Web 2.0 Summit: Alles im grünen Bereich

Rechtzeitig zur Obama-Wahl und der drohenden weltweiten Rezession verwandelt sich die Gründerszene im Silicon Valley in eine Plattform zur Weltverbesserung.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Steffan Heuer
Inhaltsverzeichnis

Nach vier fetten Jahren überschwänglicher Gründereuphorie übte sich der diesjährige Gipfel der Web 2.0-Szene, die Web 2.0 Summit in San Francisco, in sozialverträglicher Bescheidenheit. Drei Tage lang mischten Unternehmer, Risikokapitalisten und Öko-Visionäre Durchhalteparolen für die kommende Rezession mit Aufrufen an das Gewissen der Technologie-Szene, das Mitmach-Web als Plattform für den Wandel zu einer besseren Welt und einem Neustart in den USA nach den Bush-Jahren einzusetzen.

Der ehemalige US-Vizepräsident Al Gore und Mitbegründer des interaktiven Kabelsenders current.tv zog gar eine klare Verbindungslinie zwischen dem revolutionären Gründungsanspruch des Landes und der Entstehung des Internet. Überstrahlt wurden die Diskussionsrunden um mehr technisch gestützten Wandel vom durchschlagenden Wahlerfolg Barack Obamas. Er setzte als erster Kandidat Web 2.0-Werkzeuge von Twitter bis Facebook virtuos ein, um Millionen vor allem junger Spender und Wähler zu erreichen. Selbst die Vorbereitung zur Amtsübernahme wird durch die neue Webseite "change.gov" begleitet.

Die seit 2004 von O´Reilly Media und Techweb veranstaltete Web 2.0 Summit war nach Angaben der Organisatoren zwar auch dieses Jahr ausverkauft, atmete aber deutlich weniger hektischen Optimismus. "Bei Web 2.0 ging es von Anfang an nicht um Geschäftsmodelle, die sich durch Werbung finanzieren, oder neue Angebote für Verbraucher", sagte Tim O´Reilly. "Es ging um mobile Anwendungen, wie sich die Welt mit Sensoren überziehen lässt und wie sich Regierung und Stromnetz revolutionieren lassen." Eine kommende Schwächephase sei willkommen, da sich so die Spreu vom Weizen trennen lasse, meinte der IT-Verlagsgründer.

Getreu ihrem Anspruch, mit dem Web 2.0 eine demokratische, soziale und grüne Plattform zu schaffen, hatten O´Reilly und der Technologie-Publizist John Battelle die erste Liga an Unternehmern und Gründern eingeladen, um Fortschritte in den Bereichen Philanthropie, Energie, Gesundheitswesen und Politik zu diskutieren. So berichtete Larry Brilliant von Google.org über seine Gewinn-orientierte Stiftung. Im vergangenen Jahr habe man mehr als 10.000 Ideen gesichtet und rund 100 Millionen Dollar investiert.

Das Konzept der "Misch-Philanthropie", bei der eine Firma je ein Prozent ihrer Aktien, ihres Gewinns und der Zeit ihrer Belegschaft in gemeinnützige Ideen investiert, die gleichzeitig kommerzielles Potenzial besitzen, lässt sich laut Brilliant auf andere Unternehmen übertragen. Gegenwärtig habe Google.org 95 Prozent seiner Investitionen in drei großen Bereichen getätigt: um die Effizienz und Transparenz von Regierungen weltweit zu erhöhen ("inform & empower), um die Entstehung und Ausbreitung neuer Krankheiten frühzeitig zu erkennen ("predict & prevent"), sowie um erneuerbare Energien wie Erdwärme und Solarthermie zu fördern, die CO2-speiende Kohlekraftwerke ersetzen.

Den Spagat zwischen dem Gewinnanspruch seiner Konzernmutter Google und den wohltätigen Ansprüchen seiner Stiftung, Neugründungen zu finanzieren, sieht Brilliant als gesunden Ansporn: "Wir passen auf, dass niemand auf den Gedanken kommt, unsere Gelder dienten dazu, Googles Produkte zu fördern. Aber das heisst nicht, dass Philanthropie nicht gut fürs Unternehmen sein kann. Sie ist auch ein gutes Werkzeug, um Mitarbeiter zu rekrutieren, zu motivieren und zu halten", sagte Brilliant.

Der Mitbegründer der legendären Online-Gemeinschaft The Well bemängelte zugleich, dass die neuen sozialen Netze und selbst Blogs keine wirklich tiefschürfende, intellektuelle Debatte ermöglichten. Die Gesellschaft benötige dringend neue Software und Dienste, die dieses Bedürfnis befriedigten. Etwas anders sahen das der Mitbegründer des interaktiven Kabelsenders current.tv, Joel Hyatt, und Twitter-Gründer Evan Williams.

Zu den Präsidentschaftswahlen arbeiteten beide Medien erstmals zusammen, um Zuschauern die Kommentierung von Debatten und Wahlergebnissen in Echtzeit zu erlauben und so die Lücke zwischen Web und Fernsehen zu schließen. Currents Erfolgsgeheimnis, sagte Hyatt, bestehe darin, das wirtschaftlich bewährte Geschäftsmodell eines Kabelsenders mit innovativer Technik aufzupeppen, anstatt einen neuen Dienst aufzubauen, der nach einer Daseinsberechtigung oder Einnahmequelle sucht.

Auf den Boden der Tatsachen zurück geholt wurden die Konferenz-Teilnehmer von der Morgan-Stanley-Analystin Mary Meeker und dem einflussreichen Risikokapitalgeber John Doerr. Meeker bemühte detaillierte Statistiken der Dotcom-Flaute von 2000 bis 2003, um die Auswirkungen der Krise auf das Online-Geschäft abzuschätzen. Die Ausgaben für IT und Werbung im Netz sind danach eng mit dem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes verbunden. Wenn die Volkswirtschaft insgesamt um ein Prozent schrumpft, sinken Werbeausgaben um sieben Prozent. Der Onlinebereich verzeichnete zwischen 2000 und 2002 sogar einen Rückgang um 27 Prozent, so Meeker. "Die gegenwärtige Trendlinie erinnert an den Jahresanfang 2001." Ein ähnlicher Rückgang lässt sich auch für weltweite Ausgaben für Informationstechnologie ausmachen, allerdings mit einem schnelleren und drastischeren Rückgang als zu Beginn des Jahrzehnts.

Ein Lichtblick für die Erholung der Tech-Szene ist Meeker zufolge der digitale Verbraucher von Morgen. Soziale Netze, Video und Voice-over-IP-Dienste seien nach wie vor noch nicht voll finanziell ausgeschöpft und könnten gute Wachstumschancen bieten. So haben YouTube und Facebook in den vergangenen zwei Jahren Marktanteile gewonnen, während Yahoo und MSN Einbußen erlitten. YouTube ist demnach bereits die zweitbeliebteste Suchmaschine der Welt, und der VoIP-Dienst Skype ist mit 350 Millionen Nutzern die weltweite Nummer zwei im Telekombereich hinter China Mobile.

Als weiteren großen Trend identifizierte die Analystin mobile Geräte und Anwendungen, von Amazons Kindle und Nintendos Wii bis zum iPhone, das einen Wendepunkt bei Smartphones markiere. Im Jahr 2010 erwartet Meeker einen Durchbruch bei 3G-Geräten, die einen weltweiten Marktanteil von 22 Prozent erreichen werden. In Japan liegt die mobile Internetnutzung bereits gleichauf mit dem Netzzugang vom PC. Meeker riet außerdem, bei Mobiltelefonen Schwellen- oder Entwicklungsländern wie China, Indien, Pakistan und Brasilien mehr Augenmerk zu schenken. Pakistans Mobilmarkt wuchs im vergangenen Jahr um 129 Prozent, während China 86 Millionen neue Handy-Kunden vermeldete.

Zum Beweis, was sich mit schnellen Datendiensten umsetzen lässt, erläuterte AT&T-Manager Ralph de la Vega, dass sein Unternehmen mit jedem neuen iPhone-Kunden im Schnitt mehr als 95 Dollar im Monat umsetzt, verglichen mit 58 Dollar für normale Handy-Kunden. Dank 2,4 Millionen verkaufter 3G-iPhones habe AT&T in nur einem Quartal mehr als 800.000 neue Abonnenten gewonnen.

Ein Dutzend Tipps zum Überleben in einer Rezession präsentierte Risikokapital-Legende John Doerr. Seine Firma Kleiner Perkins hat nach Investitionen in Unternehmen wie Amazon oder Google nun ihr Augenmerk auf Cleantech gerichtet, saubere Technologien. Nach wie vor wird verhältnismäßig wenig Wagniskapital in erneuerbare Energien und selbst die gesamte Tech-Szene in Silicon Valley gesteckt, sagte Doerr. So warben Risikokapitalisten im vergangenen Jahr rund 37 Millarden Dollar ein, von denen 3,5 Milliarden in Cleantech und 5,5 Milliarden in Internet-Firmen flossen. Im laufenden Jahr werde sich der Pool an Wagniskapital lediglich auf 15 bis 16 Milliarden belaufen, 2009 auf fünf bis zehn Milliarden, berichtete Doerr: "Gute Ideen werden weiterhin finanziert werden, aber zu weniger attraktiven Bedingungen." Um die Durststrecke zu überstehen, hat Doerr Überlebensratschläge für Start-ups verfasst. Dazu gehört die Entscheidung, IT-Ausgaben hinauszuschieben, alle Verträge neu auszuhandeln, um günstigere Konditionen herauszuholen, und genügend Bargeld für die nächsten anderthalb Jahre vorzuhalten.

Die Tipps könnte Yahoo-Gründer und CEO Jerry Yang gut gebrauchen, der sich einem ausführlichen Interview nach den Zukunftsaussichten des Portals stellte. Der Zeitpunkt hätte kaum ungünstiger sein können: Nach dem Abbruch der Übernahmeverhandlungen mit Microsoft hat nun auch Google eine Anzeigenpartnerschaft gekündigt, um Monopol-Bedenken aus Washington zu entkräften. "Wir waren willens, die Firma zu verkaufen. So weit waren wir nicht auseinander", beteuerte Yang mehrmals – allerdings ohne klar zu machen, woran die Gespräche mit Microsoft letztlich scheiterten. Dessen CEO Steve Ballmer signalisierte zur gleichen Zeit, dass er an einem Deal mit Yahoo nicht mehr interessiert sei.

Googles plötzlichen Ausstieg, ursprünglich als Rettungsanker für Yahoos angeschlagene Position im Werbemarkt angepriesen, wertete Yang als "enttäuschend". Er betonte, dass sein Unternehmen trotz aller negativen Schlagzeilen den Umbauplan wie geplant durchziehe. Seine Vision für Yahoo sei eine Verbrauchermarke als Eingangstor ins Netz – also ein auf Web 2.0-Standards modernisiertes und für andere Webdienste und Programmierer offenes Portal.

In diesen Gewässern operiert Facebook bereits mit erheblichem Erfolg. Dessen Gründer Marc Zuckerberg gab sich wie gewohnt zugeknöpft und verriet nur wenige Details. So habe sein soziales Netz mit 125 Millionen Mitgliedern derzeit keinen Finanzierungsbedarf und stellt weiterhin "aggressiv" neue Mitarbeiter ein, um das Anzeigengeschäft auch international auszubauen.

An Neugründungen herrschte auch dieses Jahr kein Mangel – allerdings bot ihnen die Veranstaltung weniger Gelegenheit zur Selbstdarstellung. In die grüne Nische passte die Webseite Wattzon, auf der jeder Nutzer seinen persönlichen Energieverbrauch in Kilowatt berechnen kann. Was die Seite gegenüber anderen Ökobilanzen abhebt, ist die Möglichkeit, selbst Möbel und andere Gebrauchsgegenstände sowie die Infrastruktur eines Landes in die private Umweltrechnung aufzunehmen – und mit dem Flächenbedarf für erneuerbare Energiequellen zu vergleichen. So rechnete Wattzon-Gründer Saul Griffith vor, dass sein Lebenswandel jährlich 17,2 kW verschlinge, was weder nachhaltig sei noch sich durch den Ausbau grüner Energiequellen auffangen lasse.

Mehr Optimismus verbreitete der ehemalige SAP-Manager Shai Agassi, dessen Start-up Better Place am Aufbau einer landesweiten Infrastruktur für die Herstellung und Betankung von Elektrofahrzeugen arbeitet. So hat Agassi bislang Projekte in Dänemark und Israel geplant, die ab 2011 in Betrieb gehen sollen. Er konnte rechtzeitig zum Web 2.0-Auftritt einen 670 Millionen Dollar schweren Vertrag für den australischen Staat Victoria vermelden.

Zahlreiche europäische Start-ups waren nach San Francisco gekommen, um Finanzierungsmöglichkeiten auszuloten, darunter auch drei Schweizer Firmen. So konnte Dominik Grolimund, dessen Peer-to-Peer Speicherplattform Wua.la (siehe dazu auch TR 12/08) sich bei der Web 2.0 Summit 2007 noch im geschlossenen Alpha-Test befand, diesmal auf rasantes Wachstum und gute Beziehungen zu Content-Besitzern wie Warner Brothers verweisen. Seinen Angaben zufolge nutzen seit dem offiziellen Start im Sommer bereits rund 60.000 Menschen den verteilten Speicher, von denen zwei Prozent zusätzliche Gigabytes kaufen. Er rechnet damit, Wua.las Rechenzentrum demnächst von 100 auf 200 Server aufzustocken. "Von der Krise sind wir nicht betroffen, da wir auf dem Markt sind und Einnahmen generieren. Ich habe in der Region Venture Capitalists besucht, die uns angesprochen haben, und nicht umgekehrt", so Grolimund.

Ebenso auf Partner- und Kundensuche waren die Firma Doodle, die die Terminplanung online erlaubt und bereits mehrere Dutzend Firmenkunden besitzt, sowie das Zürcher Start-up Cassiber, das Unternehmen das Vorschlagswesen und Innovationsmanagement als extern gehostete Weblösung abnimmt. Firmen im deutschsprachigen Raum hätten an den Kerngedanken des Web 2.0 Gefallen gefunden, berichteten Doodle-Manager Reto Lämmler und Cassibers Managing Partner Ricy Wyder übereinstimmend. Es zeige sich ein reges Interesse daran, kollaborative Lösungen für Mitarbeiter einzuführen. (bsc)