Taube Musikgenies

Ein neues Testverfahren prüft, wie gut Menschen mit Cochleaimplantat Musik noch wahrnehmen können. Die ersten Ergebnisse sind überraschend.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Michael Chorost

John Redden ist eigentlich taub – und arbeitet trotzdem als Profimusiker. Er trifft beim Singen seine Töne, denkt in Akkorden und kann musikalische Intervalle gut genug wahrnehmen, um sie nachzuspielen. All das erreicht er mit Hilfe eines Cochleaimplantats, einem chirurgisch im Schädel untergebrachten Chip, der 16 klitzekleine Elektroden antreibt. Sie sitzen im Innenohr, um den Hörnerv zu stimulieren. Die Töne werden wiederum von einem Minicomputer aufgenommen, der am Ohr angebracht wird und wie eine Hörhilfe aussieht. Statt Klänge zu verstärken, werden sie hier allerdings digitalisiert und dann per Funk durch die Haut an das Implantat geschickt.

Die Technologie gilt vielen als echtes Wunderwerk, doch Nutzer wie Redden sind trotzdem ein Mysterium. Der Grund: Die im Cochlea-Chip arbeitende Software ist eigentlich für Sprache optimiert und "hört" so vor allem Frequenzen, die im entsprechenden Bereich liegen. Musik deckt hingegen ein wesentlich breiteres Spektrum ab. Eigentlich übermittelt die Technik also nur ein grundlegendes Klangbild und keineswegs die detaillierten Frequenzinformationen, die notwendig wären, um eine Tonlage von einer anderen zu unterscheiden.

Die meisten Menschen mit normalem Hörvermögen können Tonhöhen unterscheiden, die 1,1 Halbtonschritte auseinander liegen. (Ein Halbton ist der kleinste Tonhöhenunterschied in der westlichen Musik.) Eine Studie der University of Iowa aus dem Jahr 2002 besagt hingegen, dass die meisten Nutzer von Cochleaimplantaten nur Unterschiede von 7,6 Halbtönen wahrnehmen können.

Doch genau hier wurden in den letzten Jahren in Sachen Software enorme Fortschritte gemacht. Ich selbst trage ein Cochleaimplantat. Ab 2005 konnte ich eine Update namens "Fidelity 120" testen, das sieben virtuelle Elektroden zwischen jeder physischen Elektrode simuliert – ähnlich wie Toningenieure Klänge erzeugen können, die aus mehr als nur zwei Lautsprechern zu kommen scheinen. Nervenbereiche, die zwischen den Elektroden lagen, werden so plötzlich angesprochen, und die Frequenzauflösung nimmt zu. Für mich ergab sich jedenfalls ein großer Unterschied: Wenn ich diese Piano-Simulation mit meiner alten Software namens "Hi-Res" ausprobierte, konnte ich keine drei nebeneinanderliegenden Tasten unterscheiden. Mit Fidelity 120 funktioniert das endlich. Die Musik klingt voller, reicher und hat mehr Details. Doch nicht jeder Nutzer erreicht ein solches Ergebnis. Profi Redden, der wesentlich musikalischer als ich bin, hat das Update ausprobiert, bleibt jedoch erstaunlicherweise lieber bei Hi-Res.

Für Forscher, die an Software-Verbesserungen für Hörhilfen arbeiten, stellen solche Phänomene ein echtes Problem dar. Die Art, wie wir Musik wahrnehmen, ist stets subjektiv. Ein Fan der "Sex Pistols" kann einem sagen, dass eine bestimmte Software den Klang von "Anarchy in the U.K." verbessert, während ein Mozart-Freund bei der "Kleinen Nachtmusik" abwinkt: "Nein, das hilft mir nicht." Ein derart subjektives Feedback ergibt für die Entwickler also nicht genügend Informationen – sie wissen dadurch nicht, ob sie tatsächlich Fortschritte machen.

Ich bat Jay Rubinstein, Hals-Nasen-Ohren-Spezialist und Experte für Cochleaimplantate an der University of Washington, mir das Problem zu erklären. "Musik ist nicht einheitlich", sagte er mir, "sie besteht aus einer Kombination aus Rhythmen, Melodien, Harmonien, Dissonanzen und einem Text. Man muss sie in ihre einzelnen Komponenten zerlegen, um bestimmen zu können, wie gut oder wie schlecht jemand sie hören kann".

Rubinstein und ein Forscherteam an der University of Iowa und der University of Washington wollen das Mysterium nun lüften. Sie stellten im Februar einen neuartigen Computertest vor, der sich "Clinical Assessment of Music Perception" (CAMP) nennt. Diese klinische Untersuchung der Musikwahrnehmung reduziert Klänge auf drei grundlegende Komponenten, um das Problem des persönlichen Geschmacks zu umgehen: Nur Tonhöhe, Klangfarbe und Melodie werden abgeprüft. CAMP testet systematisch, wie gut jede Versuchsperson alle drei Bereiche wahrnimmt.

Die Fähigkeit, Tonhöhen zu unterscheiden, wird so beispielsweise getestet, in dem zwei in der Nähe liegende Noten hintereinander abgespielt werden. Dann wird gefragt, welche der beiden die höhere war. Ist die Antwort der Versuchsperson korrekt, werden Töne gespielt, die noch enger auf der Skala beieinander liegen. Wird hingegen falsch geantwortet, wird mit weiter auseinander liegenden Tönen weiter geprüft. Nach einigen Tests dieser Art ermittelt das Programm dann sehr genau, welche Tonhöhen eine Person verlässlich unterscheiden kann. Der Test läuft dabei für den Nutzer sehr einfach ab, weil man stets nur zwei Töne vorgespielt bekommt.

Die Prüfung der Klangfarbenerkennung erfolgt im Anschluss daran dann durch das Abspielen der gleichen Note mit acht verschiedenen Instrumenten. Der Nutzer soll dabei identifizieren, um welches Instrument es sich handelt – etwa ein Piano, eine Flöte oder ein Saxophone. Die Klangfarbe dürfte einer der am schwierigsten zu definierenden Aspekte von Musik sein. Doch der Test hilft dabei, zu bestimmen, ob eine Versuchsperson deutliche, aber gleichzeitig doch subtile Unterschiede heraushören kann.

Test Nummer drei, die Melodiewahrnehmung, wird bei CAMP wiederum eher ungewöhnlich durchgeführt. Die Prüfung setzt auf bekannte Musikstücke wie "Bruder Jakob". Da jeder Mensch solche Titel allein schon durch ihren Text erkennen würde, wird dieser einfach weggelassen. Gleiches gilt für den Rhythmus, also den Takt und die Länge der einzelnen Noten. Was übrig bleibt ist ein Strang von Noten mit gleichem Abstand und gleicher Dauer: Die Melodie und nichts als die Melodie.

Ich gehörte zu den ersten Versuchspersonen, die CAMP absolvierten. Beim ersten Mal nutzte ich meine alte Software Hi-Res. Der Tonhöhen-Test war relativ einfach: Ich identifizierte die Frequenzen in 75 Prozent aller Fälle. Im Klangfarbentest erging es mir nicht ganz so gut – das Ergebnis lag bei nur 40 Prozent.

Völlig in die Hose ging allerdings der Test zur Melodiewahrnehmung. Ich hörte nur eine Abfolge von Tönen, ohne dass mir einfallen wollte, um was für ein Stück es sich handelte. Ich entschied mich rein zufällig und wartete dann auf den nächsten Titel – und dann auf den übernächsten. Gab es überhaupt Unterschiede?

Mein Punktestand lag dementsprechend bei weniger als 10 Prozent. Ich sprach mit Chad Ruffin, der zu den Wissenschaftlern gehört, die den Test entwickelt haben. Er trägt selbst ein Cochleaimplantat. Wie gut, wollte ich wissen, würde ein Mensch mit normaler Hörfähigkeit beim Melodietest sein? Meistens um die 100 Prozent, sagte er mir.

Schließlich testeten wir CAMP nochmals mit der neuen Software Fidelity 120. Dieses Mal erreichte ich immerhin 20 Prozent. Damit befände ich mich nun näher am Durchschnittswert, der bei 25 Prozent läge, sagte mir Rubinstein.

John Redden wiederum schnitt wesentlich besser ab. Er erreichte für einen Hörbehinderten unglaubliche 100 Prozent. Für einen Menschen mit Cochleaimplantat ist das ein herausragender Wert. Reddens auf Profimusiker getrimmtes Gehirn half ihm dabei höchstwahrscheinlich. Richard Reed, ebenfalls ein Musiker, der sein Hörvermögen mit 37 verlor und mit 46 ein Implantat bekam, schaffte immerhin 86 Prozent. Doch nur eine Handvoll Testpersonen erreichte in der Studie derart gute Werte.

Für Rubinstein sind Menschen wie Redden und Reed der Beweis, was alles mit der Technik möglich ist. "Ich will bei niemandem unrealistische Erwartungen hervorrufen – doch die Ergebnisse waren besser, als wir erwartet hätten." Da gab es die Ausreißer nach oben, aber selbst diejenigen Personen mit schlechten Ergebnissen im Melodietest erreichten normalerweise gute Werte bei der Unterscheidung von Tonhöhen, wie es auch mir ergangen war.

Und genau hier könnte die Forschung künftig ansetzen und diese Fähigkeit mit besserer Software und neuen Hörtrainingsmaßnahmen ausnutzen. Rubinsteins Labor experimentiert beispielsweise mit einem Algorithmus, der ein Phänomen namens stochastische Resonanz ausnutzt, um die Musikwahrnehmung zu verbessern.

Es gibt also gute Gründe dafür, warum der Melodietest so schwierig ist. Er war für eine Versuchsperson mit Implantat nicht unmöglich zu meistern, sondern einfach sehr schwer. Dadurch lässt sich von nun an verlässlich prüfen, ob ein neuer Algorithmus wirklich Verbesserungen bringt.

Auch den Fortschritt der Technologie als solche kann man so erfassen. Wenn sich die Prozentzahl in den nächsten 10 Jahren im Durchschnitt verdoppelt hat, bedeutet dies, dass Implantat-Nutzer die grundlegenden Elemente der Musik dank neuer Software tatsächlich besser hören können.

Auch die Analyse der Fähigkeiten solcher Hörgenies wie John Redden wird realistisch möglich. Gleichzeitig kann die Forschung neue Software-Ansätze entwickeln, mit der taube Menschen künftig noch besser Musik hören können. (bsc)