WM-Sicherheit: Google Earth als Zielfernrohr
Das Programm Google Earth liefert exakte Koordinaten der deutschen WM-Stadien. Terroristische Gruppen, die in Besitz von Kurzstreckenraketen sind, könnten diese als Zielvorgabe nutzen, urteilt ein Sicherheitsexperte.
- Niels Boeing
Um bei der diesjährigen Fußball-WM die größtmögliche Sicherheit für Mannschaften und Besucher aus aller Welt zu bieten, hat die Bundesregierung ein umfangreiches nationales Sicherheitsprogramm aufgelegt. So werden etwa 200.000 WM-Mitarbeiter im Vorfeld von Verfassungsschutz und Landeskriminalämtern auf mögliche Unstimmigkeiten im Lebenslauf gecheckt. Ein bislang offenbar nicht beachteter Risikofaktor findet sich allerdings im Internet: Wer im Programm Google Earth beispielsweise die Hamburger AOL-Arena – eines von zwölf WM-Stadien – heranzoomt, findet unten links die exakten Koordinaten der Spielstätte eingeblendet.
Für Klaus Dieter Matschke, Chef der Frankfurter Sicherberatung KDM, sind dies frei Haus gelieferte Zielkoordinaten für jede terroristische Gruppe, die sich in den Besitz von Kurzstreckenraketen gebracht hat, – ohne den Aufwand und die Gefahr, sich vor Ort per GPS-Empfänger oder anderweitig die Daten zu besorgen. Matschke kennt das Sicherheitsgeschäft seit Langem: Er war 1972 bei den Olympischen Spielen in München selbst mit Sicherheitsaufgaben betraut und beschäftigt unter anderem ehemalige Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes, des Verfassungschutzes und des Bundesnachrichtendienstes. Sein Urteil: „Solange Google Earth in dieser Form online ist, gibt es ein Sicherheitsrisiko.“
Google Earth liefert seit Sommer 2005 Satellitenbilder und Luftaufnahmen in einem eigenen Programm, auf denen sich jeder Nutzer bis auf einzelne Gebäude heranzoomen kann. Aber anders als bei Online-Kartendiensten wie Mapquest oder Maporama werden hier Längen- und Breitengrad eines Ortes nicht nur in Grad und Bogenminuten, sondern bis auf Bruchteile von Bogensekunden angegeben. Eine Bogenminute entspricht in Hamburg einer Auflösung von rund 1.115 Metern, eine Bogensekunde hingegen 18,6 Metern.
Auch in öffentlich zugänglichen Registern liegen derart detaillierte Ortskoordinaten nicht vor. „Beim Bundesamt für Kartographie und Geodäsie kann man die Angaben für Stadtmittelpunkte bekommen, aber nicht für einzelne Gebäude“, sagt Reinhard Zölitz-Möller, Professor für Geographie an der Universität Greifswald.
Das Problem an der Koordinatenauflösung ist, dass auf dem internationalen Waffenschwarzmarkt auch Kurzstreckenraketen kursieren, deren Zielgenauigkeit mindestens 300, möglicherweise gar 50 Meter beträgt. „Wir wissen, dass im Zuge der Auflösung der Sowjetunion einige Raketen aus deren Beständen verschwunden sind“, sagt Matschke. Im Juni 2004 berichtete etwa das Fachblatt Jane’s Defense Weekly, dass in der Ukraine im Zuge der Verschrottung von 1.942 SS-185-Raketen drei Viertel verschwunden seien. „Wir können sie nicht finden“, zitierte das Blatt den damaligen Verteidigungsminister Yevhen Marchuk. „Es gibt viele Raketen da draußen, nicht zuletzt auch, weil die USA während des Afghanistan-Krieges der Sowjetunion die dortigen Aufständischen belieferten“, bestätigt Ian Prichard von der britischen Campaign Against Arms Trade.
Da Kurzstreckenraketen Reichweiten von bis zu 300 Kilometern haben, könnten seegestützte Raketen von Nord- oder Ostsee aus zumindest die WM-Stadien in Gelsenkirchen, Dortmund, Hannover, Hamburg und Berlin erreichen. Das mag nach der üblichen Paranoia von Sicherheitsfanatikern klingen. Wie aber das Online-Magazin „The InsideDefense“ im Januar berichtete, hat der US-Kongress eine 10-Millionen-Dollar-Studie in Auftrag gegeben, die die Möglichkeit eines verdeckten Raketenangriffs von Handelsschiffen auf Küstenstädte der USA untersuchen soll. Auf den Weltmeeren sind derzeit knapp 200.000 Handelssschiffe registriert. Bereits im August 2005 hatte UPI von einem Test der amerikanischen Raketenabwehr-Behörde MDA berichtet: „Wir starteten eine Scud-Rakete von einer Ozeanplattform“, zitierte UPI Generalleutnant Henry Obering, Chef der MDA, „es war sehr einfach zu bewerkstelligen.“ Der notorisch misstrauische US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld warnte bereits 2004 vor der Möglichkeit solcher Anschläge.
Ob derartige Szenarien bei den Sicherheitsverantwortlichen der WM als realistisch in Betracht gezogen werden, ist unklar. Im Bundesministerium des Innern will man zu Szenarien keine genaueren Auskünfte erteilen. Sicher ist, dass wie schon bei den Olympischen Spielen vor zwei Jahren in Athen die Nato Awacs-Aufklärungsflugzeuge bereitstellen wird. Dass Google Earth den Sicherheitsbehörden in aller Welt allerdings Kopfzerbrechen bereitet, ist seit Längerem bekannnt. Erst vor drei Tagen hatte Spiegel Online berichtet, dass das indische Militär unglücklich darüber sei, dass auf den Satellitenbildern „sensible und strategische Bereiche“ in Indien gestochen scharf zu erkennen seien.
Während noch beim Online-Dienst Google Maps auf den US-Karten militärische Bereiche oder das Kapitol in Washington maskiert sind, ist dies bei Google Earth nicht mehr der Fall. Ob die jeweiligen Koordinaten für derartige US-Objekte stimmen, ist nicht bekannt. Stefan Keuchel, Pressesprecher von Google Deutschland, bestätigt aber für die deutschen Luftbilder, „dass die Koordinaten der WM-Stadien exakt sind“. Dass Google Earth terroristischen Gruppen in die Hände spielen könnte, wehrt Keuchel jedoch ab. Die entsprechenden Daten und Bilder seien seit Jahren zugänglich, etwa über Nasa-Datenbanken. Zumindest für Deutschland dürfte das in dieser Exaktheit wohl nicht stimmen.
Klar ist aber, dass Google nicht für Versäumnisse in der internationalen Sicherheitspolitik verantwortlich gemacht werden kann. Nicht nur verfügen so genannte Schurkenstaaten wie Iran oder Nordkorea über russische Scud-Raketen (Reichweite etwa 300 Kilometer), bekannt ist auch, dass einige Staaten längst ihre zuvor eingekaufte militärische Raketentechnologie eigenständig weiterentwickeln. Zudem hatte Middle East Online schon 2004 berichtet, dass der Iran über Kurzstreckenraketen verfüge, die verdeckt auf Handelsschiffen stationiert seien. Der einzige Trost: Schon vor den Olympischen Spielen in Athen war die Aufregung um mögliche terroristische Anschläge gewaltig – passiert ist am Ende nichts. (nbo)