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Wenn der Desktop Anschluss findet

Steffan Heuer

Große Unternehmen setzen zunehmend auf kollaborative Online-Dienste für viele tausend Mitarbeiter. Die Module sind hausgemachte Anwendungen oder stammen von Start-ups.

General Electric bedient 400.000 Mitarbeiter und 30.000 Partner in aller Welt mit einer Kollaborationsplattform, die Tag für Tag mehr als 25 Millionen Hits verzeichnet. Sun Microsystems baut eine Art YouTube für Unternehmen auf, bei dem Angestellte Videos aufzeichnen und ins Netz stellen. Online-Plattformen wie Google Apps und Zoho verzeichnen massiven Zulauf von Firmenkunden, die mehr denn je Kosten sparen wollen und dabei reiner Desktop-Software in Scharen den Rücken kehren.

Das sind einige der Anhaltspunkte für den langsamen aber unaufhaltsamen Vormarsch von Web 2.0-Technologien, während gleichzeitig unternehmerische Skepsis und Zurückhaltung bröckeln. Rund 500 Web 2.0-Anbieter, Programmierer, Blogger, Analysten sowie Vertreter großer Firmen und Behörden trafen sich vergangene Woche in San Francisco, um auf der dritten "Office 2.0"-Konferenz [1] über Trends bei der neuen Online-Kollaboration zu debattieren.

Für den Organisator der Veranstaltung, den französischen Unternehmer Ismael Ghalimi, sind die großen Namen Beweis genug, dass die als "Enterprise 2.0" bezeichnete Welle aus sozialen Medien und Software als Service endlich in die Büros rollt: "Vergangenes Jahr waren es noch vor allem kleine und mittelständische Firmen, aber 2008 sind die großen Unternehmen an Bord gekommen." So standen neben GE und Sun diesmal die amerikanische Wachovia Bank (mit einem Umsatz von 55,5 Milliarden Dollar (2007) das viertgrößte Geldhaus des Landes) und die US-Armee (mit ihrem riesigen Ordervolumen in der Privatwirtschaft) auf dem Programm, um über ihre Web 2.0-Installationen für hochsensible Bereiche wie Finanzdienstleistungen und Militär zu berichten.

General Electric betreibt die mit Abstand größte Plattform, die sich seit langem aller Elemente des Mitmach-Webs bedient, ohne damit groß anzugeben. GE hat seine Web-Infrastruktur über bald zehn Jahre hinweg entwickelt und aktualisiert sie im Abstand von zwei Wochen. Der Leiter von "Support Central", Sukh Grewal, wollte allerdings mit den offenen sozialen Netzen im Web nichts zu tun haben. "Die Leute wollen Arbeit und Privatleben voneinander getrennt halten. Das haben sie uns immer wieder klar und deutlich gesagt." Eine Facebook-Gruppe für GE sei deswegen für ihn nicht ernst zu nehmen. "Wenn sie 300 Mitglieder hat, sage ich nur: Jeden Tag haben wahrscheinlich 300 Leute bei GE Durchfall. Na und?"

Als weltumspannendes Industrie-Konglomerat hat der Konzern seine Web 2.0-Plattform darauf ausgelegt, Mitarbeiter an 6.000 Standorten und Partner wie Zulieferer einzubinden. Das erreicht das Unternehmen durch Werkzeuge für den Einzelnen, sich frei formende Interessengemeinschaften, den Austausch von Fragen und Antworten unter Experten als dynamische Datenbank, sowie durch die rasche Digitalisierung von Geschäftsabläufen.

Grewals Zahlen waren durch die Bank beeindruckend und traten bei den Konferenzteilnehmern ganze Twitter [2]-Kanonaden los. Alleine die an MySpace und Facebook erinnernden Profilseiten der Mitarbeiter werden 100.000 Mal am Tag abgerufen, da Kollegen herausfinden wollen, wer mit wem zusammen arbeitet, wer welche Fragen gestellt hat oder neue Dokumente hochgeladen hat. Rund 50.000 Gemeinschaften um Abteilungen oder Sachthemen haben sich herausgebildet, berichtete Grewal. Wenn sich in einer Community nichts tut, wird sie allerdings automatisch wieder dicht gemacht. Dieses Schicksal ereilt ein Drittel aller Web-Gemeinschaften bei GE.

Wissen teilt GEs Belegschaft mittels aller gängigen Mechanismen, von Wikis und Blogs über private und öffentliche Ordner mit unbegrenztem Speicherplatz bis zu Frage-und-Antwort-Foren, in denen sich spontan Experten herausbilden. Alle Funktionen sind bei GE als hundertprozentige Point & Click-Prozesse angelegt, so dass Nutzer Mash-Ups im Selbstbedienungsverfahren anlegen können. Das Entwicklerteam an drei Standorten in den USA, Indien und Mexiko kann so im Jahr rund 1.500 Verbesserungen live schalten und sammelt Tag für Tag fünf bis zehn Ideen ein, die im Idealfall wenige Wochen später online zu finden sind.

Neben der Skalierbarkeit zählt für GE der Kostenfaktor. Das Unternehmen unterhält für Support Central seine eigene Cloud-Computing-Infrastruktur, die geringere Betriebskosten als Mietangebote wie Amazon Web Services aufweist. Seine Anwendungen müssen auf 2.000 verschiedene Datenbanken im gesamten Konzern zugreifen und zudem hinter der Firmen-Firewall sicher abgeschirmt bleiben. "Wir benutzen keine externen Anwendungen, sie stürzen bei unseren Ansprüchen nur ab", so der GE-Manager.

Die Frage nach konkreten Einsparungen dank Web 2.0-Anwendungen stellt sich für GE nicht mehr. So spart die Firma alleine durch die frei durchsuchbaren Frage-und-Antwort-Dateien im Schnitt 3,3 Stunden pro Problem. Seitdem jede Abteilung oder sogar jeder Mitarbeiter eigene Umfragen als Mash-Up-Formulare basteln kann, werden mehr als 100 am Tag hochgeladen. Alleine dieser Schritt spart der Firma im Jahr vier Millionen Dollar. Arbeitsprozesse wie Bestellungen für Millionen Dollar teure Medizintechnik beruhten auf Papierstapeln und Kurierdiensten, bis sie auf XML umgestellt wurde. Sie dauern heute 20 Tage statt drei Monate.

Die Umstellung wurde nicht von oben verfügt, sondern ist organisch seit 2000 gewachsen, berichtete Grewal. "Die Leute entdeckten Support Central von alleine und sind davon überzeugt, dass es eine bessere Art und Weise ist zu arbeiten, und sie haben uns im Gegenzug neue Dinge beigebracht."

Eine wichtige Lektion bestand darin, dass Unternehmensteile, die GE abstoßen will, jetzt mit ihrer eigenen Version der Kollaborationsplattform in die Unabhängigkeit entlassen werden. Käufer fragen explizit nach der Web 2.0-Infrastruktur, sagte der GE-Manager. Andere Unternehmen können Support Central als schlüsselfertige Lösung fürs eigene Haus von der indischen Tata Consulting Services erwerben.

Auf einen ähnlichen Effekt setzt Sun Microsystems. Die Firma war vor Jahren bei Unternehmensblogs vom CEO bis zum Ingenieur ganz vorne dabei. Heute baut sie eine Lernplattform namens "Sun Learning Exchange" [3] auf, die Elemente eines sozialen Netzwerks mit Videoplattformen wie YouTube verbindet. Seit kurzem kann jeder Mitarbeiter eigene Videos direkt am Rechner aufnehmen und sofort hochladen, da Sun mit dem Video-Start-up Veodia zusammenarbeitet. Die Firma aus San Mateo hat sich auf Live- und On-Demand-Video für Unternehmenskunden spezialisiert und war bislang allein auf weiter Flur – bis Google vergangene Woche eine spezielle Version seines YouTube-Dienstes als Bestandteil seines "Google Apps"-Pakets für Unternehmen einführte.

Nach zwei Monaten Testlauf und ohne große Werbung im eigenen Haus laden Sun-Mitarbeiter aus 82 Ländern Tag für Tag bereits 200 Videos hoch. Wie bei YouTube kann der Eigentümer eines Clips ihn für das gesamte Web oder nur für Betrachter im Firmennetzwerk sichtbar machen. "Das ist ein neuer Ansatz, je nach eigenem Bedarf zu lernen und Ideen mit anderen zu teilen", sagt der Leiter der Initiative, Charles Beckham. Das Veodia-Plugin erlaubt es Sun, Videos je nach Anfrage auch für tragbare Geräte wie das iPhone umzuformatieren und per iTunes als Abonnements auszusenden.

So hat Beckhams Team Vertrieblern und Technikern, die ständig unterwegs sind, neue Smartphones gegeben, damit sie etwa Videos zum Austausch und Einbau komplexer Platinen von unterwegs abrufen können. "Es ist eine kulturelle Umstellung, die vom Alter der Mitarbeiter abhängt. Aber das ist die Zukunft, und als nächstes wird Livestreaming von Videos hinzukommen", sagt der Sun-Manager. Vertriebsmitarbeiter hätten bereits damit begonnen, direkt nach einem Verkaufsgespräch Videos hochzuladen, in denen sie Kollegen erklären, wie sie einen Deal gewonnen oder verloren haben.

Neben der beständig ausgebauten Wissensbasis, zu der auch Dokumente und andere Dateien gehören, verfolgt Sun damit weiter reichende Pläne. Die Videos werden in die regelmäßigen Bewertungen aller Mitarbeiter einfließen. Beckham und Systemarchitekt Jan Mangold nennen dieses Konzept das "Gemeinschaftskapital". Dabei wird ein Manager im Hause Sun bei seiner Leistungsanalyse künftig Dinge berücksichtigen wie die Zahl hochgeladener Videos, die Zuschauerzahl, deren Kommentare und wie viele andere Mitarbeiter oder Geschäftpartner auf einen Film oder ein Dokument verweisen.

Auch auf der reinen Software-Seite wagen sich Großunternehmen inzwischen auf das Online-Feld vor und geben im Gegenzug Desktop-Anwendungen wie Microsoft-Produkte mit teuren Lizenzgebühren auf. Der Elektronik-Hersteller Flextronics stellt seine gesamte Belegschaft von 200.000 Mitarbeitern von SAP und Oracle auf die Online-Lösung der Neugründung Workday um. Und nach Merill Lynch setzt auch die Citibank als zweiter großer Finanzdienstleister mit seinen 30.000 Kundenberatern auf die Web-Plattform von salesforce.com.

Die vom indischen Unternehmer Sridhar Vembu gegründete Firma Zoho besitzt seit kurzem mehr als eine Million registrierte Nutzer, die insgesamt 18 Programm-Module nutzen, von der guten alten Textverarbeitung bis zur Kundenverwaltung. "Firmen steigen schrittweise auf Software als Service um. In fünf Jahren ist die Unterscheidung Online und Offline hinfällig", meinte Vembu gegenüber Technology Review.

GE geht auch hier als Trendsetter voran und hat begonnen, seine ersten Abteilungen von Microsoft auf die Zoho-Suite umzustellen. Die größte professionelle Zoho-Installation befindet sich gegenwärtig in Japan, so Vembu. Dort hat ein Unternehmen bislang 15.000 seiner 100.000 Angestellten auf Programme per Cloud Computing umgestellt.

In ein ähnliches Horn stieß Google auf der Veranstaltung. Der für Unternehmens-Anwendungen verantwortliche Matt Glotzbach berichtete, dass Google Apps, die Suite aus Programmen und Diensten, inzwischen mehr als eine halbe Million Firmenkunden unter seinen zehn Millionen aktiven Nutzern zählt. Jeden Tag kämen neue Unternehmen als zahlende Kunden hinzu. Die Frage sei nicht mehr, ob und wann Web 2.0 ins Unternehmen einziehe, sagte der Google-Manager. Der Prozess sei bereits in vollem Gange. (bsc [4])


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[2] https://www.heise.de/news/Twitter-will-stabiler-werden-197036.html
[3] https://slx.sun.com
[4] mailto:bsc@heise.de