USA umwerben Impftouristen

Amerikanische Städte und Staaten mit Corona-Impfstoff-Überschuss verhelfen ausländischen Reisenden zur Immunisierung, um die lokale Wirtschaft anzukurbeln.​

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(Bild: peterschreiber.media/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Eileen Guo
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Wie viele andere Impftouristen möchte auch Alex seinen richtigen Namen nicht preisgeben. Der nach Kenia ausgewanderte Brite kam am 21. Mai mit einem Nachtflug aus Nairobi am New Yorker Flughafen JFK an. Er hoffte, dass ein paar Tage in der Stadt für sein Ziel, eine Dosis des Johnson & Johnson-Impfstoffs zu ergattern, mehr als genug Zeit seien.

Alex hatte wochenlang darüber nachgedacht, wie er sich impfen lassen könnte. Kenia hat nur für etwa ein Prozent seiner Bevölkerung ausreichend Dosen gespendet bekommen. Alex wäre in seiner Heimat Großbritannien zwar impfberechtigt, aber es wäre extrem zeitaufwendig gewesen. Erst eine 14-tägige Quarantäne in einem zugewiesenen Hotel bei der Ankunft, dann Registrierung bei einem örtlichen Hausarzt – und nach seiner Rückkehr nach Kenia eine weitere 14-tägige Quarantäne. Da der nur aus einer Dosis bestehende Impfstoff von Johnson & Johnson in Großbritannien noch nicht zugelassen war, hätte Alex den gesamten Vorgang für die zweite Impfdosis einer anderen Vakzine drei oder vier Monate später wiederholen müssen.

Die USA hatten dagegen keine Quarantänevorschriften und ihr Impfstoffangebot übertrifft seit April die Nachfrage. Nachdem Alex erfahren hatte, dass ein befreundetes britisches Ehepaar sich erfolgreich in Colorado impfen lassen konnte und dass New York City plante, Reisende an beliebten Touristenorten in der Stadt zu impfen, beantragte er ein US-Visum und buchte seinen Flug.

Er fühlte sich dabei nicht gerade toll. Die letzten Jahre in der US-Politik hätten das Land auf seiner Liste der zu besuchenden Orte weit nach unten rutschen lassen. Es macht für ihn keinen Sinn, dass er für einen Impfstoff reisen muss. „Es ist wirklich ein Witz“, sagte er vor seinem Trip. „Ist es wirklich besser, viele Menschen nach New York zu fliegen, als die Impfstoffe von New York dorthin zu fliegen, wo die Impfstoffe benötigt werden?“

Die ersten Berichte über Menschen, die versuchten, das Impfsystem auszutricksen und vor ihrem vorgesehenen Zeitpunkt an die Reihe zu kommen, tauchten fast zeitgleich mit den weltweit ersten Zulassungen für COVID-19-Impfstoffe auf. In Großbritannien zahlten einige mehr als 45000 Euro für einen Luxusimpfurlaub in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Viele Amerikaner reisten einfach in benachbarte Bundesstaaten mit freizügigeren Zulassungskriterien für eine Impfung oder fuhren von wohlhabenderen in ärmere Viertel, und drängelten sich mit Zugangscodes vor, die eigentlich dabei helfen sollten, Menschen aus marginalisierten und stärker von der Krankheit betroffenen Communities zu immunisieren. Das wurde nicht immer Impftourismus genannt, löste aber trotzdem Empörung und Neid aus.

Mit der wachsenden Verbreitung der Impfstoffe in wohlhabenden Ländern hat sich inzwischen aber nicht nur das Profil der Impftouristen verändert, sondern auch die Einstellung der Regierungen. Eine kleine aber zunehmende Anzahl von Orten sieht solche Reisen nicht mehr als Eintragsrisiko, sondern sogar als Möglichkeit, die durch die Pandemie ins Stocken geratene lokale Wirtschaft wiederzubeleben. Das ist auch in New York City der Fall.

Anfang Mai kündigte Bürgermeister Bill de Blasio einen Vorschlag an, Besuchern den Johnson & Johnson-Impfstoff an beliebten Touristenorten wie dem Central Park und dem Times Square anzubieten. „Kommen Sie her, es ist sicher“, sagte er in einer Pressekonferenz. New York sei „ein großartiger Ort“, fügte er hinzu, „und wir werden uns um Sie kümmern. Wir werden dafür sorgen, dass Sie sich impfen lassen können, während Sie bei uns sind.“

Dieser Plan muss noch vom staatlichen Gesundheitsamt genehmigt werden, aber Menschen wie Alex zeigen, dass de Blasios Botschaft an Touristen bereits jetzt funktioniert. Neben New York verlangen derzeit auch 24 weitere US-Bundesstaaten nicht, dass man für eine Impfung seinen Wohnsitz dort haben muss. 25 weitere bieten eine Impfmöglichkeit sowohl für Ansässige als auch Nicht-Ansässige an.

Viele Orte in den Vereinigten Staaten sind inzwischen zu beliebten Zielen für ausländische Impftouristen geworden. Berichten zufolge flogen mexikanische Prominente nach Miami, ein peruanischer Präsidentschaftskandidat ließ sich in Texas impfen und Kanadier suchen in US-Apotheken südlich der Grenze nach Impfstoff. Zwischenzeitlich verlangte zwar der Bundesstaat Florida in Impfzentren aus Sorge darüber, dass ausländische Besucher seine Impfstoffvorräte mitnutzen, einen Wohnsitznachweis. Diese Pflicht wurde aber Ende April wieder aufgehoben. Für EU-Bürger gibt es allerdings noch ein anderes Problem: Touristen aus Europa werden (Stand Ende Mai) immer noch nicht ins Land gelassen, die Biden-Administration hält die Grenzen (wie zuvor schon Trump) dicht.

Andere US-Bundesstaaten und Territorien haben den Impftourismus noch offensichtlicher an ihre Bemühungen zur wirtschaftlichen Erholung geknüpft. Alaska wird Besuchern ab dem 1. Juni bei der Ankunft an vier Flughäfen die Moderna- und Pfizer-Impfstoffe anbieten. Die US-Jungferninseln haben sich zwar nicht ausdrücklich als Reiseziel für Impftourismus vermarktet, aber „es hat viele Vorteile für uns“, sagte Tourismuskommissar Joseph Boschulte im April gegenüber Travel Weekly. „Unsere Wirtschaft profitiert von allen, die mehrere Wochen bleiben, in unseren Restaurants essen, in Hotels übernachten, Boote für Tagesausflüge chartern und einkaufen, während sie auf die zweite Impfung warten. Die Fluggesellschaften bekommen Passagiere, die ein zweites Mal einfliegen, und unsere Besucherzahlen steigen dann auch. Unser Flugbetrieb übertrifft derzeit sowohl jenen vor der Pandemie als auch den vor dem Hurrikan von 2017.“

Allerdings warnt Robert Amler, Dekan der School of Health Science and Practice des New York Medical College, dass das Ermutigen von Einreisen von Orten mit niedrigen Impfraten – und damit potenziell höheren Infektionsraten – in die Vereinigten Staaten schlecht für die öffentliche Gesundheit sein kann. „Jedes Risiko, COVID-Infektionen zu ‚importieren‘, hängt von der Zahl der ankommenden Reisenden und dem Prozentsatz unter diesen ab, die bereits eine COVID-Infektion haben“, sagt Amler, der früher Medizinvorstand der Zentren für Infektionskontrolle und Prävention (CDC) war. „Wir können auch nicht mit Sicherheit die Fähigkeit der Stadt [New York] vorhersagen, ihre Zahlen im Griff zu behalten, wenn die Einreisen übermäßig wachsen.“

Um diese Gefahr zu bekämpfen, treffen einige Impftouristen ihre eigenen Vorkehrungen, um zu vermeiden, dass sie unwissentlich Überträger des Virus werden oder gegenüber anderen Schäden verursachen. So wollten etwa Michael (Name wurde von der Redaktion geändert) und seine Frau aus der ecuadorianischen Hauptstadt Quito sicherstellen, dass sie nicht anderen den Impfstoff wegnehmen. „Unser erster Gedanke war, in einen roten Bundesstaat zu gehen, weil wir wussten, dass dort das Angebot die Nachfrage übersteigt“, erklärt er und meint damit einen republikanisch kontrollierten Bundesstaat (Rot ist hier traditionell die Farbe der Konservativen, Blau steht für die Demokraten).

Das Paar flog Mitte Mai aus Quito für fünf Tage nach New Orleans. Michael erhielt die Johnson & Johnson-Impfung und seine Frau ihre erste Dosis der Biontech-Pfizer-Vakzine. Michaels Familie in Kanada hat die im Januar 2020 geborenen Zwillinge des Paares immer noch nicht kennengelernt. Er schätzt, dass das Paar seine Immunisierung – und damit ihr Familientreffen – um sechs bis neun Monate beschleunigt haben.

Michael betreibt ein Marketingunternehmen in Quito und möchte, dass seine Mitarbeiter die gleichen Möglichkeiten haben wie er. „Ich habe darüber nachgedacht, meinen Mitarbeitern einen Bonus zur Jahresmitte zu geben, damit sie in die Staaten fliegen können, um sich impfen zu lassen, wenn sie wollen“, sagt er. Für diejenigen, die noch keine US-Reisedokumente besitzen, kann das Warten auf einen Visumstermin jedoch länger dauern als das Warten auf einen Impfstoff.

Letztlich sollte es auf die öffentliche Gesundheit ankommen, sagt Amler vom New York Medical College. Reisen für eine Impfung „können für die Personen, die geimpft werden, durchaus wirksam sein“, sagt er. „Der viel effizientere Ansatz besteht jedoch darin, Impfstoffe in andere Länder zu schicken, wo die Bevölkerung in größerer Zahl und ohne die Unannehmlichkeiten, Kosten und ungleichen Auswirkungen persönlicher internationaler Reisen geimpft werden kann.“

Am Samstag nach seiner Ankunft machte sich Alex auf den Weg zum Javits Center, dem gläsernen Konferenzzentrum im Westen Manhattans, das zuerst in ein COVID-Feldkrankenhaus und dann in ein Massenimpfzentrum umgewandelt wurde. Als er dort die Wahl zwischen den Johnson & Johnson- und Biontech-Pfizer-Impfstoffen hatte, hielt er an seinem Plan der Einmalimpfung mit Johnson & Johnson fest. Obwohl er kurz überlegte, unabhängig von der Vakzin-Sorte diese später in Großbritannien um eine weitere Biontech-Pfizer-Dosis zu ergänzen. Ein „Impfstoffbuffet“ sei das, sagte er scherzhaft.

„Es war die beeindruckendste Erfahrung im Gesundheitswesen, die ich je erlebt habe“, sagte er kurz vor seinem Rückflug. Es war effizient, denn er war in weniger als fünf Minuten geimpft, und die Fachkräfte schienen sich aufrichtig dafür einzusetzen, alle Menschen gleich zu behandeln. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, verbrachte Alex den Rest seines Wochenendes damit, durch die Stadt zu radeln, die Restaurants zu genießen und im Freien zu essen. Er mied dabei Bars und Clubs, „obwohl die nach viel Spaß aussahen“, sagte er. „Vielleicht, wenn ich wiederkomme. Sobald der Impfstoff seine volle Wirksamkeit erreicht hat.“

(vsz)