Welche Probleme Booster-Impfungen nicht lösen

Die USA haben die dritte Impfdosis für einige Risikogruppen genehmigt, doch die Frage der gerechten Verteilung bleibt nicht nur dort.​

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(Bild: peterschreiber.media/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Lindsay Muscato

Kürzlich ist das US-Auffrischungsimpfungsprogramm gestartet, nachdem die Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention (CDC) die zusätzliche Dosis für große Teile der Bevölkerung befürwortet hat. Die Gesundheitsbehörde empfiehlt, dass Menschen ab 65 Jahren, Erwachsene in Langzeitpflege und Menschen über 50 mit Vorerkrankungen eine dritte Impfung von Pfizer/BioNTech bekommen sollen.

Wer als erste Impfung Johnson & Johnson oder Moderna erhalten hat, muss noch etwas warten. Sogenannte Frontline-Beschäftigte, etwa medizinisches Personal oder Lehrer, sowie Menschen mit einem höheren Infektionsrisiko haben ebenfalls Anrecht auf einen Booster, nachdem CDC-Direktorin Rochelle Walensky ihren Beratungsausschuss für Impfstoffsicherheit diesbezüglich überstimmt hat.

Die Entscheidung über die Auffrischimpfungen ist jedoch umstritten, nicht zuletzt, weil das ursprüngliche Impfschema nach wie vor sehr gut vor schweren Erkrankungen und Krankenhausaufenthalten schützt. Viele Experten plädieren deshalb dafür, die Priorität eher darauf zu legen, mehr ungeimpfte Menschen in den USA zu immunisieren und die übrigen Impfdosen in Länder mit niedrigem Einkommen und großem Bedarf zu schicken, in denen kaum mehr als zwei Prozent der Bevölkerung geimpft sind.

Anfang dieses Monats rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einem Moratorium für Auffrischungsimpfungen auf, bis mindestens zehn Prozent der Bevölkerung jedes Landes geimpft sind. Allerdings ziehen mehrere reiche Länder, darunter das Vereinigte Königreich, Frankreich, Israel und jetzt auch die USA, die Auffrischungsimpfungen trotzdem weiter durch.

Die spannungsgeladene Debatte über den Zugang zu Auffrischungsimpfungen wirft bei Gesundheitsbehörden, Politikern und Bioethikern komplexe ethische Fragen auf. Ist es vertretbar, dass Bürger reicherer Länder eine dritte Dosis erhalten, während ein Großteil der Welt auf die erste Dosis wartet? Und wie entscheiden Behörden wie die CDC, wer sie erhalten sollte?

Deshalb hat MIT Technology Review erneut mit Anita Ho gesprochen, die an der University of British Columbia und der University of California in San Francisco über Bioethik im Gesundheitswesen forscht. Nachdem Ho schon in einem früheren Gespräch über die Einführung von Impfstoffen in den USA und die Ungleichheit gesprochen hat, stand diesmal die Frage im Mittelpunkt, wie sich das Bild der Pandemie seither verändert hat.

Technology Review: Welche ethischen Überlegungen stehen dahinter, nur einem Teil der Amerikaner Auffrischungsimpfungen anzubieten, insbesondere Menschen in Hochrisiko-Berufen?

Anita Ho: In gewisser Hinsicht sind die ethischen Überlegungen ähnlich wie Ende letzten Jahres, als die Impfstoffe erstmals verfügbar wurden. Wenn der Vorrat begrenzt ist und mehr Menschen geimpft werden müssen, möchte man das größtmögliche Wohl fördern, ohne die Gerechtigkeit zu opfern: Also mit denjenigen beginnen, die ohne eine Auffrischimpfung das größte Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben.

Die Weltgesundheitsorganisation hat zu einem Moratorium für Auffrischungsimpfungen bis Ende September aufgerufen. Allerdings haben vollständig geimpfte gesunde Menschen in sogenannten Hochrisikoberufen, in denen die Wahrscheinlichkeit, dem Virus ausgesetzt zu sein, größer ist, nicht unbedingt ein höheres Risiko zu erkranken, selbst wenn sie sich mit dem Virus infizieren. Das ist ja gerade der Sinn einer Impfung, dass man nicht sehr krank wird, selbst wenn man dem Virus ausgesetzt ist.

Aber die Definition von Hochrisikoberuf ist fließend. Inzwischen gibt es eine US-weite Impfpflicht für Beschäftigte des Gesundheitswesens, und immer mehr Schulen verlangen von ihren Mitarbeitern und Schülern, sich impfen zu lassen. Die Ironie des Ganzen: Wenn Sie bereits vollständig geimpft sind, üben Sie einen "risikoreichen" Beruf aus, weil Ihre Kollegen oder andere Personen, die durch Ihre Türen kommen, nicht geimpft sind oder nicht geimpft werden können. Sorgen Sie dafür, dass sie geimpft werden, und Sie haben keinen Risikoberuf mehr!

Für die CDC ist es also knifflig. Das ACIP (Anmerkung der Redaktion: Advisory Committee on Immunization Practices, auf Deutsch: Beratender Ausschuss für Impfpraktiken) war der Meinung, dass gesunde Menschen keine Auffrischungsimpfung brauchen, um sich zu schützen – unabhängig davon, wo sie arbeiten. Der Schutz durch die Impfstoffe vor schweren Erkrankungen und Krankenhausaufenthalten ist in allen Altersgruppen unverändert hoch. Und obwohl eine Auffrischungsdosis die Antikörperspiegel weiter erhöhen könnte, ist nicht klar, ob dies zum Schutz vor schweren COVID-19-Erkrankungen erforderlich ist und ob dadurch die Virusübertragung verringert würde.

Wir wissen, dass einige Menschen noch keinen Zugang zu einer Erstimpfung hatten. Ist es sinnvoll, Auffrischungsimpfungen anzubieten, wenn wir noch nicht einmal alle Menschen, die sich impfen lassen wollen, in den USA geimpft haben?

Die Auffrischungsimpfungen werden nicht viel bringen, wenn es immer noch große Gebiete mit ungeimpften Menschen gibt. Auf sie sollten wir uns dringend konzentrieren. Es braucht Ressourcen, um die Impfstoffe zu denjenigen zu bringen, die sich nicht von der Arbeit freinehmen können oder die in ländlichen oder ressourcenarmen Gegenden leben, wo sie keinen Zugang zu den Nachrichten oder zu zuverlässigen wissenschaftlichen Informationen haben. Schon jetzt mangelt es an Krankenschwestern und -pflegern, Apothekern und kommunalen Gesundheitshelfern. Hätten wir die Ressourcen, um Auffrischungsimpfungen zu planen und trotzdem die Ungeimpften zu erreichen?

Wie hat sich das ethische Bild seit unserem letzten Gespräch im Januar verändert, zum Beispiel durch die Zusage der Biden-Regierung, eine weitere halbe Milliarde Impfstoffe zu spenden?

Es ist entmutigend, dass wir mehr als 18 Monate nach Beginn der Pandemie immer noch nicht das erreicht haben, was ich als zwischenmenschliche Solidarität bezeichne: dass die Weltgemeinschaft zusammenarbeitet, um das Gemeinwohl zu fördern und sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wird. Spenden sind besser als nichts, aber die ärmeren Länder sind der Gnade der reichen Länder ausgeliefert. Viele dieser 500 Millionen Dosen von Pfizer werden erst im nächsten Jahr eintreffen. Wenn es für Amerikaner, die einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung haben, dringend notwendig ist, sich so schnell wie möglich impfen zu lassen oder sogar die Auffrischungsdosis zu erhalten, wie kann dann "später im nächsten Jahr" als akzeptabel gelten? Das bedeutet, dass viele Menschen in ärmeren Ländern ihre erste Impfung erst mehr als 18 Monate nach der Ausgabe der ersten Dosen in den USA erhalten werden.

Die Ungleichheit, die wir erzeugen und zulassen, ist einfach entsetzlich. Außerdem muss der Impfstoff von Pfizer besonders gekühlt werden, so dass die ärmsten Länder, die nicht über die entsprechenden Lagerungs- und Handhabungskapazitäten verfügen, möglicherweise immer noch nicht davon profitieren können. Um die Probleme in der Lieferkette zu lösen, müssen wir Kapazitäten aufbauen und Produktionsstätten für verschiedene Impfstoffe über den ganzen Globus verteilt haben. Pharmaunternehmen sollten zu diesem Zweck mit Arzneimittelherstellern im Globalen Süden zusammenarbeiten. Dies kann auch dazu beitragen, dass die Impfungen schneller an lokale Varianten angepasst werden können.

Ein großer Teil Ihrer Forschung konzentriert sich auf das öffentliche Vertrauen. Was sollten die Behörden jetzt unbedingt beachten?

Die Pandemie ist in den USA leider zu einem Politikum geworden. Widersprüchliche Botschaften von verschiedenen Behörden haben die Situation noch verschlimmert. Ich denke, die wichtigste Erkenntnis ist, dass die Behörden im Kampf gegen die Pandemie an einem Strang ziehen, einheitliche Botschaften verbreiten, ihre Argumente transparent machen und mit kommunalen Partnern zusammenarbeiten müssen, denen die Menschen vor Ort vertrauen, um die Gesundheitsbotschaften zu verbreiten.

Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens wie Schutzmasken oder Impfungen können die Ausbreitung des Virus eindämmen, bedeuten aber auch Unannehmlichkeiten und finanzielle Härten für die Menschen, insbesondere für benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Um Vertrauen zu schaffen, damit die Menschen die Ziele des öffentlichen Gesundheitswesens mittragen und nicht aufgeben, müssen die Behörden zeigen, dass sie uns kompetent durch diese Pandemie führen, dass sie den Schmerz der Menschen verstehen und dass sie alle Härten, die die verschiedenen Maßnahmen mit sich bringen, so gering wie möglich halten wollen.

(vsz)