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Von Rocklängen und Wirtschaftskrisen

Joseph Scheppach

Analysten suchen nach neuen Indikatoren, um ökonomische Trends rechtzeitig vorherzusagen – Rocklängen, Baugerüste, Licht oder der "R-Wort-Index". Wie verlässlich sind sie?

Wenn Analysten wissen wollen, wie es mit der Wirtschaft weitergeht, schauen sie immer öfter auf Baugerüste. Ihre These: Sieh nach, wer die tollsten Hochhäuser errichtet, und du weißt, wo die nächste Krise ausbricht. Dass nach Rekordbauten eine Wirtschaftsflaute einsetzte – dieses Muster fand Andrew Lawrence so oft, dass der damalige wissenschaftliche Direktor der britischen Investmentbank Dresdner Kleinwort Wasserstein Benson daraus im Jahr 1999 den "Skyscraper-Index" erstellte.

Er ist nur eines von diversen unkonventionellen Prognose-Instrumenten, auf die Analysten verstärkt zurückgreifen. Laut Investmentbank JP Morgan investiert die Branche pro Jahr rund drei Milliarden Dollar in das Sammeln und Auswerten riesiger Datenpakete, denn die Aussagekraft klassischer Indikatoren wird immer öfter durch "exogene Schocks" erschüttert: die Finanzkrise von 2007/08, der Reaktorunfall von Fukushima oder Terrorattacken. Jede derartige Krise hat Umschichtungen von Milliardenwerten zur Folge, und nur wer sie früh erkennt, kann sich wappnen.

Die Instrumente beobachten unter anderem Röcke, Twitter, Worthäufigkeiten und nächtliches Licht. Jan-Egbert Sturm vom Züricher ifo-Zentrum für Makroökonomik hält originelle Datenquellen für "weitere Mosaikstücke, die helfen, das Konjunkturbild besser einzuschätzen". Lakshman Achuthan hingegen, Direktor des Economic Cycle Research Institute in New York, fürchtet, dass "die Flut von Indizes viele Leute überfordert".

Aber selbst ausgeklügelte Methoden und Modelle können nicht verhindern, dass Prognosen danebenliegen. Wir wollten dennoch wissen: Was verraten die Indizes über 2018?

Höhe der Wolkenkratzer

"In den letzten 100 Jahren fiel der Bau der höchsten Gebäude der Welt in einer unheimlichen Weise zusammen mit den Krisen der Weltwirtschaft", hat Analyst Andrew Lawrence beobachtet. Tatsächlich folgte 1999 der Eröffnung des 508 Meter hohen taiwanesischen Wolkenkratzers Taipei 101 das Platzen der Dotcom-Blase. Und das Richtfest des 828 Meter hohen und eine Milliarde Dollar teuren Burj Khalifa in Dubai 2009 fiel zeitlich mit der Immobilienkrise zusammen.

Zufall? Finanzwissenschaftler Gunter Löffler von der Uni Ulm hat in seinem Paper "Tower Building and Stock Market Returns" erstmals den Zusammenhang zwischen dem Bau neuer Wolkenkratzer in den USA und der Entwicklung der Aktienmärkte zwischen 1871 und 2011 statistisch untersucht. "In den ersten drei Jahren, nachdem der Bau eines Wolkenkratzers mit neuem Höhenrekord begann, sind die Renditen auf den Aktienmärkten im Durchschnitt sieben Prozentpunkte niedriger als zu anderen Zeiten", so Löffler. Wolkenkratzer-Rekorde zeigten eine kommende Baisse demnach exakter an als andere Indikatoren wie etwa Dividendenrenditen.

Der Grund ist Löffler zufolge, dass waghalsige Projekte ein Zeichen für überoptimistische Bauherren und Banker seien. "Dann werden kostspielige Bauwerke geplant, die über Jahre hochgezogen werden. Viele dieser Bauten werden dann aber erst im anschließenden Abschwung fertig." In der Ökonomensprache sind Superwolkenkratzer damit Spätzykliker.

Der nächste Test für die These von Lawrence könnte 2019 erfolgen, bei der ursprünglich für 2018 geplanten Eröffnung des einen Kilometer hohen Jeddah Tower in Saudi-Arabien. Auch er wurde 2013 mitten in einem Bauboom begonnen. Mittlerweile aber führen Finanzierungsengpässe immer wieder zu Verzögerungen; Saudi-Arabien leidet finanziell am Verfall des Ölpreises.

Nicht ins Bild passt allerdings China: Dort entstanden im vergangenen Jahrzehnt die meisten Wolkenkratzer weltweit. Demnach müsste die Wirtschaft längst in einer tiefen Krise stecken. Der Internationale Währungsfonds (IWF) geht aber nach wie vor davon aus, dass sie 2018 um 6,5 Prozent wächst. Während die IWF-Prognose einen guten Ruf genießt, "hat der Wolkenkratzer-Index in der Fachwelt keinen hohen Stellenwert", räumt Löffler ein. "Viele Wissenschaftler halten ihn für exotisch."

Zahl der Baukräne

Auf ähnlicher Basis wie Andrew Lawrence entwickelte die Unternehmensberatung Deloitte ihren Baukran-Index. Teams laufen unter anderem durch London und notieren jeden Kran. "Die Daten", wirbt Deloitte, "eignen sich nicht nur als Barometer für den Immobilienmarkt, sondern für die gesamte britische Wirtschaft". Der jüngste Report hat in London das geringste Neubauvolumen seit 2014 gemessen und leitet daraus keine guten Aussichten für Englands Wirtschaft in 2018 ab. Der Index hat sich in den letzten 21 Jahren so gut bewährt, dass Deloitte nun auch Manchester, Paris und Dublin ins Visier nimmt.

Länge der Rocksäume

Ein Klassiker der skurrilen Indikatoren ist der "Rocksaum-Index", entwickelt 1926 vom US-Ökonom George Taylor. Er soll zeigen, wie viel Vertrauen die Menschen in die Wirtschaft haben. So trugen beispielsweise Anfang der 60er-Jahre, als Deutschland die Früchte des Wirtschaftswunders genoss, Frauen erstmals Miniröcke.

In der Rezession der frühen Neunziger waren die Röcke und Kleider dagegen wadenlang. Abgesehen von seiner leicht sexistischen Sichtweise – funktioniert der Index? "Der Rocksaum korreliert tatsächlich mit der Wirtschaft", sagt Philip Hans Franses von der Rotterdamer Erasmus School of Economics. Der Ökonom hat Rockdaten in den USA von 1921 bis 2009 gesammelt und mit den Konjunkturzyklen verglichen.

Das Ergebnis: In Zeiten des Niedergangs sank der Saum zu Boden, während eines Booms stieg er wieder. "Dabei reagieren Mode und Wirtschaft mit einer Zeitverzögerung von etwa drei Jahren", will Franses herausgefunden haben. "Die 2015er Daten des US Bureau of Economic Analysis deuten für 2018 auf einen Rocksaum-Index der Kategorie 2 hin: Der Rock endet über dem Knie." Das bedeutet: Es gibt eine positive Entwicklung, aber der Aufschwung wird sich in Grenzen halten.

Auch die Meinungsforscher des renommierten Instituts für Demoskopie in Allensbach halten diesen Index nicht für an den Haaren herbeigezogen. In einer Studie stellten sie zwischen 1993 und 1996 "einen verblüffenden Zusammenhang zwischen Wirtschaftskonjunktur und den schwer zu entschlüsselnden Signalen, die uns die Mode gibt" fest. Der Zusammenhang lasse sich rückblickend bis zum Beginn unseres Jahrhunderts verfolgen.

Ebenfalls aus der Textilbereich stammt der "Berufskleidungs-Indikator". "Je stärker Unternehmen wachsen, umso mehr Firmenkleidung muss für die neuen Mitarbeiter gekauft werden", sagt Tanja Croonen, Sprecherin des Modeverbands GermanFashion. Gut für Deutschland: 2017 wurden 25,3 Prozent mehr Berufskleidung eingekauft als im Jahr zuvor. Demnach dürfte die Wirtschaft 2018 brummen.

Stimmung in den Medien

Alternative Daten lassen sich auch für Aktieninvestments nutzen. Das Bonner Start-up Stockpulse etwa wertet die Stimmungslage für Märkte, Währungen und Aktien in sozialen Medien wie Twitter und diversen Börsenforen aus. "Diesen Service können Anleger für Trading- und Investitionsentscheidungen nutzen", sagt Mitgründer Jonas Krauß. In der Vergangenheit hätten häufig Spams und unzutreffende Nachrichten zu falschen Handelssignalen geführt. Diese habe man inzwischen eliminieren können. "Wir haben bei Aktienempfehlungen Trefferquoten von mehr als 80 Prozent über einen Zeitraum von einem Jahr gemessen", behauptet Krauß.

Ein ähnliches Prinzip liegt auch dem "R-Word-Indicator" zugrunde. Er gibt an, wie oft das Wort "recession" in US-Zeitungen auftaucht. In der Vergangenheit wies er so früh auf Rezessionen in den USA hin, dass inzwischen auch deutsche Volkswirte die Idee übernommen haben und Zeitungen nach dem R-Wort durchforsten – mit "sehr überzeugenden Ergebnissen", so Dirk Ulbricht, Direktor des Instituts für Finanzdienstleistungen (iff) in Hamburg. Er untersuchte von 1990 bis 2013 anhand der "Zeit", wie oft 30000 Wortvariationen auftauchen, die im Zusammenhang mit "Rezession" stehen: etwa "schlecht", "Krise", "Angst" und Ähnliches.

"Bei dieser Untersuchung entpuppte sich der deutsche R-Wort-Index als so zuverlässig, dass er den Geschäftsklimaindex des Ifo-Instituts schlägt." Dieses Institut befragt einmal im Monat ungefähr 7000 Unternehmen nach ihrer gegenwärtigen Geschäftslage und ihren Erwartungen für das kommende Halbjahr. Bei der Prognose der Inflationsrate ist der R-Wort-Index zudem schneller als die Schätzungen des Statistischen Bundesamts.

Für 2018 sagt der R-Wort-Index keine Trendwende bei der wirtschaftlichen Entwicklung voraus. Damit liegt er auf einer Linie mit dem Konjunktur-Index des Marktforschungsunternehmens GfK. Er basiert unter anderem auf der Entwicklung des Arbeitsmarkts, des Lohns und des verfügbaren Einkommens. "2018 wird der private Konsum um circa zwei Prozent steigen", sagt GfK-Experte Rolf Bürkel.

Daten von Satelliten

Die Satelliten des US-Unternehmens SpaceKnow überfliegen zweimal pro Woche rund 6000 Industrieareale in China und sammeln dabei insgesamt 2,2 Milliarden Beobachtungspunkte. Aus neuen Fabriken und Straßen lässt sich ein Index der Bautätigkeit erstellen. Auch wird die Lagerhaltung auf Fabrikhöfen gescannt, ebenso die Belegung von Parkplätzen vor Supermärkten und großen Firmen. "Begehrt sind zudem Fotos von Chinas Rohstofflagern", erklärt Markus Heynen vom SpaceKnow Business Development in Deutschland.

"Um den Ölbestand schätzen zu können, messen wir auf Fotos die Schatten an den Innenwänden der Öltanks", so Heynen. "Je kürzer die Schatten, desto höher liegen die beweglichen Decken der Tanks und desto mehr Öl befindet sich in ihnen." Da die offiziellen Zahlen nicht sehr zuverlässig sind, lasse sich die künftige Preisentwicklung durch solche Messungen besser vorhersagen.

Der aus solchen Satellitendaten berechnete Satellite Manufacturing Index (SMI) lässt Rückschlüsse darauf zu, mit welchem Tempo Chinas Wirtschaft wächst. Dabei bewerten Algorithmen die Veränderungen auf einer Skala von 0 bis 100. Notierungen unter 50 Punkten deuten auf einen Rezession hin, Werte über 50 signalisieren Wachstum. Aktuell steht der SMI auf 51,1 Punkten. Die chinesische Wirtschaft läge demnach auf Expansionskurs. Diese Daten können SpaceKnow-Kunden dann mit den offiziellen staatlichen Angaben vergleichen. "Eine Vorhersage zum Wirtschaftswachstum überlassen wir unseren Kunden, etwa Hedgefonds. Sie rufen die Daten ab und ziehen daraus entsprechende Schlüsse", so Heynen.

Dass die Interpretation von Satellitenbildern genauso zuverlässig sein kann wie offizielle Statistiken, zeigt auch SpaceKnows Analyse nächtlicher Lichtquellen. Je heller eine Region erleuchtet ist, so die Idee dahinter, desto aktiver ist ihre Wirtschaft. Die Lichter lassen sich zudem deutlich schneller auswerten als komplexe Wirtschaftszahlen. In 33 afrikanischen Ländern erwies sich die Methode bereits als zuverlässig. So hat SpaceKnow im Mai 2016 anhand der Lichter das Bruttosozialprodukt von Nigeria bestimmt. Die offiziellen Zahlen folgten erst ein halbes Jahr später – und kamen zum gleichen Ergebnis.

Eine Studie von Jaqueson Galimberti von der Züricher Konjunkturforschungsstelle KOF hat sogar festgestellt, dass der Nachtlicht-Index nicht nur schneller, sondern auch genauer sein kann als offizielle Schätzungen. Er hat zwischen 1996 und 2014 den Nachtlicht-Faktor von insgesamt 127 Ländern untersucht. In Ruanda etwa rechneten Behörden für 2017 mit einem Wachstum von 3,2 Prozent. Die Lichtanalyse kam auf vier Prozent – und behielt damit recht. Die Prognosen für 2018 werden erst nach Redaktionsschluss erstellt.

Transporte auf den Weltmeeren

Lange galt der Baltic Dry Index als verlässlicher Frühindikator für die weltweite Industrienachfrage. Er bildet die Frachtraten für den Schiffstransport von Rohstoffen ab, darunter Eisenerz, Kokskohle und Getreide. Die These: Steigt der Preis für Transporte, wird der Welthandel anziehen. Sinken die Raten, droht ein Abschwung.

Doch dann schwand das Vertrauen: Als es 2012 auf den Weltmeeren ein Überangebot an Frachtraum gab, brach der Baltic Dry Index um 60 Prozent ein. Tatsächlich aber wuchs die Weltwirtschaft 2012 und 2013 um jeweils 3,4 Prozent. Nun aber sind die Überkapazitäten abgebaut, und das Barometer scheint wieder zu funktionieren. Ein Beleg: Er korreliert mit dem MSCI World Index, der einen ganz anderen Wirtschaftsfaktor abbildet: die Aktienmärkte der wichtigsten Industrienationen. (bsc [1])


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