US-Wahl lief ohne große "Deepfakes" ab – aber "Cheapfakes" bleiben eine Gefahr
Visuelle Desinformation wird technisch immer besser und leichter zu erzeugen. Doch selbst primitive Fälschungen verändern die politische Realität.
- Nina Schick
Ende November 2020 veröffentlichte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums ein Foto auf Twitter. Es zeigt einen Soldaten, der auf einer australischen Flagge steht und manisch grinsend ein blutiges Messer an den Hals eines Jungen hält. Das Gesicht des Kindes ist von einem halb durchsichtigen Schleier verdeckt, und in seinen Armen trägt es ein Lamm. "Geschockt vom Mord an afghanischen Zivilisten und Gefangenen durch australische Soldaten. Wir verurteilen solche Taten scharf und verlangen, dass sie zur Verantwortung gezogen werden", schrieb der Sprecher dazu.
Seine Nachricht bezog sich auf eine Mitteilung der Australian Defence Force, laut der nach "glaubwürdigen Informationen" 25 australische Soldaten an der Ermordung von Zivilisten und Gefangenen in Afghanistan von 2009 bis 2013 beteiligt waren. Das Bild soll einen Soldaten zeigen, der kurz davor ist, einem unschuldigen Kind die Kehle zu durchschneiden – explosives Material.
Visuelle Desinformation
Aber das Foto ist eine Fälschung, bei näherem Hinsehen nicht einmal eine besonders gelungene. Jeder Photoshop-Anfänger hätte es zusammenbauen können. Es handelt sich um einen sogenannten Cheapfake, also grob manipuliertes, bearbeitetes, falsch gekennzeichnetes oder im falschen Kontext präsentiertes Material mit dem Ziel, falsche Informationen zu verbreiten.
Und aus diesem Cheapfake wurde eine bedeutende internationale Angelegenheit. China sollte sich schämen, sagte der australische Premierminister Scott Morrison, und verlangte eine Entschuldigung. Peking weigerte sich und warf seinerseits Australien "Barbarismus" vor. Das Land versuche, die öffentliche Aufmerksamkeit von mutmaßlichen Kriegsverbrechen seines Militärs in Afghanistan abzulenken.
Aus dem Vorfall lassen sich zwei wichtige politische Lektionen ableiten. Erstens hat China den Einsatz von Cheapfakes durch einen seiner obersten Diplomaten zugelassen. Traditionell war das Land in dieser Hinsicht vorsichtig und versuchte, sich als wohlmeinende und verantwortungsbewusste Supermacht zu präsentieren. Die neue Vorgehensweise ist eine bedeutende Abkehr davon.
Allgemeiner zeigt sich auch die zunehmende Bedeutung von visueller Desinformation als politisches Werkzeug. Über das vergangene Jahrzehnt hat die Verbreitung manipulierter Medieninhalte die politische Realität drastisch verändert. So wurde mit Cheapfakes ein Genozid gegen Muslime in Burma in Gang gebracht, und auch falsche Informationen über das Coronavirus kamen mit dieser Methode in die Welt. Jetzt greift offenbar auch eine globale Supermacht darauf zurück – was könnte China und andere dann davon abhalten, vermehrt von immer besseren Möglichkeiten zur visuellen Desinformation Gebrauch zu machen?
Seit Jahren warnen Beobachter und Experten vor den Gefahren von Deepfakes. Dabei handelt es sich allgemein um synthetische Medien, die von künstlicher Intelligenz manipuliert oder generiert wurden. Technisch gesehen sind sie Cheapfakes also überlegen, und zugleich lassen sie sich immer einfacher erstellen. Irgendwann reichen Smartphone-Apps für fast perfekte Fälschungen, sodass fast jeder damit arbeiten kann, und das so gut wie kostenlos.
Falscher Alarm
Vor der US-Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr erreichten die Deepfake-Warnungen einen Höhepunkt. Monatelang diskutierten Politiker, Journalisten und Wissenschaftler darüber, wie dieser Bedrohung zu begegnen sei. Im Vorfeld der Wahl wurde der Einsatz von Deepfakes zur Beeinflussung von den Parlamenten in Texas und Kalifornien sogar explizit verboten.
Im Rückblick erscheinen diese Sorgen übertrieben. Letztlich liefen die US-Wahlen ohne größere Deepfake-Versuche ab – abgesehen vielleicht von einem nicht ernst gemeinten Werk des russischen Staatssenders Russia Today, in dem Donald Trump nach seiner Niederlage gesteht, eine Marionette von Präsident Putin zu sein. Statt für politische Sabotage werden Deepfakes immer noch am häufigsten für sexuelle Inhalte genutzt.
Dennoch besteht kein Anlass, sich beruhigt zurückzulehnen. Noch wird das Risiko durch technische Einschränkungen begrenzt. Doch Deepfake-Technik wird immer besser und einfacher, was ihren Einsatz sprunghaft zunehmen lassen könnte.
Und schon vorher hat allein die Möglichkeit von Deepfakes schädliche Auswirkungen. In naher Zukunft werden Übertäter Fälschungen zu fast allem vorlegen können – und jegliches echte Material als falsch zurückweisen. Dieser doppelte Vorteil wird auch als “Lügner-Dividende“ bezeichnet. Der Begriff stammt aus einem Fachaufsatz über Deepfakes von 2018, bezieht sich aber auf Desinformationen aller Art.
Cheapfakes überall
Seit dem berühmten Fake-Video der Repräsentantenhaus-Sprecherin Nancy Pelosi von 2019 sind Cheapfakes fester Bestandteil des politischen Geschehens in den USA. 2020 trugen sie zu einer bedeutenden Desinformationskampagne bei, die der Präsident und seine engsten Verbündeten betrieben. Die falsche Behauptung, das Wahlergebnis sei durch Betrug im großen Stil zustande gekommen, wurde regelmäßig mit Cheapfakes untermauert.
Ein Beispiel dafür ist ein virales Video, in dem der gewählte neue Präsidenten Joe Biden sagt: "Wir haben, denke ich, die extensivste und inklusivste Wahlbetrug-Organisation in der Geschichte der amerikanischen Politik zusammengestellt." Im korrekten Kontext beschrieb Biden mit diesen Worten ein Programm, mit dem Wähler für den Fall von unbegründeten Klagen gegen das Wahlergebnis geschützt werden sollen. Doch der Clip wurde sowohl von Trump als auch von seiner Sprecherin weiterverbreitet und als Einräumen von Betrug dargestellt.
Als die Stimmen ausgezählt wurden, ging es so weiter. Echte Videos von Helfern, die routinemäßig Stimmen auszählen und eintragen, wurden unter anderem von Trump selbst als "Beweis" für Manipulationen angeführt. Ein viral verbreiteter Cheapfake mit einem Mann, der Stimmzettel zerrissen haben sollte, erwies sich als Werk eines Spaßvogels auf TikTok. In der Realität wiesen Gerichte in den USA Versuche von Trumps Rechtsteam zurück, die Ergebnisse anzufechten. Im Dezember 2020 räumte sein scheidender Generalstaatsanwalt Bill Barr ein, dass das Justizministerium keine Belege für Betrug gefunden hat.
Trotzdem scheinen Cheapfakes schon reale Konsequenzen zu haben. Im Bundesstaat Georgia berichtete der für die dortigen Wahlmaschinen verantwortliche Manager von Einschüchterungsversuchen und Todesdrohungen gegen Wahlhelfer. Einer von ihnen musste sich verstecken, nachdem in einem 34 Sekunden langen Cheapfake-Video gezeigt wurde, wie er angeblich einen Brief-Wahlzettel wegwirft.
Wer in den USA an eine manipulierte Wahl glaubt, hängt stark von der politischen Ausrichtung ab. In einer anschließenden Umfrage gaben 70 Prozent der Republikaner-Anhänger an, sie nicht für "frei und fair" zu halten – bei einer früheren Befragung waren es nur 35 Prozent gewesen. Unter Demokraten-Wählern sagten vor der Wahl nur 52 Prozent, sie werde ihrer Ansicht nach korrekt verlaufen, nach Bidens Sieg stieg dieser Wert auf 90 Prozent.
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Was soll man glauben?
Die zunehmende Bedeutung von visueller Desinformation scheint die Politik auf zweierlei wichtige Weise zu beeinflussen. Erstens ist sie schlicht präsenter, und böswillige Akteure kommen eher durch, weil sie sich ihrer Verantwortung leichter entziehen können. Noch Anfang Januar war der Cheapfake des chinesischen Sprechers auf Twitter zu finden.
Zweitens werden wir anfälliger für Desinformation aller Art. Der Öffentlichkeit ist zunehmend bewusst, dass Medien auf vielerlei Weise manipuliert werden können. Dadurch wird sie ihnen gegenüber skeptischer – selbst wenn Inhalte authentisch sind.
Diese Skepsis macht es einfacher, echte Ereignisse für falsch zu erklären. Zudem könnte sie dazu führen, dass die Realität immer subjektiver und parteipolitischer interpretiert wird. So sind viele republikanische Wähler der Meinung, die Wahl 2020 sei nicht korrekt abgelaufen – das ist belegbar falsch, ändert aber nichts an der öffentlichen Meinung dazu. Und bis ihr Sieg feststand, waren auch Demokraten-Wähler skeptisch. Wenn 2024 wieder die andere Seite gewinnt, wird die Öffentlichkeit dann nach Parteigrenzen umschwenken?
Die dunkelsten Prognosen über politisch motivierte Deepfakes sind 2020 noch nicht eingetreten. Dennoch müssen wir ihre Weiterentwicklung zusammen mit Cheapfakes und anderen Formen politischer Desinformation analysieren – die billigen Fälschungen von heute liefern wertvolles Anschauungsmaterial für die geschickteren von morgen. Die Frage, die sich stellt, lautet also weniger, wann die ersten politischen Deepfakes auftauchen werden. Eher geht es darum, wie wir den vielen Arten, auf die visuelle Desinformation schon heute die politische Realität verändert, entgegenwirken können.
Nina Schick ist die Autorin von "Deepfakes: The Coming Infocalypse" (sma)