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Trip aus der Depression

Inge Wünnenberg

Viele Menschen haben ein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen. Keines der gängigen Medikamente scheint ihnen zu helfen. Nun hoffen Psychiater auf Halluzinogene und Psychedelika als Lösung.

Schon während seines Studiums interessierte sich Robin Carhart-Harris für das Unbewusste. Mit Begeisterung las er Mitte der Nullerjahre das Werk von LSD-Papst Stanislav Grof. Psychedelika, meinte er danach, könnten ihm Einblick ins menschliche Bewusstsein gewähren.

Aber nicht nur das. Er entwickelte zugleich eine Theorie, dass Halluzinogene bei psychischen Leiden wie Ängsten, Depressionen und Abhängigkeiten helfen könnten. Nun will er sie Schritt für Schritt in die Praxis umsetzen. Vor ein paar Jahren war der Brite der erste Forscher seit Jahrzehnten, der auf der Insel Grundlagenforschung mit Psychedelika anstellte. Denn Wirkstoffe wie Psilocybin gelten, seit 1971 die Konvention über psychotrope Substanzen verabschiedet wurde, weltweit als illegal.

Carhart-Harris bewegt sich damit in einem Grenzgebiet der Medizin, das eigentlich nur Schwierigkeiten mit sich bringt. Das dürfte ihm spätestens klar geworden sein, als er versuchte, an die benötigten Substanzen zu kommen. Der Neurowissenschaftler hatte sein Augenmerk auf Psilocybin gerichtet, den Wirkstoff aus den Magic Mushrooms. Er wollte wissen, ob die Droge depressiven Menschen helfen kann, bei denen keine anderen Therapien anschlagen. Dafür brauchte der Forscher jedoch Sondergenehmigungen. Und wie sich herausstellte, war es selbst für einen Wissenschaftler der neuropsychopharmakologischen Abteilung am Imperial College London äußerst langwierig und kostspielig, sie zu erhalten.

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Auch der anschließende Versuch lief nicht so ab, wie man es gemeinhin von medizinischen Studien kennt: Jeweils sechs männliche und sechs weibliche Probanden erhielten zweimal eine Kapsel mit synthetisch hergestelltem Psilocybin in einem angenehm abgedunkelten Raum. Während der mehrstündigen Drogenerfahrung schirmte sie eine Augenmaske von der Welt ab; sie lagen auf einem Bett, hörten Musik, und an jeder Seite der Probanden saß ein geschulter Ansprechpartner. Später wurden mit den Patienten Gespräche geführt, um ihnen zu helfen, ihre Erlebnisse einzuordnen und zu verarbeiten. Die Ergebnisse aber sind keineswegs so esoterisch, wie das Experiment vermuten lässt. Carhart-Harris brachte sie voriges Jahr immerhin im renommierten Fachjournal "Lancet Psychiatry" unter. Und sie bescheinigen dem Rauschmittel einen großen therapeutischen Effekt bei therapieresistenten Patienten.

Bei 67 Prozent der Teilnehmer konnte nach einer Woche eine positive Reaktion auf die Gabe festgestellt werden, bei 58 Prozent der Patienten hielt die Symptomfreiheit sogar drei Monate lang an. Für den Neurowissenschaftler steht fest, "dass Psilocybin ein vorteilhaftes Giftprofil hat", außerdem führe es nicht zu einem "drogenfixierten Verhalten". Deshalb ist für Carhart-Harris nun der nächste logische Schritt eine wirklich groß angelegte randomisierte, Placebo-kontrollierte Studie.

Dass Psychiater und Psychologen seit einigen Jahren vermehrt mit solch verbotenen Stoffen experimentieren, ist das Ergebnis einer beträchtlichen Notlage. Zwar gibt es heutzutage vielleicht nicht mehr Depressionen als früher, aber sie werden häufiger und zuverlässiger diagnostiziert. Tatsache ist, dass jedes Jahr 5,3 Millionen Deutsche an dieser schweren psychischen Störung erkranken. Und bis die gängigen Mittel anschlagen, vergeht Zeit. "Es dauert in der Regel einige Wochen, bis ein Antidepressivum wirkt", sagt Undine Lang, Direktorin der Erwachsenenpsychiatrischen Klinik in Basel. Zu lang für viele Betroffene: Depressionen sind hierzulande die häufigste Ursache der geschätzten 10000 Selbstmorde jährlich.

Noch gravierender aber ist, dass bei rund 20 Prozent der Patienten die gängigen Antidepressiva erst gar nicht anschlagen. Ihnen helfen zum Beispiel die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) nicht, die für eine höhere Konzentration des sogenannten Glückshormons im Gehirn sorgen. Obendrein stagniert die Entwicklung von Arzneien für psychische Leiden, seit mehreren Jahren sind keine Medikamente mit neuen oder besseren Wirkmechanismen zugelassen worden. Ärzte wie Gerhard Gründer, Leiter der Arbeitsgruppe "Molekuare und klinische Psychopharmakologie" an der Uniklinik RWTH Aachen, sprechen geradezu von einer "Krise".

Da ist es kein Wunder, dass Mediziner wie Forscher vehement nach Lösungen suchen – und nach jedem Strohhalm greifen. Schon seit einiger Zeit in den Fokus gerückt sind die sogenannten Psychedelika, zu denen LSD, Psilocybin und – aufgrund der Wirkung – auch das Narkosemittel Ketamin zählen. Noch sind die Probandenzahlen in den klinischen Studien zu klein für verlässliche Aussagen. Aber die Ergebnisse lassen hoffen. Neben den Forschern vom Imperial College testen auch einige amerikanische Teams Psilocybin als Mittel für therapieresistente Patienten.

Unter der Leitung des Psychopharmakologen Roland Griffiths stellten Forscher der Johns Hopkins University in Baltimore in einer randomisierten Doppelblindstudie mit 51 Teilnehmern fest: "Psilocybin erzeugt im Falle von Patienten mit einer lebensbedrohlichen Krebserkrankung einen beachtlichen und anhaltenden Rückgang bei Depressionen und Angstzuständen." Die voriges Jahr im "Journal of Psychopharmacology" publizierte Erfolgsrate lag für die depressiven Patienten nach sechs Monaten bei 78 Prozent. Griffiths attestierte den entsprechenden Probanden einen "Zuwachs an Lebensqualität", mehr Lebenssinn, eine größere Akzeptanz dem Tod gegenüber, aber auch mehr Optimismus.

Co-Autor William Richards sieht in der Psilocybin-Therapie eine Chance für die Patienten, jene Mauer aus "Ängsten, Furcht, Trauer oder Schuld zu durchbrechen und einen transzendentalen Bewusstseinszustand" zu erleben. Psilocybin ermögliche dem Patienten eine besondere Erfahrung, die sich als Wendepunkt herausstellen kann. Einen depressiven Probanden könne das mitunter als "mystisch" beschriebene Erlebnis zum Beispiel erst für eine Psychotherapie offen machen. Würde sich dies bestätigen, müssten Patienten die Droge nur wenige Male unter kontrollierten Bedingungen einnehmen – und wären damit auf dem Weg der Heilung.

Wenn kein Risiko für Psychosen oder epileptische Anfälle besteht und auch das Herz-Kreislauf-System in Ordnung ist, hält Richards den medizinischen Einsatz von Psilocybin für "unglaublich sicher". Schon in den 1960er- und 1970er-Jahren hat sich der Psychologe der Erforschung psychedelischer Substanzen gewidmet. Nun kooperieren er und seine Kollegen eng mit der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA und sie hoffen, eine Neubewertung des bislang verbotenen Psilocybins zu erreichen. "In fünf Jahren", wünscht sich Richards, "wird es möglich sein, Psilocybin als Behandlung anzubieten."

Was die Forscher an Psilocybin und anderen Psychedelika begeistert, ist vor allem die schnelle, durchschlagende Wirkung der Substanzen. Dies gilt auch für Ketamin, eine weitere große Hoffnung im Kampf gegen Depressionen. Die erstmals 1962 synthetisierte Substanz wird zwar traditionell in der Medizin sowohl als Schmerz- als auch als Narkosemittel eingesetzt. Aufgrund seiner dissoziativen, vorübergehend das Bewusstsein auflösenden Wirkung absolvierte der Stoff aber auch eine steile Karriere als illegale Partydroge.

In diesem Sommer berichtete nun ein australisches Team von der University of New South Wales und vom Black Dog Institute über den erfolgreichen Einsatz von Ketamin zur Behandlung von älteren depressiven Patienten. Unter der Leitung von Colleen Loo nahmen mehr als 60 Jahre alte Probanden an der randomisierten, kontrollierten Studie teil. Am Ende profitierten fast 70 Prozent der Probanden von der Behandlung, wie die Forscher im "American Journal of Geriatric Psychiatry" darlegten. "Die Ergebnisse bringen uns einen großen Schritt vorwärts, und wir beginnen, die Möglichkeiten und Grenzen des Ketamins bei der Behandlung von Depressionen zu verstehen", resümierte Loo zufrieden.

Mit Ketamin wurden nicht zuletzt an der Universität Basel "sehr viele Erfolge" erzielt, berichtet Undine Lang. "Da sehen wir im Gegensatz zu anderen Antidepressiva einen sehr schnellen und sehr fundamentalen Effekt vor allem auch auf Suizidalität", sagt die Psychiaterin. Sie habe erlebt, dass die Gefahr der Selbsttötung innerhalb von wenigen Tagen überwunden worden sei. Darüber hinaus könne die Gabe von Psychedelika in einzelnen Fällen den Weg zu einer Psychotherapie erst ebnen, indem sie Ängste und Leiden des Patienten für eine gewisse Zeit reduziere.

Für die Kritiker gehen diese frohen Botschaften jedoch zu weit. Der Aachener Psychiatrieprofessor Gerhard Gründer betrachtet es "kritisch" und als einen "Akt der Verzweiflung", dass die akademische Psychiatrie den Einsatz von Halluzinogenen bei Depressionen propagiere. Zwar räumt er ein, dass sie diesen Patienten kurzfristig und schnell helfen mögen. "Aber sie können Psychosen auslösen", warnt er. "Da gibt es keinen Zweifel." Ein großes Problem sieht der Psychiater auch in den bisher nicht abschätzbaren Langzeitfolgen. Vor allem aber warnt er vor der Gefahr der Selbstmedikation. Schüren Psychiater zu große Hoffnungen, dürften sich viele Betroffene die Drogen selbst besorgen. Um zu verdeutlichen, wie riskant der missbräuchliche Einsatz der Psychedelika sein könne, erinnert Gründer zum Beispiel an jenes fatale Experiment eines Berliner Arztes mit psychoaktiven Wirkstoffen im Jahr 2009. Damals starben mehrere Teilnehmer der Wochenendveranstaltung.

Die Befürworter streiten die Gefahren keineswegs ab. Der Londoner Neurowissenschaftler Carhart-Harris betont daher immer wieder, wie wichtig Vor- und Nachbereitungen der Sitzungen sind, in denen die Patienten Psilocybin einnehmen und sich auf einen Trip begeben. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch größere Studien mit mehr Probanden. Die Australierin Colleen Loo etwa gesteht ein, dass die Risiken eines langfristigen Einsatzes von Ketamin noch unklar seien. Freizeitnutzer der Partydroge hätten etwa Nebenwirkungen wie Blasenentzündungen, Leberschäden, Gedächtnisverlust, Verlangen oder Abhängigkeit beobachtet. Deshalb hat Loo nun eine große Ketamin-Studie zur Behandlung von Depressionen mit 200 Teilnehmern gestartet. Auch Undine Lang von der Universität Basel würde "niemandem empfehlen, dass er MDMA, auch bekannt als Ecstasy, oder LSD anstelle von Antidepressiva einnimmt. Dazu weiß man zu wenig".

Vielleicht liegt der Schlüssel aber auch gar nicht in den Drogen selbst – sondern in ihrem Wirkmechanismus. Ist er entschlüsselt, könnten klassische Medikamente dort angreifen und so designt werden, dass zumindest keine gefährlichen Nebenwirkungen mehr auftreten. Die Patienten kämen in den Genuss der Vorteile, die ein Halluzinogen wie Ketamin mit sich bringt. Aber sie müssten nicht die vielen Nachteile in Kauf nehmen.

Schritte in diese Richtung gibt es bereits. Das Team um die Baslerin Lang etwa forscht an einem neuralgischen Punkt. Die Wissenschaftler untersuchen einen NMDA-Rezeptor, an den sich Ketamin offensichtlich bindet. Ein entsprechender Wirkstoff steckt sogar schon in der Pipeline der Pharmaindustrie: Rapastinel von der irischen Firma Allergan. Anfang des Jahres erhielt das Mittel den Status der "Breakthrough Therapy" der US-Zulassungsbehörde FDA. Schon bei einer einmaligen Gabe wirkt es innerhalb eines Tages antidepressiv. Vor allem aber wurden keine psychedelischen oder halluzinogenen Nebenwirkungen beobachtet.

(inwu [5])


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