Warum nicht nur die reichsten Länder Covid-19-Impfstoffe brauchen

Die Welt ist so vernetzt, dass die Bevorratung mit Impfstoffen die reichen Volkswirtschaften nicht vor den finanziellen Auswirkungen des Virus schützen wird.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 48 Kommentare lesen

(Bild: FabrikaSimf/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Lindsay Muscato

Die weltweite Lieferung von Impfstoffen ist voller Engpässe und Probleme, aber nicht jedes Land steht vor den gleichen Herausforderungen. Ärmere Länder erhalten nämlich so gut wie keine Impfdosen. Diese Ungleichheiten auszugleichen, um sicherzustellen, dass auch sie in das Immunisierungsrennen miteinbezogen werden, wäre nicht nur ethisch richtig, sondern auch für die reichen Länder gut.

Eine neue Studie des National Bureau of Economic Research zeigt, dass die gesamte Weltwirtschaft davon abhängt, dass ärmere Länder ihre Bewohner impfen lassen können. Sonst werden die reichen Volkswirtschaften auch dann immer noch 49 Prozent der Pandemiekosten tragen, wenn ihre eigene Bevölkerung vollständig geimpft ist.

Mit einem neuen Staatschef im Weißen Haus gibt es Anzeichen dafür, dass die USA ihren Beitrag leisten werden. Die Regierung von Präsident Biden hat angekündigt, sich Covax anzuschließen, der weltweiten Covid-19-Impfmaßnahme der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie soll im Februar die ersten Impfstoffchargen in ärmere Länder bringen. Um mehr über die globale Ungleichheit bei Impfstoffen zu erfahren, sprach Technology Review mit Anita Ho, Associate Professor für Bioethik und Forschung im Gesundheitswesen an der University of British Columbia und der University of California in San Francisco.

Technology Review: Was bedeutet der Covax-Beitritt der USA? Könnte er eine grundlegende Veränderung für die globale Ungleichheit der Impfstoffe bedeuten?

Anita Ho: Schon aus symbolischer Sicht ist es sehr wichtig, dass sich die USA wieder den Bemühungen der WHO und Covax anschließen. Es ist auch aus finanziellen Gründen wichtig, da Covax Geld für Nachschub benötigt. Ganz abgesehen von den Impfstoffen brauchen wir auch Geld für Personal und Schutzausrüstung, für Glasviolen, Spritzen und Nadeln – einfach für alles. Die USA können also eine Führungsrolle übernehmen und mehr finanzielle Sicherheit bieten.

Was sind die größten Ungleichheiten in der weltweiten Impfstoffverteilung?

Die Frage dabei ist weniger, ob wir bereit sind, Impfstoffe zu spenden, sondern eher, ob wir die Infrastruktur haben, um die Impfstoffe überhaupt zu lagern und zu transportieren? Die wichtigsten in den USA zugelassenen Impfstoffe – etwa der von BionTech und Pfizer sowie der von Moderna - müssen sehr kalt gelagert werden [bei minus 80 Grad, Anmerkung der Redaktion]. Das ist in einigen Regionen der Welt mit begrenzter Stromversorgung einfach nicht machbar.

Einer der größten Gründe für die Ungleichheit ist zudem, dass wohlhabendere Nationen Impfstoffe bei Herstellern vorbestellen und nicht nur den größten Teil des Angebots aufkaufen, sondern sogar den potenziell möglichen Nachschub. Selbst wenn also die Hersteller die Produktion erhöhen, geht das nicht in diese ärmeren Länder – es sei denn, Covax kann sie kaufen.

Es gibt auch in reichen Ländern ungleiche Zugangsmöglichkeiten zu den Impfstoffen. Wie kommt es dazu?

Überlegen Sie, wie Menschen benachrichtigt werden, dass sie an der Reihe sind, geimpft zu werden: In den USA erhält man die Nachricht auf dem Smartphone oder per E-Mail, oder wenn man einen Hausarzt hat. Wenn Sie aber keine Papiere haben oder obdachlos sind, haben Sie möglicherweise keinen Zugriff auf diese Informationen und wüssten nicht einmal davon.

Zudem bestehen die Impfstoffe von Pfizer, Moderna und AstraZeneca aus jeweils zwei Dosen. Wir müssen also Personen zweimal erreichen. Das ist bei obdachlosen Menschen oder jenen, die keine Hady haben, schwierig. Für Menschen in abgelegenen Gebieten oder an Orten ohne einfachen Zugang zu Apotheken – also oft in ärmeren Gegenden – ist es auch schwer, zweimal zu reisen. Eine Möglichkeit zur Förderung der Impfgerechtigkeit besteht deshalb darin, Reserveimpfstoffe mit nur einer Dosis für diese Gruppen zu haben. Johnson & Johnson entwickelt einen solchen Impfstoff.

Eine andere Ungleichverteilung rührt daher, dass viele Menschen den Impfstoff nicht annehmen, selbst wenn sie ihn angeboten bekommen. Das liegt zum Teil am Misstrauen, das unter Latino- und Schwarzamerikanern teilweise aufgrund historischer Misshandlungen weitaus verbreiteter ist.

Wie beeinflusst Misstrauen die globale Impfungleichheit?

Das globale Misstrauen liegt teilweise an der Preisgestaltung und den Patenten der Pharmaindustrie. Einige Länder denken: "Diese Unternehmen aus den USA oder Europa versuchen, uns ihre teuren Impfstoffe zu verkaufen. Aber wir können sie uns für unsere Bevölkerung überhaupt nicht leisten, weil sie patentiert sind und wir keine generische Version herstellen dürfen."

Und es gab sicherlich Beispiele für Länder mit niedrigerem Einkommen, die von der Pharmaindustrie ausgebeutet wurden. In Indonesien geschah dies beispielsweise während der Vogelgrippe. Wenn es zu einem Ausbruch kommt und Sie ein WHO-Mitglied sind, senden Sie Proben an ein WHO-Labor und sie versuchen, sich über dieses bestimmte Virus oder diese bestimmte Krankheit zu informieren. Basierend auf genetischem Material aus Indonesien entwickelten Wissenschaftler Therapeutika für H5N1 und versuchten, diese an Indonesien zurückzuverkaufen. Da dachte Indonesien: "Okay, das waren doch unsere Proben. Hätte es hier nicht eine Zusammenarbeit geben sollen? Sie benutzen sie, um uns Medikamente zurück zu verkaufen."

Neue Forschungsergebnisse besagen, dass wenn arme Länder keine Impfstoffe erhalten, das die Wirtschaft für alle aushebeln wird.

Auf der persönlichen Ebene werden die Menschen in den ärmsten Ländern stärker leiden. Aber eine ungleiche Impfstoffzuweisung würde definitiv die Lieferketten für alle stören, einschließlich – und vielleicht sogar besonders – die der reichsten Nationen, die von billigen Arbeitskräften abhängig geworden sind. Wenn in den Versorgungsnationen viele Menschen krank sind oder stillgelegt werden müssen, gibt es keine Arbeiter, die die Rohstoffe verarbeiten oder transportieren oder die Produkte herstellen und liefern können.

Dies würde auch in einem Land mit hohem Einkommen gelten. Wenn Arbeiter ohne Papiere, Landarbeiter, Obdachlose und andere Niedriglohnjobs nicht geimpft werden können, können sie die Lieferketten nicht am Laufen halten. Dann würden sich etwa auch auf Restaurants und die Unterhaltungsindustrie auswirken. Und wenn Sie Ihre Miete oder Hypothek nicht bezahlen können oder kein zusätzliches Geld haben, wirkt sich auch das auf die übrige Wirtschaft aus. (vsz)