Warum die große Gehirn-Simulation zum Scheitern verurteilt sein könnte

Vor einer Dekade begannen Wissenschaftler mit viel Aufwand, das menschliche Gehirn zu kartieren. Doch das funktionierte nicht: Das Organ ist zu komplex.

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(Bild: Andrea Daquino)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Emily Mullin
Inhaltsverzeichnis

Im September 2011 traf sich eine Gruppe aus Neurowissenschaftlern und Nanowissenschaftlern auf einem malerischen englischen Anwesen zu einem Symposium, um Wissen aus ihren beiden Fachgebieten zusammenzuführen.

Der Neurobiologe Rafael Yuste von der Columbia University und der Genetiker George Church von der Harvard University stellten ein Proposal vor, der nicht gerade bescheiden klang: Sie wollten die Aktivität des gesamten menschlichen Gehirns bis ins Detail kartieren – das heißt, bis hin zur Beschreibung einzelner Neuronen und deren Schaltkreisen. Mit diesem Wissen sollten Hirnkrankheiten wie Alzheimer, Autismus, Schizophrenie, Depression und traumatischen Hirnverletzungen besser behandelt werden können. Und es sollte helfen, eine der großen Fragen der Wissenschaft zu beantworten: Was passiert im Gehirn, damit ein Bewusstsein entsteht?

In der Zeitschrift Neuron beschreiben Yuste, Chruch und ihre Kollegen ihr ehrgeiziges "Brain Activity Map Project" als "ein groß angelegtes, internationales, öffentliches Projekt, das darauf abzielt, die gesamte neuronale Aktivität zu erfassen und neuronale Schaltkreise komplett zu rekonstruieren". Wie das Humangenomprojekt ein Jahrzehnt zuvor würde das Gehirnprojekt zu "völlig neuen Arbeitsfeldern und kommerziellen Unternehmen" führen, schrieben sie.

Um dieses Ziel zu erreichen, würden neue Technologien benötigt, und genau hier kamen die Nanowissenschaftler ins Spiel. Damals konnten die Forscher die Aktivität von nur ein paar hundert Neuronen auf einmal aufzeichnen – aber bei rund 86 Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn war das so, als würde man "ein Pixel nach dem anderen im Fernsehen sehen", erinnerte sich Yuste 2017. Die Forscher wollten Möglichkeiten entwickeln, um "jedes einzelne Aktionspotential (Spike) von jedem Neuron" zu messen, um zu verstehen, wie durch das Feuern dieser Neuronen komplexe Gedanken entstehen.

Der kühne Vorschlag faszinierte die Obama-Regierung und sorgte 2013 für die Gründung der BRAIN-Initiative (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies). Präsident Obama nannte sie das "nächste große amerikanische Projekt".

Aber es war nicht das erste ambitionierte Gehirnforschungsprojekt. Einige Jahre zuvor hatte sich Henry Markram, Neurowissenschaftler an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne in der Schweiz, ein noch ehrgeizigeres Ziel gesetzt: eine Computersimulation eines lebenden menschlichen Gehirns zu erstellen. Markram wollte ein vollständig digitales, dreidimensionales Modell entwickeln, das jede einzelne Zelle darstellt, und die zahlreichen Verbindungen dieser Zellen nachzeichnen. "Wir können das innerhalb von 10 Jahren schaffen", verkündete er 2009 bei einem Vortrag auf einer der jährlich stattfindenden TED-Innovations-Konferenzen.

Im Januar 2013, wenige Monate vor der Ankündigung des amerikanischen Projekts, gewährte die EU Markram 1,3 Milliarden Dollar für den Bau seines Gehirnmodells. Die Projekte in den USA und der EU lösten ähnliche aufwändige Forschungsprojekte in Ländern wie Japan, Australien, Kanada, China, Südkorea und Israel aus. Eine neue Ära der Neurowissenschaften war angebrochen.

Ein Jahrzehnt später, 2023, wird das US-Projekt auslaufen, und auch das EU-Projekt zum Aufbau eines digitalen Gehirns steht kurz vor dem Abschluss. Wie ist es gelaufen? Haben wir begonnen, die Geheimnisse des menschlichen Gehirns zu entschlüsseln? Oder sind wir ein Jahrzehnt lang mit einem Millionendollar-Aufwand einer Vision hinterhergejagt, die so schwer zu fassen ist wie seit jeher?

Bei beiden Projekten mangelte es von Anfang an nicht an Kritik. EU-Wissenschaftler befürchteten, dass das kostenaufwändige Markram-Projekt andere neurowissenschaftliche Forschungen verdrängen würde. Und selbst auf der ursprünglichen Tagung von 2011, auf der Yuste und Church ihre ehrgeizige Vision vorstellten, argumentierten viele ihrer Kollegen, dass es einfach nicht möglich sei, die komplexen Aktivitäten von Milliarden menschlicher Neuronen zu kartieren. Andere sagten, es sei zwar machbar, würde aber zu viel Geld kosten und mehr Daten erzeugen, als die Forscher verarbeiten könnten.

In einem scharf formulierten Artikel in der Zeitschrift Scientific American warnte Partha Mitra, ein Neurowissenschaftler am Cold Spring Harbor Laboratory, 2013 vor dem "irrationalen Überschwang", der hinter der Brain Activity Map stehe, und stellte den Sinn des Projektes in Frage.

Selbst wenn es möglich wäre, alle Spikes aller Neuronen auf einmal aufzuzeichnen, so argumentierte er, existiere ein Gehirn nicht isoliert: Um alles richtig zu verbinden, müsse man gleichzeitig externe Reize, denen das Gehirn ausgesetzt sei, sowie das Verhalten des Organismus erfassen. Man müsse, so argumentierte er, das Gehirn zunächst auf makroskopischer Ebene verstehen lernen, bevor man versuchen solle zu entschlüsseln, was das Feuern der einzelnen Neuronen bedeutet.

Andere hatten Bedenken, dass die Forschung in diesen Bereichen zu sehr zentralisiert würde. Cornelia Bargmann, eine Neurowissenschaftlerin an der Rockefeller University, befürchtete, dass von einzelnen Wissenschaftlern betriebene Forschung zu sehr an den Rand gedrängt würde. (Bargmann wurde bald darauf zur Co-Leiterin der Arbeitsgruppe der BRAIN-Initiative ernannt.)

Während die US-Initiative auf den Input der einzelnen Wissenschaftler setzte, um die Richtung festzulegen, war das EU-Projekt mit Markram an der Spitze deutlich stärker von oben nach unten ausgerichtet. Doch wie Noah Hutton in seinem Film "In Silico" aus dem Jahr 2020 dokumentiert, zerschlugen sich Markrams große Pläne bald. Als Student der Neurowissenschaften las Hutton die Markrams Arbeiten und war von dessen Idee, das menschliche Gehirn zu simulieren, beeindruckt. So beschloss er, das Projekt in einem Film zu dokumentieren. Er erkannte jedoch bald, dass sich das milliardenschwere Unternehmen eher durch interne Streitigkeiten und wechselnde Zielsetzungen auszeichnete als durch bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse.

"In Silico" zeigt Markram als charismatische Führungspersönlichkeit, die kühne Behauptungen über die Zukunft der Neurowissenschaften aufstellen musste, um Mittel für die Verwirklichung seiner Vision zu erhalten. Das Projekt wurde jedoch von Anfang an durch ein großes Problem behindert: Es gibt keine einheitliche Theorie über die Funktionsweise des Gehirns, und nicht alle Fachleute waren sich einig, dass der Bau eines simulierten Gehirns der beste Weg sei, es zu untersuchen. Es dauerte nicht lange, bis diese Differenzen im Rahmen des EU-Projekts zu Tage traten.

Im Jahr 2014 verfassten Hunderte von Experten aus ganz Europa einen Brief, in dem sie Bedenken hinsichtlich der Kontrolle, der Finanzierung und der Transparenz des "Human Brain Project" äußerten. Die Wissenschaftler waren der Ansicht, dass Markrams Ziel verfrüht und zu eng gefasst war und Forscher, die andere Wege zur Erforschung des Gehirns beschreiten wollen, von der Finanzierung ausschließen würde.

"Was mir auffiel, war, dass, wenn es ihm gelang und das simulierte Gehirn funktionierte, was hat man dann gelernt?", sagte Terry Sejnowski, ein Computational Neuroscientist am Salk Institute, der im Beratungsausschuss der BRAIN-Initiative mitwirkte. "Die Simulation ist genauso kompliziert wie das Gehirn."

Das Projekt konzentriert sich nun auf die Bereitstellung einer neuen computergestützten Forschungsinfrastruktur, die Neurowissenschaftlern dabei helfen soll, große Datenmengen zu speichern, zu verarbeiten und zu analysieren – die unsystematische Datenerfassung war ein Problem in diesem Bereich – sowie 3D-Gehirnatlanten und Software für die Erstellung von Simulationen zu entwickeln.

Die BRAIN-Initiative in den USA hat sich unterdessen selbst verändert. Schon früh, im Jahr 2014, reagierte sie auf die Bedenken von Wissenschaftlern und erkannte die Grenzen des Möglichen an. Sie wurde pragmatischer und konzentrierte sich auf die Entwicklung von Technologien zur Untersuchung des Gehirns.

Diese Veränderungen haben schließlich zu ersten Ergebnissen geführt – auch wenn es nicht die waren, die sich die Gründer der großen Gehirnprojekte ursprünglich vorgestellt hatten. Letztes Jahr veröffentlichte das Human Brain Project eine digitale 3D-Karte, die verschiedene Aspekte der menschlichen Gehirnorganisation auf Millimeter- und Mikrometer-Ebene zusammenfasst. Es ist quasi ein Google Earth für das Gehirn.

Und Anfang dieses Jahres berichteten Alipasha Vaziri, ein von der BRAIN-Initiative geförderter Neurowissenschaftler, und sein Team an der Rockefeller University in einer Vorabveröffentlichung, dass sie die Aktivität von mehr als einer Million Neuronen im Kortex der Maus gleichzeitig aufgezeichnet haben. Es handelt sich um die bisher umfangreichste Aufzeichnung der kortikalen Aktivität bei Tieren, auch wenn sie weit davon entfernt ist, alle 86 Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn zu erfassen, wie es die ursprüngliche Brain Activity Map erhoffte.

Auch bei der Entwicklung neuer Instrumente zur Erforschung des Gehirns haben die USA einige Fortschritte erzielt: so etwa eine schnellere Entwicklung der Optogenetik, eines Ansatzes, bei dem Neuronen durch Licht gesteuert werden. Ihre Finanzierung hat zu neuen Siliziumelektroden mit hoher Dichte geführt, die Hunderte von Neuronen gleichzeitig aufzeichnen können. Zudem hat die US-Forschung wohl auch die Entwicklung der Einzelzellsequenzierung beschleunigt. Derzeit werden diese Fortschritte genutzt, um eine detaillierte Klassifizierung der Zelltypen im motorischen Kortex von Maus und Mensch zu veröffentlichen – das bisher größte Einzelergebnis der BRAIN-Initiative.

Dies sind zwar alles wichtige Schritte nach vorn, aber sie sind weit von den ursprünglichen großen Zielen entfernt.

Aktuell läuft die letzte Phase dieser Projekte – die EU-Initiative wird 2023 abgeschlossen, während die US-Initiative voraussichtlich bis 2026 finanziert wird. Was in den nächsten Jahren geschieht, wird darüber entscheiden, wie groß die Auswirkungen auf die Neurowissenschaften sein werden.

Katrin Amunts, Neurowissenschaftlerin an der Universität Düsseldorf, die seit 2016 die wissenschaftliche Leitung des Human Brain Project innehat, sagt, dass Markrams Traum, das menschliche Gehirn zu simulieren, zwar noch nicht in Erfüllung gegangen ist, aber immer näher rückt. "Wir werden die letzten drei Jahre nutzen, um solche Simulationen zu realisieren", sagt sie. Aber es wird kein großes, einzelnes Modell sein, sondern es werden mehrere Simulationsansätze benötigt, um das Gehirn in seiner ganzen Komplexität zu verstehen.

In der Zwischenzeit hat die BRAIN-Initiative bisher mehr als 900 Zuschüsse an Forscherinnen und Forscher vergeben, die sich auf insgesamt rund 2 Milliarden Dollar belaufen. Die National Institutes of Health werden voraussichtlich fast 6 Milliarden Dollar für das Projekt ausgeben, wenn es abgeschlossen ist.

In der letzten Phase der BRAIN-Initiative werden die Wissenschaftler versuchen zu verstehen, wie die Schaltkreise des Gehirns funktionieren, indem sie die miteinander verbundenen Neuronen grafisch darstellen. Doch die Ansprüche an das, was erreicht werden kann, sind weitaus zurückhaltender als in den Anfangstagen des Projekts. Den Forschern ist inzwischen klar, dass das Verständnis des Gehirns eine fortwährende Aufgabe sein wird – es ist nichts, was bis zum Ablauf der Frist eines Projekts abgeschlossen werden kann, selbst wenn dieses Projekt seine spezifischen Ziele erreicht.

"Bei einem brandneuen Werkzeug oder einem fabelhaften neuen Mikroskop weiß man, wenn man es geschafft hat. Wenn es darum geht, zu verstehen, wie ein Teil des Gehirns funktioniert oder wie das Gehirn eine Aufgabe tatsächlich ausführt, ist es viel schwieriger zu wissen, was Erfolg ist", sagt Eve Marder, Neurowissenschaftlerin an der Brandeis University. "Und der Erfolg einer Person ist für eine andere Person nur der Anfang der Geschichte".

Yuste und seine Kollegen hatten Recht, dass neue Instrumente und Techniken erforderlich sind, um das Gehirn auf aussagekräftigere Weise zu untersuchen. Jetzt müssen die Wissenschaftler herausfinden, wie sie diese einsetzen können. Doch anstatt die Frage nach dem Bewusstsein zu beantworten, hat die Entwicklung dieser Methoden, wenn überhaupt, nur weitere Fragen über das Gehirn aufgeworfen – und gezeigt, wie komplex es ist. "Ich muss ehrlich sein", sagt Yuste. "Wir hatten uns mehr erhofft."

(jle)