Wie Open-Source-Arzneimittelforschung die nächste Pandemie bekämpfen soll
Mit einem Aufruf, Mittel gegen das Coronavirus zu entwickeln, begann 2020 der "COVID Moonshot". Wo steht das Open-Science-Projekt heute?
- Cassandra Willyard
Als die Corona-Pandemie ausbrach, gab es kaum antivirale Mittel. Zwar hatten die Pharmaunternehmen Medikamente zur Bekämpfung der Grippe und einer Handvoll chronischer Infektionen entwickelt. Aber sie hatten lange keinen großen Anreiz, Medikamente gegen andere Viren auf den Weg zu bringen, die das Potenzial hatten, eine Pandemie auszulösen. Denn: Die Entwicklung von Therapien gegen Krankheiten, die keine unmittelbare Bedrohung darstellen, ist nicht lukrativ.
Aber was würde passieren, wenn wir das Thema Gewinn aus dieser Gleichung herausnehmen und die Arzneimittelentwicklung zu einem gemeinschaftlichen Prozess machen? Weg mit dem Wettbewerb. Das war die Idee hinter dem "COVID Moonshot", einer Open-Science-Initiative zur Entwicklung antiviraler Mittel gegen das Coronavirus, die im März 2020 mit einem Twitter-Aufruf zur Entwicklung von COVID-Medikamenten begann. "Calling all medicinal chemists!", schrieb Nir London, Ingenieur am Weizmann Institute of Science, der selbst in der Arzneimittelforschung arbeitet.
Letzte Woche haben die Forscher, die hinter dem Projekt stehen, erste Ergebnisse im Journal "Science" veröffentlicht. Das Projekt, an dem mehr als 200 freiwillige Forscher aus 25 Ländern beteiligt waren, fand 18.000 Wirkstoffideen, die zur Synthese von 2.400 potenziellen Medikamenten führten. Einer der Gewinner daraus bildete die Grundlage für den heutigen Hauptkandidaten des Projekts: eine Verbindung, die auf das wichtigste virale Enzym des Coronavirus abzielt. Das als Mpro bekannte Enzym zerschneidet lange virale Proteine in kurze Stücke, ein wichtiger Schritt bei der viralen Replikation. Der Wirkstoff hindert dieses Enzym an seiner Arbeit. Paxlovid, ein Virostatikum, das von Pfizer nach Ausbruch der Pandemie entwickelt wurde, setzt hier ähnlich an.
Möglicherweise fühlen sich die ersten Erkenntnisse des Open-Source-Projekts nicht wie ein großer "Win" an. Hinzu kommt: Selbst wenn der Wirkstoff funktioniert, wird es wahrscheinlich noch viele Jahre dauern, ihn zu einem fertigen Therapeutikum weiterzuentwickeln. "Wenn man das aber mit den meisten anderen Medikamentenentwicklungen vergleicht, ist es trotzdem bemerkenswert schnell gegangen", sagt Charles Mowbray, Leiter der Forschungsabteilung der gemeinnützigen "Drugs for Neglected Diseases Initiative" (DNDI) gegen seltene Krankheiten, einem zentralen Moonshot-Teilnehmer.
Viren ohne Behandlung
Obwohl die Entwicklung eines neuen Medikaments jetzt, in den letzten Tagen der Pandemie, nicht mehr so dringend erscheint wie früher, sei der Bedarf an einem weiteren Virostatikum sehr aktuell. Denn der nächste Ausbruch oder die nächste Virusvariante kommt bestimmt. Das US National Institute of Allergy and Infectious Diseases hat zehn Virusfamilien identifiziert, die das Potenzial für eine Pandemie haben. Einige dieser Familien enthalten Viren, von denen viele Menschen schon gehört haben – Ebola, West-Nile, Masern, Hepatitis A. Andere Viren sind kaum bekannt. Dazu zählen etwa La Crosse, Oropouche oder Cache Valley – allesamt sogenannte Peribunyaviren.
Es gibt zwar antivirale Medikamente gegen Pocken und jetzt auch gegen das Coronavirus, doch für viele dieser Familien haben wir überhaupt keine Therapien, egal ob als Pille, Antikörperbehandlung oder sonst irgendetwas. Das könnte ein Problem sein, das die Open-Source-Medikamentenentwicklung lösen könnte.
Es gibt noch einen weiteren potenziellen Vorteil des Open-Source-Modells in der Pharmaindustrie: Es bietet einen weltweiten Zugang. Die meisten aktuellen COVID-19-Therapien stehen unter Patentschutz und sind für weite Teile der Welt unerschwinglich. Selbst in den USA sind die Medikamente sehr teuer. Bei der Einführung von Paxlovid im Jahr 2021 kauften die USA mehr als 20 Millionen Behandlungseinheiten für jeweils 529 Dollar und stellten sie der Bevölkerung kostenlos zur Verfügung. Laut Pfizer wird sich der Preis jedoch mehr als verdoppeln, nämlich auf 1390 Dollar pro Dosis, wenn das Unternehmen das Medikament ab 2024 auf dem kommerziellen Markt verkauft.
Da im Rahmen des COVID-Moonshot-Projekts Medikamente entwickelt werden, die nicht unter Patentschutz stehen, werden sie direkt zu Generika verarbeitet. "Das Medikament kann von mehr als einem Hersteller produziert werden, es kann an alle verteilt werden, die es brauchen, wenn es gebraucht wird", sagt Mowbray von der DNDI. Langsame und nicht selten problematische Lizenzverhandlungen mit kommerziellen Unternehmen fallen weg.
Die Pharmaindustrie allein reicht nicht
Wie geht es weiter? Die DNDI wird die Führung bei der Entwicklung des Hauptkandidaten mit der Bezeichnung DNDI-6501 übernehmen und ihn durch die präklinische Entwicklung begleiten. Und auch das COVID-Moonshot-Team wird seine Arbeit fortsetzen. Vergangenes Jahr gewährten die US National Institutes of Health dem Konsortium fast 69 Millionen Dollar an Fördermitteln, um die Entwicklung oraler antiviraler Mittel fortzusetzen. So werden Medikamente nicht nur gegen das Coronavirus, sondern auch gegen West-Nile-, Zika-, Dengue- und Enteroviren entwickelt werden.
Allerdings: Noch nie ist ein Medikament durch einen vollständig quelloffenen Prozess auf den Markt gekommen. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Modell bei der Entwicklung von Arzneimitteln nicht von Nutzen sein kann. Das Pharmaunternehmen Shionogi nutzte Daten aus dem COVID-Moonshot-Projekt, um sein antivirales Therapeutikum Enzitrelvir zu entwickeln, das in Japan bereits für den Notfalleinsatz zugelassen ist.
"Im Gegensatz zu dem, was oft angenommen wird, ist Offenheit kein Hindernis", sagt Matthew Todd, Chemiker am University College London und Gründer von Open Source Pharma. Funktionierende Wirkstoffe lassen sich dadurch entweder direkt oder durch die Pharmaindustrie umsetzen.
Mowbray wünscht sich mehr Gemeinsamkeit in der Arzneimittelforschung. Wir wissen nämlich nicht, welches Virus die nächste Pandemie auslösen wird. Wird es eine Variante von etwas sein, das wir schon einmal gesehen haben, oder ein völlig neues Virus? Die Vorstellung, dass ein einziges Unternehmen genügend antivirale Medikamente herstellen kann, um solche Risiken abzudecken, scheint unrealistisch, meint er. "Wenn wir bereit sind, Erkenntnisse untereinander auszutauschen, haben wir wahrscheinlich eine viel größere Chance, die richtigen Arzneimittelkandidaten zur Verfügung zu haben."
Frühwarnsysteme und Überwachung an Flughäfen
Die Vorbereitung auf die nächste Pandemie erfordert mehr als nur eine Überarbeitung der Arzneimittelentwicklung. Wir müssen auch unsere Frühwarnsysteme verbessern. Im Jahr 2021 starteten die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in den USA ein Überwachungsprojekt an einer Handvoll großer Flughäfen, um neu auftretende SARS-CoV-2-Varianten zu erkennen.
Nun plant die Behörde, dieses Programm auf 30 neue Erreger, darunter Influenza und RSV, auszuweiten. Vorerst werden die zusätzlichen Tests nur an vier Flughäfen durchgeführt: San Francisco International, New York JFK, Logan in Boston und Dulles in Washington.
Und so soll die Umsetzung erfolgen: Internationale Reisende, die einen Flughafen anfliegen, an dem das Überwachungsprogramm durchgeführt wird, können freiwillig Nasenabstrichproben abgeben. Diese Proben werden für PCR-Tests in ein Labor geschickt. Positive Proben werden einer Sequenzierung des gesamten Genoms unterzogen. Im Rahmen des Programms werden auch Abwasserproben aus einzelnen Flugzeugen entnommen – zudem aus dem Abwassersystem, durch das alle Flugzeugabwässer geleitet werden.
"Eine Probe aus einem Flugzeug, das von einem weit entfernten Abflugort kommt, kann uns Informationen über 200 bis 300 Personen liefern, die sich in diesem Flugzeug befunden haben", sagte Cindy Friedman, die das CDC-Programm leitet, gegenüber dem US-Sender CNN. Bis Oktober kam es bereits bei mehr als 370.000 Reisende aus mehr als 135 Ländern zum Einsatz. 14.000 Proben wurden sequenziert.
(jle)