TikTok: Videos zu Demenz als Aufklärung und Klickbringer

Es gibt Influencer, die Menschen mit schweren Gedächtnisstörungen aufzeichnen und diese Videos teilen. Ist das ethisch vertretbar?

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(Bild: Ricardo Santos)

Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Abby Ohlheiser
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Wird man mit einer Demenzerkrankung diagnostiziert, kann dies schlagartig ändern, wie die betroffene Person wahrgenommen wird. Aber da hört es nicht auf: Auch Familienangehörige und Freunde von Betroffenen können ebenfalls das Gefühl haben, dass die Welt sie nicht mehr versteht.

Das Internet kann im besten Fall dazu beitragen, die Realität eines Lebens mit einer Demenz klarer zu machen. Und tatsächlich ist das Netz für manche der einzige Ort, an dem sie sich mit anderen austauschen können, die das Gleiche durchmachen.

Aber das Internet zeigt sich leider nicht immer von seiner besten Seite. So hat das Hashtag "#Dementia" auf TikTok inzwischen rund zwei Milliarden Aufrufe. Hier produzieren Nutzer Videos über ihre eigenen Erfahrungen in der Pflege von Menschen mit Demenz im Spätstadium. Viele dieser Clips sind inspirierend oder lehrreich. Es ist aber auch nicht schwer, virale Videos zu finden, in denen ein "Pflegepartner" – ein Begriff, der mittlerweile in den USA lieber verwendet wird als Seniorenbetreuer – Demenzkranke nachahmen und sogar Streitigkeiten mit ihnen vor der Kamera eskalieren.

Die Macher scheinen sich dabei nicht einig zu sein, ob es ethisch vertretbar ist, Inhalte über jemanden zu veröffentlichen, der möglicherweise nicht mehr in der Lage ist, seine Zustimmung zu geben. In der Zwischenzeit diskutieren Menschen, die selbst mit Demenz leben, die Frage der Einwilligungsfähigkeit – und betonen die Schäden, die durch virale Inhalte verursacht werden, die Stereotypen aufrechterhalten oder das Wesen der Erkrankung falsch darstellen.

"Das ist eine Diskussion, die Menschen mit Demenz schon seit einiger Zeit führen", sagt Kate Swaffer, Mitbegründerin der Dementia Alliance International, einer Organisation, deren Mitglieder allesamt mit der Krankheit leben. Bei Swaffer wurde 2008, im Alter von 49 Jahren, eine Frühdemenz semantischer Art diagnostiziert.

Der Streit um sogenannten Demenz-TikToker ähnelt den aktuellen Diskussionen über das "Sharenting" – also Familien-Vlogger und Influencer, die ihre Elternschaft teilen. Kinder, die unfreiwillige Stars in den sozialen Kanälen ihrer Eltern waren, werden erwachsen und haben eine eigene Meinung dazu, wie sie dargestellt werden. Erwachsene mit Demenz sind jedoch keine Kinder – und während Kinder mit zunehmendem Alter die Fähigkeit entwickeln, Zustimmung zu erteilen, reduziert sich diese Fähigkeit bei dieser Gruppe.

Rechtlich gesehen kann ein Seniorenbetreuer oder ein bevollmächtigtes Familienmitglied im Namen einer Person, die dazu nicht mehr in der Lage ist, einwilligen. Kritiker sagen jedoch, dass dieser Standard nicht annähernd ausreicht, um die Rechte und die Würde derjenigen zu schützen, die mit Demenz in einem fortgeschrittenen Stadium leben. Swaffers eigener Standard lautet wie folgt: Niemand sollte Inhalte über jemanden in dieser Phase teilen – ob auf Facebook, in einer Fotoausstellung oder auf TikTok. Einzige Ausnahme: Die Person hat ausdrücklich zugestimmt, bevor sie die kognitiven Fähigkeiten dazu verlor. Swaffer selbst hat ihrer Familie gesagt, dass sie das nicht will – und ihr scherzhaft gedroht, dann später als Geist zurückzukehren.

Als Jacquelyn Revere zum ersten Mal einer Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige von Familienmitgliedern mit Demenz beitrat, wusste sie, dass sie noch nicht die richtigen Ansprechpartner gefunden hatte. Revere, damals Anfang 20, hatte gerade ihr Leben in New York aufgegeben, um nach Kalifornien zurückzukehren und ihre Mutter und Großmutter zu pflegen. Sie war Jahrzehnte jünger als alle anderen im Raum. "Die Leute sprachen darüber, dass sie Kredite auf ihre Häuser aufnehmen oder ihr Rentendepot plündern sollten", sagt sie. "Ich fühlte mich am Ende noch schlechter. Bei mir gab es sowas nicht. Mir fehlten solche Mittel."

Schließlich begann Revere, unter dem Namen @momofmymom zu posten – ein Name, der ihrer Meinung nach die sich verändernde Dynamik zwischen ihr und ihrer Mutter Lynn widerspiegelte. Damals konnte ihre Mutter noch ein Gespräch führen und war damit einverstanden, gefilmt zu werden. Es sah eher aus, als würden sie den Kanal gemeinsam betreiben. Inzwischen hat Revere mehr als eine halbe Million Follower auf TikTok – darunter viele Millennials, die auch Pflegepartner sind.

Revere versucht, Inhalte zu erstellen, von denen sie sich wünschte, dass sie ihr zur Verfügung gestanden hätten, als sie noch nichts wusste. In einem Video verbringen sie und ihre Mutter einen Tag zusammen, gehen zu einem Outdoor-Fitnesskurs, bei dem der Mutter nichts passieren kann, und treffen sich mit Freunden im Park. In einem anderen Film sitzt Revere allein im Auto und spricht emotional darüber, wie sie mit den nachlassenden Fähigkeiten ihrer Mutter umgeht. Sie versucht, ihre Mutter mit der Kamera einzufangen, wenn sie frisch aus der Dusche kommt, ihre Haare gemacht sind und sich für ein junges Mädchen hält. Die meisten schwierigen Themen spricht sie an, während ihre Mutter nicht zu sehen ist.

Je weiter die Demenz ihrer Mutter fortschreitet und je mehr Revere selbst darüber lernt, welche Art von Geschichte sie erzählen möchte, desto lehrreicher werden ihre TikToks. Man erfährt, wie sie die Angewohnheit ihrer Mutter, Papiertücher und Servietten zu sammeln und zu verstecken, löst. Man findet heraus, warum es wichtig ist, ein Netzwerk von Unterstützern für sich selbst und die Person, die man pflegt, aufzubauen. Und die Zuschauerinnen und Zuschauer sehen, warum man sich vorher genau überlegen muss, wie man auf die sich verändernden kognitiven Fähigkeiten des Demenzkranken reagiert.

Videos wie das von Revere können Pflegenden helfen, zu verstehen, wie man mit den großen Herausforderungen umgeht, die die Betreuung eines geliebten Menschen mit Demenz mit sich bringt. Sie geben auch das Gefühl, weniger allein zu sein, sagt Teepa Snow, Erzieherin und Ergotherapeutin, die pflegende Angehörige und Pflegefachkräfte darin unterrichtet, wie man mit Menschen mit Demenz arbeitet. Aber für jeden TikTok-Creator wie Revere gibt es viele, die soziale Medien nutzen, um sich über Demenzkranke lustig zu machen oder sich gar über die Person, die sie betreuen, negativ auszulassen.

Manchmal posten Familienmitglieder und sogar Pflegekräfte aus Frustration dann öffentlich auf ihren persönlichen Konten in den sozialen Medien. Sie dokumentieren einen schlimmen Moment in einem Video und teilen ihn auf Facebook – vielleicht in der Absicht, dass Familie oder Freunde sehen, womit sie zu kämpfen haben.

Pflegende posten solche Videos, wenn sie sich "wegen ihres Umgangs mit einer Person mit Demenz falsch beurteilt fühlen oder [das Gefühl haben], dass die Person mit Demenz gefährlich oder aggressiv ist", sagt Snow. Aber ein Video aus der Perspektive einer einzelnen Person erzählt nicht die ganze Geschichte. "Das sind die Dinge, die wir oft hören: Nun, sie wurde wirklich aggressiv! Und wenn man sich die Videos ansieht, denkt man: Hm, Du hast sie provoziert! Sie hat dir fünf Chancen gegeben, dich zurückzuhalten."

Einige der ersten viralen Videos, die Snow über Demenzkranke gesehen hat, bedienten diese Stereotypen und wurden erstellt, um zu behaupten, die gefilmte Person sei nicht mehr unabhängig lebensfähig. Solche schädlichen Videos haben sich im Laufe der Zeit vom "alten" Internet ohne Social Media zu Facebook, YouTube und jetzt zu TikTok verlagert. Ein TikTok-Konto, das zu einer kanadischen Organisation von Pflegekräften gehört, wurde im letzten Sommer geschlossen, nachdem es Videos veröffentlicht hatte, in denen sich Mitarbeiter über Demenzkranke lustig machten.

Swaffer ist auch beunruhigt über die Art und Weise, wie virale Videos zur Infantilisierung von Menschen mit Demenz beitragen, die sie auch im wirklichen Leben beobachtet hat. Sie erinnert sich an die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, in denen sie als Erkrankte "in einen Spielraum abgeschoben" und behandelt wurde, als hätte sie kaum kognitive Fähigkeiten. Swaffer hat nach ihrer Diagnose noch drei Uni-Abschlüsse gemacht und eine Promotion begonnen. Im Internet sieht sie dieses Klischee durch populäre Videos verstärkt, die Demenzkranke beim Spielen mit Kinderspielzeug und Puppen zeigen.

Stereotypen, die durch virale Inhalte aufrechterhalten werden, haben einen spürbar negativen Einfluss auf Menschen mit Demenz. Bei Christine Thelker, einer kanadischen Aktivistin und Autorin, wurde vor acht Jahren eine vaskuläre Demenz diagnostiziert. Fast sofort begannen Menschen, die ihr nahe standen, ihre Fähigkeit in Frage zu stellen, zu arbeiten, ein Auto zu fahren und allein zu leben. Thelker lebt immer noch allein. Ein freiwilliger Helfer kommt einmal pro Woche vorbei, um ihr bei Dingen unter die Arme zu greifen, die mit der Zeit immer schwieriger werden. Aber sie sagt: "Ich kann immer noch Auto fahren. Ich kann für mich selbst kochen. Ich habe nicht über Nacht alle meine Fähigkeiten verloren."

Swaffer ist im Internet angefeindet worden, weil sie versucht hat, problematische Darstellungen über Demenz zu hinterfragen. "Es hat eine lange Diskussion über Sprache gegeben, über respektvolle Sprache in unserem Sinne." Menschen ohne Demenz sagten regelmäßig, man sei ein Leidender. "Sie leiden unter Demenz." Sie sei schon zweimal aus Gruppen in sozialen Medien geflogen, weil sie es gewagt hätte zu sagen, sie wolle nicht als Opfer dargestellt werden.

Thelker hat ähnliche Erfahrungen gemacht. "Die Leute mögen es nicht, wenn wir den Status quo in Frage stellen", sagt sie. Sie hat das schon oft erlebt, wenn sie sich über Pflegepraktiken geäußert hat, die nicht unbedingt für Menschen im Frühstadium der Demenz geeignet sind. "Dieser Status quo basiert darauf, dass Menschen erst diagnostiziert werden, wenn sie sich bereits im Spätstadium befinden. Nicht, wenn sie sich im Frühstadium befinden und noch 20 Jahre lang gut funktionieren könnten", betont sie.

Snow ist der Meinung, dass die schlimmsten Inhalte, die sie im Internet sieht, zum Teil auf einen Mangel an Unterstützung für die Pflegenden zurückzuführen sind. "Ich glaube, das größte Defizit fängt weiter vorne an. Die medizinischen Dienstleister sehen Demenz nicht als eine Erkrankung an, die zwei Personen betrifft." Also den Erkrankten selbst und den Pflegenden.

Solche Familienmitglieder sind nicht zu Experten für Demenz ausgebildet worden. Nicht jeder hat die finanziellen Mittel, um selbst eine Therapie zu machen. Daher wenden sich einige Pflegende an Facebook-Gruppen, um die Lücke zu füllen, die das Gesundheitssystem hinterlassen hat. "Sie fühlen sich von allem überfordert, abgekämpft und frustriert", sagt Snow. Aber diese Gruppen können einige der schlimmsten Narrative über Demenz verstärken, da die Mitglieder über ihre eigenen Erfahrungen berichten und Fotos von ihren Angehörigen in deren schlimmsten Momenten teilen.

Darauf stößt Snow bei ihrer eigenen Arbeit regelmäßig. "Lassen Sie uns sehen, ob wir Ihre Gefühle wahrnehmen können, um Sie dann zu einer besseren Betreuung zu führen", sagt sie. "Denn wenn wir Sie nicht dazu bringen können, sich auf eine andere Art um die Person zu kümmern, werden das Leben des Erkrankten und Ihr Leben beschissen sein."

Es gibt keine einheitlichen "Best Practices" für die TikTok-Videos und Online-Diskussion von und über Demenzerkrankungen. Selbst Menschen mit Demenz sind sich nicht einig, was die Lösung wäre. Ideen sind aber vorhanden. Swaffer ist mehreren Facebook-Gruppen für Pflegende von Menschen mit Demenz beigetreten. Sie selbst war in ihrem Leben dreimal Pflegende für andere. "Mein Leidensdruck als pflegende Angehörige war so viel größer als mein Leidensdruck, weil ich die Diagnose Demenz hatte", sagt sie. "Zu sehen, wie jemand seine Fähigkeiten verliert und dann stirbt, ist ein verdammt harter Job."

Sie stellte fest, dass viele Pflegende ihr empfundenes Leiden auf die Demenzkranken abwälzen und davon ausgehen, dass ihre Erfahrungen gleich sind. In Wirklichkeit gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie es ausgehen kann. Das aktuelle Narrativ erweckt den Eindruck, es gäbe nur eine Art, Demenz zu erleben: als eine Abfolge von Verlusten. "Einige von uns sind Optimisten, andere sind Pessimisten, und einige von uns liegen in der Mitte", sagt Swaffer. Ein Pessimist neigt vielleicht zu Tragik und Leidensdiskussionen, "Das ist in Ordnung, denn es ist seine persönliche Erfahrung", sagt sie. "Ich glaube nur nicht, dass das die einzige Erfahrung ist, die wir öffentlich darstellen sollten."

Revere hat mit der Zeit gelernt, ihre Mutter differenzierter darzustellen. Ihre Mutter ist sich zwar immer noch der Kamera bewusst, aber sie hat die Fähigkeit verloren, wirklich zuzustimmen, dass sie gefilmt wird. Manchmal lernt Revere schmerzhafte neue Lektionen, wie man es macht. Ihr meistgeteiltes Video, in dem sie demonstriert, wie sie ihrer Mutter die Mundspülung wegnehmen konnte, ohne einen Streit anzufangen, ist eines, das sie jetzt bereut.

"Ich weiß nicht, ob das der richtige Moment war", sagt sie. Ihre Mutter zeigt sich in dem Video nicht von ihrer besten Seite – und diese Seite behält Revere jetzt lieber für sich. Als das Video in ihrem Feed wieder auftaucht, hat sie gemischte Gefühle. Sie weiß, dass es anderen Pflegenden wie ihr geholfen hat. Aber sie sagt auch: "Ich mag dieses Gefühl nicht, wenn solche Inhalte wieder auftauchen."

Jetzt wartet Revere 24 Stunden, nachdem sie ein neues Video aufgenommen hat, bevor sie etwas auf TikTok veröffentlicht. Dann schaut sie es sich noch einmal genau an. Wenn sie sich zu diesem Zeitpunkt immer noch gut damit fühlt, veröffentlicht sie es. Damit dieser Ansatz funktioniert, muss die Person, die das Video erstellt, die demenzkranke Person als menschliches Wesen betrachten, das Respekt verdient. Thelker ihrerseits macht sich keine großen Sorgen um die Kontrolle ihrer Online-Präsenz, wenn ihre Demenz fortschreitet, obwohl sie hofft, dass ihre Angehörigen geschmackvoll über sie posten. "Es ist von mir schon so viel da draußen zu finden. Googeln Sie mich einfach", sagt sie.

(bsc)