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Trends 2020: Aufbruch nach Digitalien, das smarte Leben eines smarten Bürgers

| Jürgen Kuri

Wir können uns heute schon ziemlich genau vorstellen, wie das Leben in intelligenten Städten und auf dem komplett vernetzten Land aussehen könnte.

"Guck mal, Papa, ein Auto!" Jonas sah mich überrascht an. Kein Wunder, oft traf man auf diese Ungetüme ja nicht mehr. Der autonome I.D. Buzz hatte sich hinter unserem Quad-E-Bike eingereiht. Ich erinnerte mich noch belustigt an VWs Versuche, damals, als die Dieselkrise hochkochte, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Inzwischen wurden die autonomen E-Autos der I.D.-Reihe vom chinesischen Hersteller Byton produziert. VW hatte sich nach dem Verkauf der Marke und der Schließung des letzten Produktionswerks in Wolfsburg in Moia umbenannt und ganz auf Mobilitätsdienstleistungen verlegt. Nur die Wartung der für Moia immer noch vereinzelt eingesetzten E-Autos erinnerte noch an frühere Zeiten.

Das galt aber nicht nur für VW. Unser E-Bike, ein bequemer Vier-Sitzer, den man auch als Lastenfahrrad nutzen konnte, gehörte zu den beliebtesten Individual-Gefährten fürs Mobility-Sharing. Hersteller: Tesla [1]. Anfang der 20er-Jahre brach die große E-Auto-Flaute aus, angesichts der endlich entwickelten erweiterten Sharing-Infrastruktur in den Städten und angesichts der Unwilligkeit klassischer Autobauer (zu denen sich auch Tesla zählen lassen musste), nicht einfach nur herkömmliche Autos mit anderen Motoren und erweiterten Assistenzsystemen auszustatten. Tesla stellte daraufhin ganz auf Fahrräder um und wurde schließlich von Continental/Schaeffler übernommen.

Nicht nur eine Zukunftsvision: das E-Bike als Viersitzer und als Lastenfahrrad

Nicht nur eine Zukunftsvision: das E-Bike als Viersitzer und als Lastenfahrrad

Continental hatte als zweites Standbein die E-Pods, mit der auch die Dörfer und das Land (wo die Bauern die Digitalisierung und Vernetzung eh schon viel schneller vorangetrieben hatten als die Stadtbewohner) ins Mobility-Sharing eingebunden wurden: halbindividuelle und halbautonome Gefährte, die man sich per App an seinen Standort ruft, von wo aus es zur nächsten Auffahrt auf das erweiterte Schienennetz geht. Dort koppeln sie sich an von der App informierte, bereits verbundene E-Pods an, die in die gleiche Richtung müssen. Für zwischenzeitliches Ab- und Ankoppeln an neue E-Pod-Kolonnen bei Abzweigungen sorgt die App mittels der digitalen Infrastruktur.

Ein Hinweis in der AR-Brille riss mich aus meinen historischen Reminiszenzen. Wir könnten nun links abbiegen, dort stünde ein ÖPNV-Bus für uns bereit. Die Toll-Collect-App hatte der Üstra Bescheid gesagt, dass der warten solle, um uns noch mitzunehmen. Der autonome Bus würde uns bis kurz vors Haus bringen.

Auch so eine Geschichte, die man sich Ende der 10er-Jahre nicht so recht vorstellen konnte: Alle Ride-Sharing-Angebote und andere Dienstleistungen mussten sich bei Toll Collect anmelden und deren Koordinierungsaufgaben unterwerfen. Nachdem Toll Collect in staatlicher Hand geblieben war, rang sich die grün-schwarze Bundesregierung dazu durch, endlich Nägel mit Köpfen zu machen und ein einheitliches Mobilitätskonzept für ganz Deutschland zu entwickeln.

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Toll Collect als Koordinierungsinstanz spielt seither eine zentrale Rolle – Autos dagegen keine mehr. E-Bike-Sharing, autonome ÖPNV-Busse, E-Roller und einzelne Laufbänder in den besonders zentralen Fußgängerzonen sorgen dafür, dass man überall bequem hinkommt. Und wer Sport braucht, kann ja laufen – Autos kommen ihm nicht in die Quere, Fußgänger haben überall Vorrang, und die Luft ist auch sauber, seit 2030 Verbrennungsmotoren verboten wurden.

Die Toll-Collect-App hat nur die Grundfunktionen fürs Mobility-Sharing, eigentlich ist Toll Collect nur so eine Art digitaler Netz-Infrastrukturanbieter. Jeder Dienstleister kann mit eigenen Sharing-Apps eigene Dienste auf dieser Basis anbieten, ist aber verpflichtet, seine Angebote zur Koordinierung an Toll Collect zu melden. So ähnlich verfuhr man seit Anfang der 20er-Jahre mit allen Netz-Infrastrukturen: Da sie als gesellschaftlich notwendige Aufgabe definiert wurden, gingen sie in die Hand öffentlich-rechtlicher Gesellschaften über, die die Infrastruktur für beliebige Dienstleister zur Verfügung stellten.

Die Sharing-App kann, wenn ich das möchte, auch Kontakt mit unserer Wohnung aufnehmen. Hat sie gerade auch: Reinhard erscheint als Hologramm kurz vor meinem rechten Auge. "Ihr seid in fünf Minuten da? Fein, die Zutaten für deine Kochorgie gleich sind auch schon eingetrudelt, meldete der Kühlschrank gerade", freut er sich.

Ach ja. Der vernetzte Kühlschrank. Wie lange geisterte er durch die Fantasien der digitalen Welt? Seit dem vergangenen Jahrtausend? Immer verbunden mit der Vorstellung, der Kühlschrank bestellt selbstständig und automatisch fehlende Lebensmittel nach. Absurd. Und so weit sind auch die modernen digitalen Assistenten noch lange nicht, dass ihre KI unsere Gedanken lesen könnte.

Dabei ist der vernetzte Kühlschrank ja der ideale Platz für das zentrale Display in der Küche – nicht nur für Rezepte, sondern als zentrales Informationsboard der Wohnung oder etwa zum V-appen (3D-Whatsappen) während des Kochens oder Aufräumens. Tja, trotz aller halbwegs intelligenten Roboter im Haushalt muss man da manchmal doch noch Hand anlegen …

Der vernetzte Kühlschrank funktioniert aber mittlerweile auch als eine Art umgekehrter Müllschlucker. Während der den Abfall automatisch zum zentralen Recycling-Hof des Viertels transportiert, ist der Kühlschrank die Endstation für alle nicht von uns selbst nach Hause gebrachten Lebensmittel. Im Geschäft oder übers Netz bestellte Lebensmittel, per Transponder personalisiert, bringen automatisierte Botenfahrzeuge zur zentralen Kühlstation im Haus, von wo sie in die Kühlschränke der einzelnen Wohnungen verteilt werden.

Das alles geht natürlich nicht ohne Daten. Noch so eine Debatte, die mittlerweile kaum noch eine Rolle spielt. Leicht amüsiert erinnerte ich mich an die Aufregung um die Datenschutz-Grundverordnung der EU [3]. Heutzutage ist auf deren Basis nicht nur der Schutz der Privatsphäre, sondern auch das individuelle Recht jedes einzelnen Users auf Datentransparenz Teil nicht nur des Grundgesetzes, sondern der Erklärung der Menschrechte der EU.

Jedes Datum, das im digitalen Leben zwangsläufig entsteht, ist vom User konfigurierbar, ob es überhaupt benutzt werden darf, und wenn ja, für welche Zwecke. So kann man beispielsweise Positionsdaten ganz von der Auswertung ausschließen, für den Fitness-Tracker freigeben, aber für die Restaurant-Empfehlungen ausschließen. Jedes erzeugte Datum lässt sich sofort von dem User, zu dem es gehört, einsehen und auch direkt löschen.

Der Google/Amazon-Komplex als größter Datensammler wurde dazu verdonnert, die Infrastruktur und das Bedieninterface für diese Technik zur individuellen Datentransparenz zu entwickeln und vorzuhalten. Da halfen auch vorsichtige Proteste der US-Regierung nichts – nach den Trump-Jahren, der Selbstständigkeit Kaliforniens und dem Anschluss des Bundesstaates Washington an Kanada spielen die USA weder ökonomisch noch politisch eine große Rolle. Die EU konnte sich aber auch gegen das chinesische Konglomerat mit ihren Vorstellungen der Datenkontrolle durchsetzen, nachdem das chinesische Social-Scoring-Projekt am Widerstand der aufgebrachten Bürger gescheitert war.

Dass man Google/Amazon das Betreiben der Datenschutzinfrastruktur zutraute, lag auch an der guten Stimmung, die sie mit ihrer AR-Brille gemacht hatten. 2020 kam Google mit einer (intern als Generation 5 bezeichneten) für normale Anwender funktionierenden Version der Google Glass [4] auf den Markt – und übertrumpfte damit Apple, die zwar eilig nachzogen, aber sich mit technisch unausgereifter Hard- und Software blamierten (was, nebenbei bemerkt, den Anfang vom Ende für Apple bedeutete).

Augmented Reality anno 2019. Nicht wirklich schick, nicht wirklich praktisch. Da ist wohl noch einiges an Entwicklungsarbeit notwendig. Immerhin ist das AR-Headset von Nreal Light deutlich kleiner und billiger als Konkurrenzprodukte.

Augmented Reality anno 2019. Nicht wirklich schick, nicht wirklich praktisch. Da ist wohl noch einiges an Entwicklungsarbeit notwendig. Immerhin ist das AR-Headset von Nreal Light deutlich kleiner und billiger als Konkurrenzprodukte.

Google machte die Google Glass zur Open Hardware: Hardwaredesign, Spezifikationen und Baupläne waren Open Source, ebenso das Betriebssystem Android Glass. Diverse Nachbauten und Konkurrenzbrillen sind mittlerweile auf dem Markt. Das sorgte natürlich für Bonuspunkte bei Wettbewerbshütern und Datenschützern, auch wenn Google/Amazon mit ihren Mobilgeräten wie der Glass und ihrer Cloud-Infrastruktur immer noch dominierend auf dem Markt sind.

Ein ausgereiftes Datenmanagement macht allerdings nicht nur den einzelnen Usern das Leben leichter. Daten ermöglichen auch kommunitäre Verwaltung mit globaler Koordination. Die EU entwickelte ein kontinentweites Big-Data-E-Government, das es noch kleinsten ökonomischen und politischen Einheiten ermöglichte, sich über Echtzeitkommunikation aller Ressourcen zu bedienen und sich an allen Entscheidungen zu beteiligen. Die Vereinigten Staaten von Europa wurden nicht lediglich ein Europa der Regionen, sondern sowohl ein Europa der Kommunen als auch ein kommunitäres Europa. Liquid Democracy funktionierte plötzlich, wenn man es IT-technisch in großem Maßstab betrieb und mit freier Verfügbarkeit aller für Entscheidungen relevanter Daten verband.

Eine der wichtigsten technischen Voraussetzungen für alle diese Entwicklungen war natürlich ein Kommunikationsnetz, das nur noch wenig mit dem fast schon altertümlichen Ethernet oder den diversen WLAN-Techniken zu tun hatte. Eher eine Art Kommunikationsäther. Ein Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen, als ich an die Diskussion vor einigen Jahrzehnten dachte, ob denn jede Milchkanne einen Netzzugang brauche. Ganz abgesehen, dass er wohl mit dem Wort Milchkanne nichts anzufangen wüsste: dass irgendein Ding keinen ständigen und dauerhaften Zugang zum Kommunikationsäther haben könnte, wäre Jonas völlig unverständlich.

Also, Butter bei die Fische: Schauen wir uns an, wie dieser Kommunikationsäther aussieht. Beamen wir uns zurück in die Zeit der Anfänge, als Europa anfing, sich aus der digitalen Steinzeit herauszuarbeiten. Willkommen im Jahr 2019. (jk [5])


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[5] mailto:jk@heise.de