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Umdenken bei Alzheimer

Nike Heinen

Ein Hirnforscher sammelt seit Jahren Indizien dafür, dass die bisherige Erklärung der Alzheimer-Krankheit falsch sein könnte. Seine neue Hypothese ist schlecht für die bisherige Forschung und alle, die gut von ihr leben.

Ein Hirnforscher sammelt seit Jahren Indizien dafür, dass die bisherige Erklärung der Alzheimer-Krankheit falsch sein könnte. Seine neue Hypothese ist schlecht für die bisherige Forschung und alle, die gut von ihr leben.

"Bartzokis? Nie gehört. Wer soll das sein? Und was wollen Sie wissen? Myelin-Hypothese?" Der Heidelberger Professor, eine bekannte Größe der deutschen Alzheimer-Forschung, schwankt am Telefon zwischen Erstaunen und Spott über die Frage. "Nein, im Ernst, ich wüsste nicht, was an der gängigen Hypothese auszusetzen wäre." Dieses Recherchegespräch ist symptomatisch. Sobald der Name George Bartzokis fällt, finden Telefonate in ungewöhnlich süffisantem Tonfall statt oder kommen gar nicht erst zustande.

Der geschmähte Wissenschaftler ist Psychiater am Hirnforschungsinstitut der University of California in Los Angeles (UCLA) und hat 2009 eine neue Theorie zur Entstehung der Alzheimerschen Krankheit vorgestellt. Bartzokis ist überzeugt, dass Generationen von Wissenschaftlern an der falschen Stelle nach Therapiemöglichkeiten gesucht haben: "Wer Alzheimer hat, der hat keine Schwierigkeiten mit Proteinablagerungen im Gehirn. Was ihn krank macht, sind Defekte an der Isolierung der Nervenfortsätze, an den sogenannten Myelinscheiden." Diese Defekte entstünden, weil das Gehirn mit fortschreitendem Alter die Myelinschicht immer schlechter instand halten könne. Abhilfe könnte ausgerechnet eine bessere Versorgung mit Cholesterin schaffen – ein Stoff, der bisher in der Öffentlichkeit eher mit zu hohen Werten im Blut von sich reden machte.

Um seine These zu stützen, hat der Hirnforscher seit 2003 regelmäßig in namhaften Fachmagazinen eigene Gehirnbild-Studien sowie sogenannte Reviews – vergleichende Interpretationen anderer Studien – veröffentlicht. Doch auch nach sieben Jahren will niemand so recht Notiz von ihm nehmen. Erstaunlich, findet der Gehirnforscher, denn die konventionelle Alzheimer-Forschung stecke inzwischen gehörig in der Krise: Die bisherigen Hauptansätze zur medikamentösen Behandlung von Alzheimer haben alle versagt: der Versuch, durch Impfstoffe die Proteinablagerungen aufzulösen ebenso wie der, das Enzym Beta-Sekretase zu hemmen, damit die sogenannten Amyloid-Plaques gar nicht erst entstehen.

"Das Verrückte daran ist, dass eine der Impfungen sogar funktioniert hat, die Ablagerungen sind tatsächlich verschwunden", berichtet Bartzokis. "Nur hat das in vielen Fällen nichts an den Demenzsymptomen der Patienten geändert." Doch weder dieses gewichtige Indiz noch das zweite, das auch nicht so recht ins Bild von den bösen Ablagerungen passt, ließ die anderen Forscher ihre Theorie hinterfragen: Menschen, in deren Gehirn sich nach ihrem Tod Unmengen von Plaques fanden, ohne dass zuvor Alzheimer-Symptome aufgefallen waren. Beide Befunde kamen zwar auf Kongressen zur Sprache, wurden aber als Einzelfälle abgetan.

Kein Wunder: Bartzokis rüttelt an einem weltweit anerkannten und bisher als gesichert geltenden Erklärungsmodell und stellt damit auch die gesamte bisherige Therapie-Entwicklung infrage. Hätte er recht, würde dies bedeuten, dass Milliarden an Forschungsgeldern in den Sand gesetzt wurden. Fest steht: Bartzokis' These würde nicht nur einige rätselhafte Puzzleteile des Krankheitsbildes erklären helfen, sondern auch die Entwicklung von neuen, vielleicht sogar vorbeugend wirkenden Medikamenten ermöglichen. Etwa 50 Milliarden Euro, so viel wie der gesamte Staatshaushalt von Bayern, fließen jährlich in die Alzheimer-Forschung. Neun von zehn unterstützten Laboratorien suchen nach Wegen, den Plaques den Garaus zu machen. Vor allem bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Ablagerungen haben sich die Forscher ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert. Doch als Bartzokis 2003 hochauflösende Bilder der Magnetresonanz-Tomografie (MRT) von 300 Patienten auswertete, kamen ihm erste Zweifel an der Plaque-Theorie.

Er entdeckte, dass die Dicke der Myelinschicht um die Nervenfasern je nach Alter unterschiedlich ist: Bis zum Alter von etwa 45 Jahren werden offenbar nach und nach alle Nervenfasern damit umgeben. Die Myelinschicht isoliert aber nicht nur, sie beschleunigt auch die Signalweiterleitung entlang der Nervenfortsätze. Nach der Hälfte des vierten Lebensjahrzehnts kommt die Myelin-Neubildung dann offenbar zum Stillstand. Von da an, so beobachtete Bartzokis, werden die Isolierschichten dünner und brüchiger. Dieser Verfall war bei 34 Probanden, die an der Alzheimerschen Krankheit litten, sichtbar weiter vorangeschritten als bei den gesunden älteren Probanden.

Im selben Jahr veröffentlichte Bartzokis die Auswertung der Myelinbilder in den "Archives of Neurology". Der Artikel wurde fleißig zitiert, allerdings nur von Forschern, die das Altern verstehen wollen. Eine Reaktion aus der Alzheimer-Forschergemeinde? Fehlanzeige. Dabei waren längst weitere Fragezeichen hinter der Plaque-Theorie aufgetaucht. Viele Neurologen hielten zum Beispiel die Definition von Alois Alzheimer, der das Leiden als Erster beschrieb, nicht mehr für zutreffend. Alzheimer hatte 1906 schwarze und weiße Ablagerungen im augenscheinlich geschrumpften Gehirn einer Patientin gefunden, die bereits mit Mitte 50 an schweren Demenzsymptomen litt, und von der "Krankheit des Vergessens" gesprochen. Doch knapp hundert Jahre später wiesen immer mehr Experten darauf hin, dass den Patienten nicht die Erinnerung an einzelne Fakten, sondern der Sinn für Konzepte verloren gehe: Eingekaufte Eier landen im Badschränkchen, der Schmuck im Kühlschrank. Die Kranken kommen nicht mehr durch die eigene Tür, weil sie nicht wissen, dass Schlüssel in Schlösser gehören. Sie können den Namen ihrer Angehörigen nicht mehr sagen, weil ihnen nicht mehr klar ist, dass man Menschen am Namen unterscheidet.

Würden tatsächlich vereinzelte Nervenzellen durch die Amyloid-Plaques verloren gehen, wie es die Hypothese besagt, müssten die Betroffenen einzelne Begriffe vergessen, argumentierte nun auch Bartzokis. "Aber es schwinden eben zuerst die Zusammenhänge", sagt er. "Auf zellulärer Ebene werden solche Zusammenhänge durch Netzwerke von miteinander verknüpften Nervenzellgruppen gesichert." Das legte die Vermutung nahe, dass viele diese Verknüpfungen bei Alzheimer-Patienten aufgelöst werden. Wie aber hing das mit der dünner werdenden Myelinschicht zusammen? Bartzokis entschloss sich, die Alzheimer-Erkrankung zu seinem Hauptforschungsthema zu machen. Er las sich ein, sammelte Fakten über Proteine und Plaques, über Enzyme und Gene, setzte Puzzleteil um Puzzleteil zusammen – und wunderte sich:

"Überall war dieser begrenzte Blickwinkel. Die Kollegen befassten sich zwar mit den Amyloid-Vorläuferproteinen, aus denen später die Ablagerungen entstehen, aber keiner fragte, wie Alzheimer das Gehirn außerhalb der grauen Zellen verändert." Mit anderen Worten: Was passiert in der auch "weiße Substanz" genannten Myelinschicht?

2004 legte Bartzokis die Ergebnisse einer weiteren MRT-Studie im Fachjournal "Neurobiology of Aging" vor und bestätigte damit die Ergebnisse der ersten Veröffentlichung. Mit seinem nächsten Artikel, der im Fachmagazin "Journal of Alzheimer's Disease" erschien, wandte er sich quasi direkt an die Spezialisten: Er belegte, wie exakt sich der Myelinabbau mit tomografischen Methoden messen lässt, und lieferte erneut Indizien für einen Zusammenhang zwischen den Myelindefekten und dem Auftreten der Erkrankung. Abschließend schlug er das Myelin als neues Therapieziel vor und plädierte für die Entwicklung von Medikamenten, die den Verfall der Isolierschicht und damit den geistigen Abbau bei Alzheimer aufhalten.

Bartzokis glaubte, ein klares Muster zu erkennen: "Der Verfall beginnt dort, wo wir erst ganz am Schluss, in der Mitte unseres Lebens myelinisieren, bei den komplizierteren Dingen, den Zusammenhängen des höheren Intellekts, den theoretischen Konzepten. Und er endet dort, wo wir schon im Mutterleib die ersten Isolierschichten ausgebildet haben, bei den Basisfunktionen, in den motorischen Regionen." Diese Erkenntnis passte viel besser zu den Symptomen der Alzheimer-Krankheit: Die Verhaltensänderungen schreiten nicht zufällig voran, wie es die Theorie von den Amyloid-Müllhalden vermuten lässt. Doch auch auf diese Veröffentlichung gab es kaum Reaktionen. Immer wenn Bartzokis seine These auf Kongressen vorstellte, fragten die anderen Wissenschaftler zwar nach, bemängelten aber, dass die molekularen Grundlagen der Myelin-Hypothese nicht in Tierversuchen untermauert waren.

So war also die Welt der Amyloid-Verfechter immer noch in bester Ordnung, ihre Projekte wurden weiter kräftig mit Forschungsgeldern gefördert – und sie schienen recht zu behalten: 2006 gewannen Forscher um den Geriatrie-Mediziner Clive Holmes aus dem englischen Southampton den Wettlauf um den ersten Alzheimer-Impfstoff. Sie heilten Mäuse, die durch eingepflanzte menschliche Alzheimer-Risiko-Gene erkrankt waren, mit einem Antikörper von ihren Verhaltensstörungen. Die Antikörper markierten die Amyloid-Plaques, sodass sie vom Immunsystem erfolgreich abgebaut wurden. Doch Bartzokis ließ sich nicht beirren und sammelte weiter Indizien für seine Myelin-These. Im gleichen Jahr veröffentlichte er einen Artikel darüber, dass die Dicke der Isolierschicht von einem effektiven Cholesterintransport im Gehirn abhängt.

Myelin enthält große Mengen an Cholesterin, ein Viertel der gesamten Menge im Körper befindet sich im Gehirn. Zum Instandhalten der Myelinschicht ist also ein kontinuierlicher Nachschub an Cholesterin notwendig. Bartzokis erklärte in seinem Artikel, wie eine mutierte Variante des Cholesterin-Transportmoleküls ApoE zum Auftreten der Krankheit führe. Diese Version sei weit weniger effektiv als die anderen Varianten, weil sie nicht so viel Cholesterin "an Bord" nehmen könne. Deshalb verlangsame sich die Myelin-In-standhaltung. Wer also die ineffektivere Genversion in sich trage, so Bartzokis, habe ein größeres Risiko, an Alzheimer zu erkranken.

Im Jahr 2008 begann die Forschergemeinde tatsächlich umzudenken – aber aus einem anderen Grund. Es war das Jahr der großen Enttäuschung für die Plaque-Forscher: Holmes' Impfversuche, diesmal mit menschlichen Alzheimer-Patienten, erwiesen sich als Schlag ins Wasser. Zwar waren sie auf den ersten Blick erfolgreich, weil die Menge der Plaques nach der Impfung tatsächlich deutlich gesunken war. Doch der Zustand der Behandelten hatte sich genauso schnell und stark verschlechtert, wie es ohne Behandlung zu erwarten gewesen wäre. Jetzt schwenkte die Forschergemeinde zumindest auf eine "modifizierte Amyloid-Hypothese" um. Die Plaques galten nach wie vor als Ursache des geistigen Verfalls, aber die Forscher erkoren das Vorläufer-Molekül des Amyloids in den Zellen als neues Therapie-Ziel.

Bartzokis hingegen durchforstete weiter Hunderte von Veröffentlichungen nach Hinweisen auf die Rolle der molekularen Reparaturmechanismen von Myelin – und fand sie in Artikeln über Multiple Sklerose. Bei dieser neurodegenerativen Erkrankung wird die Myelinschicht von Nerven durch Antikörper angegriffen und zerstört. Auch in Artikeln von klassischen Zellbiologen über das Transportsystem in den Nervenzellen wurde er fündig.

2009 war er mit dem Neusortieren der Fakten fertig und präsentierte sein Erklärungsmodell. Es kam erstaunlich rund daher und machte den Eindruck, als hätten die anderen Forscher den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Die Gehirnzellen sterben demnach keineswegs durch die Protein-Plaques, die laut Bartzokis' Erklärungsmodell nur ein an sich harmloses Begleitprodukt des natürlichen Myelin-Reparaturprozesses sind. Die Neuronen sterben, weil während des Reparaturprozesses der Nähr- und Signalstofftransport in den Zellen pausiert. Dauert die Reparatur zu lange, werden die Verbindungen zwischen den Zellen mangels Signalen gekappt, und schließlich sterben die Neuronen mangels Nahrung ab.

Der Forscher wartet noch auf Reaktionen seiner Kollegen und der Pharmaindustrie. "Das braucht eben seine Zeit", weiß auch Bartzokis. Die Forschung an Amyloiden mag ein Irrweg sein, aber finanziell gesehen ist sie ein Supertanker, und den wendet man eben nicht so schnell. "Wer will schon zugeben, dass er Millionen Dollar in den Sand gesetzt hat." Erste Anzeichen für das Wenden hat er allerdings schon ausgemacht. Immerhin hat die Gruppe der gescheiterten englischen Impfforscher bereits bei ihm angefragt.

In aller Stille prüfen inzwischen die ersten Unternehmen ihre Alzheimer-Medikamente, ob sie nicht auch eine schützende Wirkung für die Myelinschicht und für den Erhalt der Nervenzell-Netzwerke haben. Die Schweizer Pharmafirma Novartis testete 2009 ihren Wirkstoff Rivastigmin: Dieser verbessert nach den Ergebnissen einer ersten Studie offenbar nicht nur die Signalübertragung zwischen Neuronen, sondern schützt auch die Myelinscheiden vor Verfall. Produkte der Konkurrenz konnten den Abbau der weißen Substanz indes nicht aufhalten.

Auch der Pharmazie- und Konsumgüterhersteller Johnson & Johnson hat, offenbar bereits 2006 durch Bartzokis' Theorie aufmerksam geworden, sein ursprünglich gegen Schizophrenie entwickeltes Medikament Risperidon geprüft. Tatsächlich verstärken vor allem Gene, die für den Cholesterineinbau in die Isolierschichten wichtig sind, unter Risperidon-Wirkung ihre Aktivität.

Sollte der Psychiater aus Los Angeles tatsächlich recht be- halten, dann gibt es zumindest für die Alzheimer-Patienten der Zukunft jetzt schon eine handfeste Hoffnung – die den Pharmafirmen das Geschäft wieder etwas verhageln könnte: Die cholesterinhaltigen Myelinschichten können laut Bartzokis auch durch einfache Hausmittel effektiv vor dem altersbedingten Verfall bewahrt werden. "Sport treiben und Fischöl essen", versichert er, "das tut den Myelinscheiden gut." (bsc [1])


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