"Totale Erreichbarkeit muss nicht krank machen"

Die IT-Organisationsforscherin Melissa Mazmanian sieht in Smartphones und Netbooks gute Werkzeuge - solange es die Nutzer nicht übertreiben.

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Von
  • Udo Flohr

Die IT-Organisationsforscherin Melissa Mazmanian sieht in Smartphones und Netbooks gute Werkzeuge – solange es die Nutzer nicht übertreiben.

Mazmanian lehrt und forscht zu organisatorischen Aspekten der Informatik an der University of California in Irvine.

Technology Review: Frau Mazmanian, Smartphones haben den Arbeitstag bis in den Feierabend, das Wochenende und sogar bis in den Urlaub hinein verlängert. Schaden diese Geräte den Arbeitnehmern mehr, als sie nutzen?

Melissa Mazmanian: Nicht unbedingt. Viele Arbeitnehmer können besser mit Stress umgehen, wenn sie beruflichen Angelegenheiten auch in ihrer Freizeit folgen. Wenn sie dann an den Arbeitsplatz zurückkehren, brauchen sie keine unangenehmen Überraschungen mehr zu fürchten. Viele Probleme lassen sich zudem vermeiden, indem man rechtzeitig gegensteuert.

Außerdem ermöglicht mobile Kommunikation auch flexiblere Arbeitszeiten. Andererseits bleibt der Arbeitsalltag dadurch ständig gegenwärtig und erzwingt immer wieder einen Rollenwechsel – vom Vater zum Arbeitnehmer, von der Urlauberin zur gestressten Anwältin. Hier Kosten und Nutzen einzuschätzen ist ein kompliziertes Thema.

TR: Kann die ständige Erreichbarkeit auch krank machen?

Mazmanian: Im klinischen Sinne ist dazu bisher nichts bekannt. Menschen verwenden allerdings immer häufiger das Wort "Sucht", um die vermeintliche Notwendigkeit zu beschreiben, ständig ihren Posteingang zu verfolgen. Das ist interessant, denn süchtig zu sein bedeutet eigentlich eine Vereinzelung.

Dabei ist es vor allem die soziale Umgebung, die implizit ständige Anbindung einfordert. Paradoxerweise versichert die Umwelt dem Einzelnen gleichzeitig, er könne jederzeit selbstständig handeln. Aber wenn ich autonom bin, warum bin ich dann ständig online? Ich behaupte, Menschen bezeichnen sich als süchtig, um zu dokumentieren, ihr Verhalten sei noch selbstgesteuert und nicht von anderen erzwungen.

TR: Wie können Manager ihren Mitarbeitern helfen, mobile Kommunikation so einzusetzen, dass sie Stress mindert?

Mazmanian: Ein gemeinsam vereinbartes Codewort in der Betreffzeile kann zum Beispiel signalisieren: Hier ist bald eine Antwort nötig, oder es hat Zeit bis zum nächsten Arbeitstag. So brauche ich nicht zu erraten, was andere von mir erwarten – und nicht jede Nachricht sofort zu beantworten, um zu demonstrieren, ich bin engagiert und habe alles im Griff.

TR: Das Smartphone bleibt also ein essenzielles Karriere-Tool. Wie kann der moderne Büromensch sich selbst helfen?

Mazmanian: Indem er Distanz zu seinem Mobilgerät aufbaut. Und doch führen soziale Normen und Gruppenzwänge immer wieder zu ungesundem und kontraproduktivem Verhalten. In diese Dynamik muss man dann auch auf Gruppenebene eingreifen.

TR: Ich muss also wissen, dass Chef und Kollegen mitziehen?

Mazmanian: Normen und Erwartungen zu verschieben kostet Zeit und Aufwand. Das Thema muss periodisch immer wieder reflektiert werden. Es geht um die Frage, was es wirklich bedeutet, seine Arbeit gut zu machen. Mitarbeiter wollen sicher sein, dass sie für Verhaltensänderungen nicht implizit abgestraft werden, und dass Abschalten nicht bedeutet, Kollegen zurückzuweisen. Solange Erreichbarkeit mit Produktivität gleichgesetzt wird, kann niemand einseitig abschalten. (bsc)