jenes Molekül oder eines Verbotsverfahrens: Binnen Tagen wird das Sortiment auf neue, den Ermittlern noch unbekannte Substanzen umgestellt.

"Im Grunde haben Fahnder da gar keine Chance", sagt der Drogenbeobachter. "Die neuen Stoffe sind so wirksam und werden so hochrein produziert, dass es reicht, ein einziges Kilo zu importieren, um eine ganze Stadt zu versorgen." So kleine Mengen können per Post verschickt werden, im Necessaire von Flugzeugpassagieren reisen oder sich einfach per Handschuhfach oder Satteltasche über die Welt verteilen. Von den Online-Händlern werden die Pulver dann verdünnt und im Netz angeboten. Das Endprodukt reicht, um die Hundertschaften der Internetkunden per Post zu versorgen. Wenn einmal ein Shop hochgenommen wird, dann müssen sich die Fahnder Dolmetscher kommen lassen: Die meisten Substanzfläschchen sind in Chinesisch oder Russisch beschriftet.

Das europäische Frühwarnsystem verlässt sich nicht mehr nur auf Zufallsfunde der Fahnder, sondern baut auf ein eigenes Netz von Wissenschaftlern, die ganz neue Methoden fürs Drogenmonitoring verwenden. Besonders vielversprechend: die Abwasseranalyse. Neue Verfahren machen es möglich, selbst winzigste Substanzkonzentrationen im Nanobereich aufzuspüren. Milliardstel Gramm pro Liter – fein genug, um den Drogenverbrauch von Großstädten, von Stadtvierteln oder sogar von einzelnen Häusern zu ermitteln. So wie bei dem Club in Soho.

An der Medizinischen Hochschule St. George's in London hat sich der Toxikologe John Ramsey auf dieses Feld spezialisiert. Für Polizeibehörden und Krankenhäuser betreibt er ein kommerzielles Drogensubstanzregister, das den Anspruch erhebt, immer auf dem neuesten Stand zu sein. Deshalb fischt Ramsey auch in den Containerklos von Musikfestivals nach bislang unbekannten Psychostoffen. Was er da findet, nennt er sarkastisch "Buchstabensuppe". Die meisten seiner Findlinge sind nämlich pharmakologisch beängstigend unbeschriebene Blätter, wissenschaftliche Erfahrungen über die Wirkung auf Menschen fehlen. Deswegen haben sie auch keinen gebräuchlichen Wirkstoffnamen, sondern nur die praktischen Laborabkürzungen: Buchstaben- und Zahlencodes, wie sie Pharmakologen an Universitäten und in der Industrie benutzen, die sich allein von jenen potenziellen Heilmitteln, die den Stoffwechsel im Gehirn verändern, Hunderte neue pro Jahr einfallen lassen. Die meisten versagen schon bei ersten Mäuseversuchen und leben dann nur noch als Karteileichen in der chemischen Literatur fort. Bis sie einer der kreativen Nachkocher aus der Schattenindustrie wieder ausgräbt. Ein unerschöpflicher Fundus.

Einer dieser chemischen Wiedergänger ist MDPV – Methylendioxypyrovaleron, Straßenname: Black Rob. Chemisch ist das stark euphorisierende Mittel das Kind zweier prominenter Eltern, der Kaudroge Kath und des Ecstasy-Stoffes MDMA. Der Wirkstoff war als Nachfolger des Medikaments Ritalin gedacht, das als Mittel gegen Hyperaktivität bei Kindern traurige Berühmtheit erlangte, doch er versagte. Zurzeit fällt MDPV europaweit vor allem in den Blutproben von Drogentoten auf. Sie hatten sich das vanillezuckerweiße Pulver aus dem Internet besorgt und geschnupft.

Das Vermarktungsargument der Verkäufer: Das seien "Legal Highs", legale Alternativen zu illegalen Drogen, zu Cannabis, Speed oder Kokain. Legal allerdings nur deshalb, weil diese Stoffe bei ihrem Debüt tatsächlich nicht den Drogengesetzen der Länder wie etwa dem deutschen Betäubungsmittelgesetz unterworfen sind. Stattdessen zuständig: die Arzneimittelgesetze. Theoretisch. Denn auch wenn die Kunden genau wissen, dass die Ersatzdrogen eigentlich zum Schlucken, Rauchen oder Schnupfen produziert sind – offiziell werden die Pulver und Tabletten gar nicht für die Anwendung am Menschen verkauft. Stattdessen sind sie als "Badesalz", "Dünger" oder "Forschungschemikalien" deklariert und tragen auf der Verpackung eine ausdrückliche Verzehrwarnung. Dagegen rechtlich mit dem Arzneimittelgesetz vorzugehen, hätte ungefähr dieselbe Wirkung, wie einen Supermarkt wegen des Verkaufs von Klebstoff zu belangen, weil Kunden ihn als Schnüffeldroge missbrauchen. Also muss jede einzelne neue Droge erst populär werden und ihr gefährliches zweites Gesicht messbar offenbaren, um dann aufgrund des Gesundheitsrisikos ordentlich verboten werden zu können.

Den inzwischen unübersehbar langen Reigen der Legal Highs eröffnete BZP – Benzylpiperazin. Es kam Anfang 2000 aus Neuseeland als "sichererer" Ersatzstoff für das angstlösende Aufputschmittel "Crystal Meth" in die Londoner Clubs. Die- ser Stoff war schon im Zweiten Weltkrieg als Ingredienz der "Fliegerschokolade" bei den Piloten der deutschen Wehrmacht sehr beliebt.

BZP ist zwar ebenfalls ein ziemlich wirksames Stimulans für das zentrale Nervensystem. Für die medizinische Anwendung beim Menschen wurde es aber schon Mitte der siebziger Jahre abgeschrieben, weil es als Antidepressivum scheiterte. Der Grund lag in den Nebenwirkungen – Herzrasen, Übelkeit, Krampfanfälle. Dem Partyvolk erging es mit BZP nicht besser als den Patienten in der Psychiatrie, das merkten schließlich auch die offiziellen Stellen, und 2009, fast ein Jahrzehnt nach seinem Start als Partydroge, stand der Stoff endlich auf der EU-Drogenliste. Seitdem ist BZP streng kontrolliert, seine Verbreitung strafbar.

Die Antwort der Produzenten? Eine ganz neue Generation "BZP-freier" Produkte bilden den Anfang der aktuellen Schwemme. "Sie brauchten Stoffe, die noch nicht illegal waren und schon verfügbar oder leicht herzustellen sind", sagt Registerchef Ramsey. "Die meisten sind einfache Varianten bekannter Verbindungen – gerade so viel anders, dass sie das außerhalb der legalen Kontrolle stellt."

Hinter den Drogendesignern, die sich geschickt über diese Risiken hinwegsetzen, steht eine Wirtschaftsmacht. Vor zwölf Jahren, wenige Wochen nachdem der Neuseeländer Matt Bowden mit seiner Firma Stargate International die ersten BZP-Produkte als sogenannte "Dance Pills" in seiner Heimat unters Volk gebracht hatte, waren die Tütchen in den Clubs der gesamten westlichen Hemisphäre verbreitet. Ein Spitzname für Bowden war schnell gefunden: Lord of Legal Highs.

Auf die Frage nach seinem damaligen Einkommen weicht der inzwischen geachtete Industrielle charmant aus: "Na ja, es reichte, um eine ziemlich coole Party zum 40. Geburtstag zu schmeißen." Nach Recherchen des Fernsehsenders TV3 erzielten Bowden und die anderen Legal-Highs-Hersteller Neuseelands in den BZP-Boom-Jahren etwa 24 Millionen Neuseeländische Dollar Umsatz jährlich, rund 15 Millionen Euro.

Heute gibt Bowden, der sein Metier völlig offen ausübt, den Gesundheitsapostel unter den Drogenproduzenten. Er möchte helfen, die "Schäden des Drogenkonsums zu minimieren". Dazu suche er nach Ersatzsubstanzen für herkömmliche Drogen, die weniger Nebenwirkungen hätten. Nach der weltweiten BZP-Ächtung hat Bowden eine neue Produktpalette für sich entdeckt: Kräutermischungen als Cannabisersatz. Bowdens Kreation heißt "Kronic", getrocknetes Grünzeug, das wie Marihuana geraucht werden kann.

Die Zusammensetzung ist ein streng gehütetes Betriebsgeheimnis. Angeblich sollen die Pflanzenreste von Lotus, Strandbohne oder Herzgespann stammen – allesamt althergebrachte Rauschpflanzen. Es ist unklar, ob das stimmt. Klar ist dagegen inzwischen, dass in dem vermeintlichen Naturprodukt zusätzlich weit mehr steckt als über Jahrhunderte erprobtes Schamanenwissen: Das neuseeländische Umweltamt stieß im Juni 2011 bei dem Kräuterprodukt Kronic auf einen ganzen Strauß experimenteller Chemikalien aus der Hirnforschung: Offenbar waren die Substanzen JWH-018, JWH-073 und RCS-04 untergemischt worden, chemisch elegant maskiert von den Pflanzen-inhaltsstoffen. Wirkung auf den Menschen? Unbekannt.

Diese Stoffe gehören zur Klasse der synthetischen Cannabinoide. Wie das Tetrahydrocannabinol (THC) aus Marihuana sprechen sie eine spezielle, noch immer sehr geheimnisvolle Rezeptorklasse an den Gehirnzellen an. Um das Rezeptorsystem im Tiermodell untersuchen zu können, entwickelten Biochemiker eine ganze Klasse von Molekülen, die besonders fest diese Rezeptoren bindet – mit entsprechend starker Wirkung, aber zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Das umfangreichste Arsenal stammt von dem US-Chemiker John W. Huffman. Insgesamt 470 Moleküle, deren Kurzname mit JWH beginnt, wie bei zweien der drei Stoffe in Kronic. Auch der Kronic-Trend schwappte schnell nach Europa: Hier vertrieb die Londoner Firma Psyche Deli ihr Produkt unter dem Namen Spice: Ebenfalls angeblich Schamanenkräuter – und in Wirklichkeit eine wilde Mischung an Chemie.

Huffmans Substanzen mit dem Code JWH sind zurzeit in der EU die zweithäufigste Gruppe bei den neuen Drogen, Tendenz steigend. Zurzeit verkaufen zwei Dutzend Internetshops synthetische Cannabinoide. Zehn Gramm für etwa 200 Euro. Zwar wurden in einem EU-weiten Eilverfahren Spice und fünf der darin enthaltenen psychoaktiven Substanzen verboten. Und zwölf weitere, die danach in Spice-Nachahmer-Präparaten auftauchten, sind ebenfalls Kandidaten für die Schwarze Liste. Doch bleiben noch ungefähr 700, die in der wissenschaftlichen Literatur auf ihre Wiederentdeckung warten. Einige davon sind 800-fach stärker als THC.

Das verspricht gute Geschäfte für die kommenden Jahre – aber auch Arbeit für Gerichtsmediziner. Denn aufgrund ihres Designs, das sie besonders hartnäckig an die Rezeptoren binden lässt, kann man sich an den synthetischen Cannabinoiden auch zu Tode kiffen. Außerdem ist die Darreichungsform mit Pflanzenresten zusätzlich gefährlich: Denn die zugesetzten Substanzen sind in den Mischungen nicht gleichmäßig verteilt, sondern sammeln sich im Pflanzenstaub am Boden einer Packung zu einer Überdosis.

Der 79-jährige Huffman analysierte inzwischen selbst solche Proben: Sie waren viel reiner als die Originale, die in seiner Arbeitsgruppe entstanden waren. "JWH-018 hatten wir als bernsteinfarbenes Harz synthetisiert. Diese Leute produzieren aber einen Feststoff", berichtete er im Fachmagazin "Chemical & Engineering News". "Sie müssen es also im großen Stil reinigen, mit automatisierten Methoden."

Aber wer kann das? Bowden sagt, dass er seine Grundstoffe aus China importiert, er handle dort mit spezialisierten pharmakologischen Fabriken. Gut möglich. Produktionsstätten in Ostasien würden erklären, warum ausgerechnet das kleine Neuseeland als eine Art Seismograf für neue Drogentrends fungiert. Hier taucht zuerst auf, was kurz darauf die "Badesalz"-Dosen, Pillentütchen und Wasserpfeifen der Welt füllt – weil der Weg zu den Herstellern am kürzesten ist.

Um im Wettlauf mit dem Erfindungsgeist der Drogendesigner nicht immer hinterherzulaufen, lotet das Gesundheitsministerium die Möglichkeiten für neue Gesetze aus. Die Idee: In Zukunft sollen nicht nur einzelne Stoffe als Rauschmittel verboten werden können, sondern ganze Substanzfamilien. Ein entsprechendes Rechtsgutachten hat gerade ein Juristenteam der Philipps-Universität Marburg vorgelegt. Auch in anderen EU-Ländern gibt es solche Ideen.

Aber wäre das klug? "Wer eine gerade aufkommende Drogenklasse komplett verbietet, sorgt dafür, dass ganz neue produziert werden", sagt der Londoner Drogendetektiv John Ramsey. Je schneller diese Rüstungsspirale ins Rotieren komme, desto unsicherer seien die Produkte für die Benutzer, weil immer exotischere Substanzen auftauchen. Ramsey drückt nicht nur die Befürchtungen vieler Toxikologen aus, er ist auch ganz auf einer Linie mit Matt Bowden, dem "Lord of Legal Highs". "Wir brauchen ein Umdenken", sagt der Neuseeländer. "Drogen sollten nicht strikt verboten, sondern behandelt werden wie Arzneimittel. Sorgfältig testen und nur die guten zulassen." (bsc [1])


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